Sonntag, 22.3.2015. Eifel. Wieder einmal ein Tag, um jene Themengebiete zu streifen, die im politischen Alltag normalerweise untergehen – ihn aber enorm beeinflussen. Ja – es geht um Affirmationen, dem lateinischen Wort für positive Versicherung, Beteuerung in Bezug auf Aussagesätze, aber nicht im Rahmen der Aussagelogik oder der Sprachenwissenschaft, sondern im Rahmen der Lebensphilosophie des 21. Jahrhunderts.
Ich bin zufällig auf dieses Thema gekommen – ganz unbeabsichtigt. Ich hatte mal über mein Leben geschrieben und ihm den Titel gegeben, ich sei „arm, alt, krank und einsam“. Dies hatte mir eine enorme Schelte eingebracht, nach dem Motto, was ich denn für seltsame, abartige Affirmationen hätte. Nun – ich hatte gar keine Affirmationen, ich wollte mich nur einer nüchterenen Zustandsbeschreibung stellen, wie sie in den Augen dieser Welt gegeben ist. Da bin ich nun mal arm – und ich brauche nicht nach Bill Gates zu schielen, um die Aussage aufrecht erhalten zu können, schon ein einfacher Blick nach einem Bundestagsabgeordneten zeigt mir, wie erbärmlich weit abgeschlagen ich im Bezugsranking der Republik stehe.
Alt? Das wurde mir klar, als mir eine österreichische Facebook-Gruppe vorgeschlagen wurde, in der sich „Senioren“ über fünfzig sammelten. Scheinbar gibt es auch Senioren unter fünfzig (da wollen wir jetzt nicht auch noch drauf eingehen), ich jedoch lag mit 55 auf jeden Fall im Seniorenabteil … und fühlte mich spontan fürchterlich alt. Mein Begriff von Senior war bis dato ein anderer.
Krank? Nun – ich beziehe eine Rente. Winzig klein, reicht kaum zum Leben, ist aber ein eindeutiger Beleg dafür, dass mit meiner Gesundheit etwas nicht stimmt: viele missgünstige Augen haben da drüber geschaut und mussten feststellen: nee, den kann keine Firma mehr verwerten. Den müssen wir mit durchfüttertn.
Einsam? Nun – ich wohnte in einem abgelegenem Haus in einem abgelegenen Tal, fernab jeglichen kulturellen Treibens, bin kaum in Vereinen – und außerdem allein erziehend. Gut – man kann jetzt darüber diskutieren, wie einsam man mit Kindern wirklich ist … aber im Vergleich zu den Zeiten, als ich noch gut verdiente, ein großes Haus mein Eigen nannte und viele Menschen beköstigen konnte, ist es schon deutlich stiller geworden … zudem habe ich durch frühen Tod nahezu alle meiner ehemaligen Freunde aus Jugendzeiten verloren …. was nebenbei auch dafür spricht, dass mir das Adjektiv „alt“ langsam zusteht.
Es waren also keine Falschaussagen, die ich traf, trotzdem riefen sie Empörung und Entrüstung hervor – und harsche, andauernde Kritik.
Ich war etwas verunsichtert ob dieses Gegenwindes, zumal … ich als armer, alter, kranker, einsamer Mensch ein recht glückliches, zufriedenes, erfüllendes Leben lebe, eines, von dem ich immer geträumt habe, ein Leben, dass nun durch einen neuen Wohnort mit Seeblick und Fernsichtpanorama am Arbeitsplatz noch ein wenig verbessert werden konnte. Wenn denn das Affirmationen waren (was nicht beabsichtigt gewesen wäre): zählt denn das Ergebnis nicht?
Was ist das für eine seltsame Welt, die den Erfolg beiseite schiebt und eine besondere Methode vorschreiben möchte, mit denen man die vorgeschriebenen Ziele zu erreichen hat?
