aus le Bohémien:
Von Sebastian Müller
Es ist schon ein bemerkenswerter Vorfall in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Spitzenpolitiker hat Israel als ein Apartheidsregime bezeichnet. Man bedenke: Im gleichen Land, also jenem, dass sich eines beispiellosen Verbrechens an den europäischen Juden schuldig gemacht hat, ist seitdem die (bedingungslose) Solidarität mit Israel Staatsräson, die auch vor der Freiheit des Wortes nicht halt macht.
Freilich wird die Solidarität in Wort und Tat von Lobbygruppen mit institutionellem Charakter überwacht. Zu nennen wäre hier vor allem der Zentralrat der Juden, eine inoffizielle Außenstelle Israels in Deutschland, die nicht weniger als die Richtlinien und Regeln der Nahost-Debatte festlegt. Und wenn der ZdJ in Deutschland das Bannwort „Antisemitismus“ gebraucht, ist es um Karriere und Integrität der betreffonen Person meist geschehen.
Doch zurück zum oben genannten Casus Belli. Die umstrittene Äußerung war eine Reaktion von keinem Geringeren als dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel auf die Eindrücke seines Besuches in Hebron. Die dortige Situation, wo die Besatzung Israels – nicht zuletzt aufgrund der Gegenwart jüdischer Siedler – besonders deutlich spürbar ist, muss für Gabriel derart bedrückend gewesen sein, dass er sich zu einem solch politisch brisanten Manöver hinreissen ließ. Noch vor einigen Jahren hätte solch eine Bemerkung zu einem politischen Supergau geführt. 2002 wurde der FDP-Politiker Jürgen Möllemann mit Antisemitismus-Vorwürfen und letztendlich einem Parteiausschlussverfahren konfrontiert, weil er Israel des „Staatsterrorimus“ bezichtigte und scharfe Kritik an Ariel Scharon äußerte. Möllemann war politisch diskreditiert. Und wie bei Möllemann rollt auch jetzt eine Welle der Entrüstung auf Gabriel zu.
Wörtlich sagte Gabriel vorige Woche auf seiner Facebook-Seite: „Ich war gerade in Hebron. Das ist für Palästinenser ein rechtsfreier Raum. Das ist ein Apartheid-Regime, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt.“
Wir sind Zeugen eines Tabubruchs. Die zentrale Frage ist nur, ob dieser Tabubruch nach Jahrzehnten des schwelenden Nahostkonflikts nicht längst angebracht war. So banal diese Aussage für einen unbefangenen Beobachter in Hebron auch sein dürfte, muss man diese Feststellung noch einmal für den deutschsprachigen Raum betonen: Nüchtern betrachtet ist der Vergleich Israels mit einem Apartheidsregime, etwa mit dem Südafrikas vor Nelson Mandela, gar nicht einmal so falsch – und hat ganz sicher nichts mit Antisemitismus zu tun.
Solange die Palästinenser keinen eigenen, souveränen und völkerrechtlich anerkannten Staat besitzen, sondern mit der Willkür der israelischen Besatzung leben müssen, befinden sie sich tatsächlich in einem rechtsfreien Raum. Da eine Zwei-Staaten-Lösung in weiter Ferne liegt, und de facto große Teile palästinensischen Gebietes unter der Kontrolle Israels mit all ihren ausgrenzenden Bedingungen stehen, lässt sich eben dieser status quo als Apartheid definieren.
Entsprechend schildert dies – als einer von Wenigen – Werner Pirker in der Jungen Welt: „Und wer dort nicht auf Schritt und Tritt ein Apartheid-Regime wahrnimmt, muß blind und taub sein. Hier lebt eine kleine jüdische Minderheit in absoluter Feindschaft mit der arabischen Mehrheit. Auf Hügeln über arabischen Siedlungen wohnend, übt sie im Zusammenwirken mit der Armee ihre Vorherrschaft aus. Kaum ein Haus, auf dem nicht die Parole »Tod den Arabern!« zu lesen wäre. Viele Straßen dürfen nur von Juden befahren werden, was zur Folge hat, daß Palästinenser ihre Autos oft mehrere Kilometer von ihren Wohnorten entfernt abstellen müssen.“
Dass ein solch völkerrechtlich und humanitär völlig inakzeptabler Zustand, – der so auch in anderen besetzten Zonen des Westjordanlandes herrscht -, mit der entsprechenden Begrifflichkeit kritisiert werden darf, sollte eigentlich auf der Hand liegen. Insofern ist nicht der sogenannte „Fauxpas“ Gabriels der eigentliche Skandal, sondern die Versuche, Gabriel mundtot zu machen. Gabriels Äußerungen zu skandalisieren, bedeutet im Umkehrschluss nichts anderes, als einen Verstoß gegen diverse UN-Resolutionen und nicht zuletzt einen Straftatbestand zu legitimieren.