Ich grübelte noch ein wenig weiter – weil nur das Grübeln, der Zustand des Grübelns mir diese erhellenden „Eureka“-Momente verschafft, die ich so mag, ja, zum Genuss des Lebens und Denkens brauche. Mir fielen die Psalmen ein, jene biblischen Gesänge, die dem Weisen Salomo zugeschrieben wurden. Psalmen – eine Gruppe von Liedern, die von verschiedenen Priestern in Jerusalem gesammelt wurden – haben zumeist eins im Sinn: Klagen über den schlechten Zustand des Einzelnen, der arm, alt, krank und einsam ist. Sicher: sie sind eine weitschweifige Literaturgattung (wie man die singen soll, erschließt sich uns heute nicht mehr), aber das häufigste Thema (50 Psalmen) ist das Leid des Einzelnen – und das scheint auch Sinn zu machen, immerhin erhofft er sich ja durch seine Gesang, seinen Ruf nach Gerechtigkeit, einen gewissen Ausgleich im Diesseits, eine kleine Korrektur des bislang unglücklich verlaufenden Lebenspfades. Wie will man die erreichen, wenn man den ganzen Tag nur Prahlgesänge abläßt? Ja – auch Prahlgesänge (Prahllieder) kannte das Alte Testament: Gesänge, wo sich einzelne ob ihrer unermesslichen Fähigkeiten, ihres überragenden Potentials und ihres überschießenden Reichtums ausließen.
Ich stand also in der Traditionen der Psalmen – doch was war falsch daran?
Ich fand die Zeitschrift „Focus“, die mir Antworten lieferte: „Grübeln Sie noch oder affirmieren Sie schon“ – das schien genau mein Thema zu sein (siehe Focus):
„Affirmationen sind bewusst formulierte positive Gedanken, die uns bei der Erreichung unsere Wünsche und Ziele helfen sollen. Sie basieren auf der Annahme, dass unsere Gedanken nicht nur das, was wir fühlen und tun, sondern auch Körpervorgänge, biologische und chemische Prozesse steuern.“
Bewusst formulierte positive Gedanken? Prahlgesänge also? Nun – aus der Immunologie ist bekannt, dass die persönliche Befindlichkeit das Immunsystem beeinflussen kann, eine Zeit lang wurde vermutet, dass man so vielleicht sogar Krebs aus der Welt schaffen kann – dank massiven Einsatzes von Beitragsgeldern aus der Pharmaindustrie werden solche Überlegungen im Rahmen der Psychoonkologie in Deutschland nicht mehr verfolgt: an Krebs verdient man exzellent.
Der Focus klärte dankenswerterweise auch auf, was nun solche Affirmationen sein können:
„Das Leben liebt mich.
Ich bin einfach wunderbar, na das ist doch sonnenklar.
Ich gehe von Vergnügen zu Vergnügen.
Nur Gutes erwartet mich.
Ich behalte immer gute Laune und lass die Dinge wie sie sind.“
Also doch: Prahlgesänge. Oder?
Was ist eigentlich genau „das Leben“? In Form von Bakterien bzw. Raubtieren äußert sich diese Liebe auf recht eigentümlich Art und Weise, denke ich dann noch an Krankheit und Alter, wird es noch schwieriger, diese überschießende Liebe mit dem einfachen Verstand in Beziehung zu bringen.
Gehören Sturmfluten, Vulkanausbrüche und Wirbelstürme auch zu diesem „Leben“?
„Ich bin einfach wunderbar“ … ein Prahlgesang, wohl wahr – galt früher nicht mal „Eigenlob stinkt“? Und … wäre es nicht viel schöner und aufbauender, dies aus dem Munde anderer Menschen zu hören anstatt nur aus seinem eigenen?
Und diese Vergnügensgeschichte … wird bei einigen Berufsfeldern schwer durchzu halten: Krankenpfleger, Bestatter, Kanalarbeiter vorne weg … und eigentlich alle anderen arbeitenden Menschen hinterher, immerhin singen die jeden Montag Morgen ein anderes Lied.
„Nur Gutes erwartet mich“ … verweigern unsere Kinder mit diesem Argument Schulbesuch und Ausbildung, werden schnell andere Affirmationen geschrieben, denke ich mir. Aber Lottoscheine kann man mit dem Slogan gut verkaufen.
„Ich behalte immer gute Laune und lass die Dinge wie sie sind“ – so wünscht sich der Feudalismus seine Bürger, so dressiert arbeiten die 16 Stunden am Tag, sieben Tag die Woche für die prallen Bäuche ihrer Herren.
Ja – und um Dressur geht es hier. Auch darüber klärt ein großes, deutsches Nachrichtenmagazin auf. 10000 Mal sollte man die Affirmation schon aufsagen, zehn mal täglich mindestens, dann stellt sich der Erfolg ein. Dann liebt einen das Leben, man ist sonnenklar wunderbar, geht von Vergnügen zu Vergnügen, kann nur Gutes erwarten, behält immer gute Laune und läßt die Dinge, wie sie sind – vor allem die ökonomischen und politischen Verhältnisse.
Wer den Artikel geschrieben hat?
Nicht irgendwer, sondern Dr. Ilona Bürgel:
„Die Referentin Dr. Ilona Bürgel ist Psychologin und Autorin. Sie hat sich auf den Wirtschaftsfaktor Wohlbefinden spezialisiert und zeigt, wie der Spagat zwischen Lust auf Leistung und Erhalt der eigenen Ressourcen in der Arbeitswelt von heute gelingt. Sie studierte Psychologie an der Universität Leipzig und promovierte zum Autobiographischen Gedächtnis. Dr. Ilona Bürgel arbeitete 15 Jahre im Management der freien Wirtschaft.“
Und sie ist Vorbildunternehmerin des Bundesministerium für Energie und Wirtschaft. Ebenso Autorin des Buches: „Jetzt denke ich wirklich nur an mich“.
Menschen wie Sie findet man oft in der „Szene“. Jahrelang dem Moloch Geld gedient und dann aus dem System heraus eine Dienstleistung gefunden, die dem System so sehr dient und nützt, dass sie von den Herren des Geldes oft gekauft wird, um die Mitarbeiter zu drillen.
An was für einer Gesellschaft baut man dann mit solchen Affirmationen?
Politisch gesehen: an einer Duckmäusergesellschaft von asozialen Egomanen. Schauen wir uns um, dann merken wir vielleicht schon jetzt, dass die Tausenden von Trainern, die Tag für Tag von Unternehmen bezahlt werden, einen gewissen Einfluss auf die politische Gestaltungskraft der Bürger hatten.
„Affirmationen statt Demonstrationen“ …. so der Wahlspruch. Niemand scheint Bedenken daran zu haben, dass diese Philosophie gerade aus der Ecke des sterbenden Kapitalismus kommt, der sich keinerlei kritische Gedanken mehr erlauben kann und eine Programmierung zum zwanghaften Wohlfühlen braucht, um noch von den Menschen eine Weile weiter getragen werden zu können. Könnte aber erklären, warum die Agenten dieser Philosophie nahezu unbeschränkt von Konzernen mit Geldmitteln ausgestattet werden … wenn sie innerhalb der Konzerne zuvor bewiesen haben, dass sie zu jeder Zeit linientreu sind.
Wir wollen aber nicht zu politisch werden – heute ist ja Sonntag. Bleiben wir beim Nutzen für den Einzelnen.
Fangen wir morgens früh an – und bleiben auf dem Boden der Realität.
Der Tag beginnt im Bett – für mich um 6 Uhr. „Das Leben liebt mich“, kann ich mir sagen, während ich den klagenden Misstönen des Weckers lausche, die absichtlich so gestaltet sind, um mich aus dem Schlaf zu reißen. Ich sage mir, dass ich sonnenklar wunderbar bin – dem Wecker ist das egal, er klingelt weiter. Ich wiederum rede mir ein, dass ich von Vergnügen zu Vergnügen gehe … während der Wecker ein anderes Lied singt. Ich vergewaltige meine Ohren und mein musisches Empfinden und rede mir weiter ein, dass mich nur Gutes erwartet: diesen Akt der Realitätsbeugung muss ich angesichts des metallischen Kreischens neben meinem Bett erfolgreich vollziehen, um die Affirmation durchhalten zu können. Letztlich behalte ich meine gute Laune und lasse die Dinge so, wie sie sind, ja, denke mal nur an mich – und bleibe liegen, so, wie es mir am Besten gefallen würde.
Die Folgen?
Die Kinder kommen zu spät zur Schule (bzw. gar nicht), ich fehle am Arbeitsplatz, mangels morgendlichem Stuhlgang habe ich im Laufe des Tages zunehmend ernsthafte gesundheitliche Probleme. Nach einer Woche findet man mich dann – voller positiver Affirmationen – tot im Bett. Verdurstet, verhungert, aber voller guter Laune, weil ich die Dinge so gelassen habe, wie sie sind.