Daran ändert auch die wütende Reaktion des Vizepräsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Maram Stern, wenig bis gar nichts. Stern bezeichnete Gabriels Aussage im Focus als eine „unfaire Verleumdung Israels“: „Die Spuren der rund 300 Raketen, die palästinensische Extremisten in den vergangenen Tagen auf Israel abgefeuert haben, sind noch nicht verraucht, da schlägt mit Sigmar Gabriel eine diplomatische Granate ein, die der Kategorie „friendly fire“ zugeordnet werden muss (…).“
Der Verweis auf die – sicher anzuprangernde – Gewalt der Hamas ist jedoch in diesem Fall ein Ablenkungsmanöver, das weder als Rechtfertigung der israelischen Siedlungs- und Landraubpolitik, noch der alltäglichen menschenunwürdigen Behandlung der palästinensischen Zivilbevölkerung dienen kann. Allerdings zeigt Sterns Verwendung des Wortes „friendly fire“ einmal mehr, dass es hier keineswegs um eine offene Debatte im Nahostkonflikt geht, sondern lediglich um die Aufrechterhaltung der Gesinnungsdisziplin innerhalb der proisraelischen Phalanx. Insofern ist die Empörung Sterns nicht mehr als Heuchelei.
Fakt ist, dass – und darauf verwies Stern ironischer Weise selbst – das Phänomen der Apartheid als Straftatbestand und Verbrechen gegen die Menschlichket ins internationale Recht aufgenommen wurde. Stern postuliert natürlich, dass diese Bezeichnung in Bezug auf Israel unangebracht sei und beruft sich dabei auf den aus Südafrika stammenden Völkerrechtsjuristen und ehemaligen UN-Sondergesandten Richard Goldstone. Dieser bezeichnete jüngst die Verwendung des Begriffs Apartheid in Bezug auf Israel als unfaire Verleumdung mit dem Ziel, die Friedensgespräche zu verhindern.
Doch Stern als auch der proisraelische Jude Goldstone vergessen bei ihrer Absolution Israels, dass das systematische Verhindern von Friedensgesprächen, die mehr als eine Farce sein sollen, Teil der Regierungspolitik Netanjahus und Liebermann ist. Ein Frieden im Heiligen Land würde die systematische israelische Siedlungs- und Expansionspolitik torpedieren. Genauso hat die Missachtung unzähliger UN-Resolutionen – in diesem Kontext insbesondere die Resolutionen 452, 468, 469, 605, 607, 608, 636 und 641 – seitens Israel System. Zehn weitere Sanktionen, darunter die erste Verurteilung des Siedlungsbaues seit 1979, wurden seitdem durch ein Veto der USA verhindert.
Insofern verdeutlicht die „Argumentation“ Sterns lediglich die im politischen Mainstream anerkannten Gesinnungsrichtlinien, die zwischen einer politisch korrekten Apartheidspolitik (Israel) – als „Sicherheitspolitik“ umgedeutet – und einer zu verurteilenden Apartheid (Südafrika) unterscheidet, obwohl es sich tatsächlich in beiden Ländern um die gleichen Merkmale der Entrechtlichung einer Mehrheit durch eine an der Macht sitzende Minderheit handelt.
Gabriel hätte also Chuzpe bewiesen, wenn er zu seiner Äußerung weiter gestanden hätte, anstatt – wie in den letzten Tagen geschehen – zurück zu rudern um vermeintliche Schadensbegrenzung zu betreiben. So will sich der Gescholtene – man ahnt es bereits – mit dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, treffen, um „entstandene Mißverständnisse auszuräumen“.