Probieren Sie das mal ruhig aus … und schreiben akribisch auf, was sie alles sonst noch TUN, um die vernichtenden Folgen der geistlosen Affirmationen zu neutralisieren. Ja – sie setzen automatisch – ohne große Gedanken – Taten an Stelle von Gedanken ein, um negative Folgen schon im Ansatz zu ersticken.
Bleiben wir beim morgendlichen Toilettengang – da helfen mir die Affirmationen sehr: „ich gehe von Vergnügen zu Vergnügen, nur Gutes erwartet mich“: so erheitern mich die Sprüche neoliberaler Motivationspsychologie schon bei den ersten Taten des Tages, geht es dann um Staub putzen, Wäsche waschen, Staub saugen (sehr schmerzhaft bei meiner Grunderkrankung), spülen, kochen, Biomüll entsorgen und die Hausaufgaben pubertierender Menschen zu kontrollieren, merke ich, dass Affirmationen einen gewissen Galgenhumor in sich tragen, den man aber nur merkt, wenn man in die Gänge kommt … also: zur Tat schreitet, die Dinge eben nicht so lässt, wie sie sind, sondern folgerichtig und notwendig verändert – und zwar selbst dann, wenn mit dem Prozess der Veränderung das eine oder andere Ungemach, die eine oder andere Unannehmlichkeit verbunden ist oder im schlimmsten Fall sogar Arbeit droht …. oder die Revolution.
Wie oft bleibe ich eigentlich im Alltag mit den Affirmationen auf der Strecke … wenn ich den „Anderen“ begegne, jenen Wesen, die nach Sartre die einzig wahre Hölle darstellen?
Was für ein Selbstbild bleibt eigentlich nach jahrelangem Selbstbetruges (also: kritiklosem herunterbeten selbst geschaffener oder übernommener Glaubensätze) übrig, wenn man … krank wird? „Alt werden ist nichts für Feiglinge“ – so die Ärztin meiner Mutter, die mit bald 81 Jahren über beständig größere körperliche Mängel klagt: man sieht – die Krankheit kommt automatisch. Was ist wenn die Umwelt (die von Menschen, die lieber nur an sich denken, selten wahr genommen wird), beschließt, dass man an Krebs erkrankt, gutes Opfer für einen Autounfall ist, mit seinem Land gerade prima in den Krieg mit dem Nachbarn ziehen kann, tödliche Medikamente oder überflüssige Operationen verordnet bekommt oder es Zeit ist für groß angelegten Wassermangel … oder Massenentlassungen?
Prahlgesänge – das wusste schon das alte Testament – haben leider keinen Einfluss auf die Realität. Der jedoch muss ich mich stellen.
Prahle ich: „ich bin reich, gesund, jung und der Mittelpunkt der menschlichen Gesellschaft“ so ist dies wohl nur für sehr wenige eine Beschreibung der Realität … und bietet dem Universum, dem Unterbewusstsein, den Geistern und Göttern keinerlei Handlungsanreiz: gilt, das Gedanken Realität formen, dann ist die ja mit dem Aussprechen der Affirmationen schon eingetreten – was gibt es da noch für einen Handlungsbedarf?
Gestehe ich jedoch, dass ich arm, alt, krank und einsam bin, so haben Unterbewusstsein und Götterwelt einen klaren Handlungsauftrag … und auch ich selbst werde aufgerufen, mal was anderes zu tun als mir dauernd die Welt schön zu reden.
Wissen Sie übrigens, was mit der Methode der „Affirmation“, die gerne von Sektenführern eingesetzt wird, um ihren Ausschließlichkeitsanspruch durchzusetzen, alles „bewiesen“ werden kann? Unter anderem … dass die Erde eine Scheibe ist, die Sterne nur Löcher im Firmament und der Mond aus grünem Käse? Versuchen Sie es mal selbst: sagen sie 10 000 Mal das die Erde eine Scheibe ist … und achten Sie auf ihre emotionalen Reaktionen im Laufe der Jahre, wenn Ihnen jemand die Erde als Kugel verkaufen will.
Ich denke: einen Großteil menschlichen Elends haben wir gerade solchen Realitätsverdrängern und Wirklichkeitsleugnern zu verdanken, die dafür sorgen, dass Menschen noch heftiger auf die Betonplatte des Alltages aufschlagen, wo es in der Tat Menschen, Firmen und Behörden gibt, die ihnen absichtlich Schaden zufügen wollen … und dabei nicht mit Affirmationen arbeiten.
Deshalb bleibe ich lieber bei meiner „Affirmation“: ich bin arm, alt, krank und einsam.
Die hat mich innerhalb von nur vier Monaten zu neuen Freunden, neuen Wohlfühllebensraum, anderer Bewertung meines „Seniorentums“, Bargeld und einer überraschend positiven Erfahrung bezüglich meiner Restleistungsfähigkeit geführt.
Doch dazu bedurfte es der Tat, glücklichen Fügungen, der Hilfe von Menschen und der Bereitschaft zu größtmöglichem Arbeitseinsatz. Habe ich aber die Hilfe von Menschen, die Bereitschaft zur Arbeit und zur Tag … wozu brauche ich dann noch „Affirmationen“?
In der Zeit genieße ich lieber die schöne Aussicht.
Montag, 14.10.2013. Eifel. Montag ist der häßlichste Tag der Woche, oder? Niemand mag Montag – jedenfalls, solange der Chef nicht in der Nähe ist. Kommt der herein, flötet man natürlich durchs Büro, wie unglaublich glücklich man ist, dass das häßliche Wochenende endlich vorbei ist – da habe ich doch Recht, oder? Eins meiner eindrucksvollsten Erlebnisse als schreibender Mensch war das Echo auf einen Artikel mit dem provokanten Titel „Arbeit ist Scheiße“ – da kamen in der Tat Arbeitslose und klagten darüber, dass dieser Artikel zu einer verstärkten Verfolgung von Arbeitslosen führen würde: die Wahrheit ist in Deutschland verboten – auch wenn jeder sie kennt und abends an der Theke leise und verstohlen ausspricht. Der Spiegel traut sich das aktuell mal:
Hinterm Firmentor wohnt das Elend. Mitarbeiter ächzen unter Arbeitslasten. Sie schuften, bis der Arzt kommt, und der Arzt kommt oft: Die Burnout-Kliniken quellen über, sie sind zu den Seelen-Kläranlagen einer zum Himmel stinkenden Arbeitswelt geworden. Zwischen 2005 und 2011 haben sich die Krankheitstage wegen Burnout verelffacht, auf 2,7 Millionen. Jede dritte Frühverrentung hat psychische Gründe. Im Schnitt sind diese „Rentner“ 48 Jahre alt.
Da bürden die Firmen dem Sozialstaat enorme Lasten auf, gebärden sich wie parasitäre Schmarotzer – und niemand beschwert sich? Wir hatten doch gelernt, dass parasitäre Schmarotzer schlimm, pfui und böse sind – das Bundesarbeitsministerium hatte extra eine Broschüre dafür entwickelt, damit das auch jeder begreift. Wer so unverantwortlich mit Mitarbeitern umgeht und serienmäßig Frührentner produziert, belastet die Sozialkassen doppelt und dreifach – doch da schweigt die Bildzeitung?
Der ideale Mitarbeiter hat kein Leben mehr, nur noch ein Berufsleben. Wenn das Firmen-Handy klingelt, ist der Sex vorbei, der Urlaub gestorben. Zwölf-Stunden-Tage laufen unter „Einsatzfreude“. Jede E-Mail schreit nach sofortiger Antwort, auch nachts. Wer nicht schnell genug protestiert, wird von seinem Chef als Facebook-Freund zwangsadoptiert und bis ins private Fotoalbum verfolgt.
Das erinnert mich an meine eigene frühere Berufstätigkeit, die einen solch´ nachhaltigen Eindruck auf mich hatte, dass sie mich heute noch – viele Jahre später – in nahezu jedem Traum verfolgt. Bringt man gute Leistung, hält man sogar so lange durch, bis der Rücken bricht. Glücklich die, die jede Herausforderung gescheut und sich gezielt vor jeder Arbeit gedrückt haben, die lieber anderen die Lösung von Problemen überließen und Arbeitslosigkeit als Kururlaub genossen: die sind heute gesund, während ich nicht weiß, wie ich über den Tag kommen soll.
Darum hasse ich auch Handys und Laptops. Bin einer der letzten lebenden Zeugen, wie dieses Giftzeug in den Arbeitsalltag eingedrungen ist und fortan jeden Feierabend unmöglich machte. Da hilft es auch nichts, wenn man viel Geld verdient – ohne Leben hat der Mammon keinen Wert. Das ganze Arbeitsleben wurde einfach mal sprachlich umdefiniert – ein genialer Trick:
Doch wer der süßen Melodie hinters Firmentor folgt, stolpert in eine Arbeitshölle, wie sie die Welt seit dem Frühkapitalismus nicht mehr gesehen hat. Die Firmen flöten, „du bist selbst für deinen Erfolg verantwortlich“, gemeint ist: „Der Misserfolg kostet dich den Kopf!“ Die Firmen flöten, „du kannst deine Arbeit frei einteilen“, gemeint ist: „Mach bloß nicht Feierabend, bevor alles fertig ist.“ Die Firmen flöten, „du kannst alles bei uns erreichen“, gemeint ist: „Wenn du auf der Strecke bleibst, liegt es nur an dir!“
ARBEIT IST FREUDE – so die neue Version von ARBEIT MACHT FREI. Wer diese überwältigende Freude nicht empfindet, ja, wer gar Anzeichen von Schwäche zeigt, kriegt ganz schnell den Begriff „Minderleister“, sein Alltag wird von Privatdetektiven begleitet (ja, dafür ist Geld da) die für einen kleinen Aufpreis einen Spesenbetrug bescheinigen, von dem der Minderleister selbst dann ganz überrascht ist … da hilft jedoch kein Gericht mehr, „das Verhältnis ist zerrüttet“ – und ein Exempel statuiert.
„ARBEIT IST FREUDE“ ist nun nicht vom Himmel gefallen – nur: in einer Zeit, in der Medien und Regierung Denkverbote aussprechen („Verschwörungstheorien!!!“) darf darüber nicht mehr offen geredet werden – außer hier. Ich tue es mal trotzdem, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass dieses System krank macht – und ich war dabei, als es krank wurde.
Die große Invasion begann Anfang der neunziger Jahre. Eine ganz neue Branche hatte sich konstatiert: die Unternehmensberater. Der Autor dieser Zeilen hatte selbst eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bei ihnen. Ich hatte zwar von Wirtschaft keine Ahnung, aber ein „sehr gut“ auf dem Universitätszeugnis: das reicht. Drei Jahre wollte man mich international ausbilden – jeweils eins davon in Japan und den USA – und dann hätte ich richtig dick abräumen sollen als „international erfahrender Profi“. Ich konnte nur gerade nicht, hatte zwei süße kleine Kinder – außerdem hatte ich das Prinzip schnell erkannt: man wollte mich als Kasperle aufbauen, als Spitze der Leistungselite.
Niemals hätte ich in den drei Jahren genug Erfahrungen gesammelt, die ein Wirtschaftsstudium und zehn Jahre betriebliche Praxis ersetzen konnten, um Unternehmen einen echten Gewinn bieten zu können – doch darum ging es ja auch gar nicht.
Es ging um etwas, dass alle Kriterien einer Verschwörungstheorie erfüllte, aber direkt neben dem eigenen Arbeitsplatz ablief – mit Folgen, die der oben zitierte Martin Wehrle eindrucksvoll beschreit. Es ging um den Umbau der ganzen deutschen Gesellschaft, zentral gesteuert von einer kleinen Gruppe von „Entscheidern“, angekündigt auf Geschäftsleiterfortbildungen, durchgeführt von einer ganzen Armee fleißiger Unternehmensberater.
Was der Arbeitnehmer davon mitbekam? Nun – auf einmal gab es „Lean Management“ (man sparte in der Führungsebene) und „Share Holder Value“ – Marktanteile, Firmenergebnisse und gesellschaftlicher Mehrwert des Unternehmens waren egal, nur noch die Rendite der Anteilseigner zählte. Die Qualität der Arbeit, die Qualität der Ware, umweltschonende Produktion und Vertrieb, Mitarbeiterrechte – alles egal. Es war entschieden worden, die ganze Gesellschaft umzubauen – und dafür waren diese „Unternehmensberater“ unterwegs.
Man sollte nun meinen, dass die deutsche Gesellschaft auf diesen Umstand aufmerksam geworden wäre – doch was liest man derzeit im Spiegel?
KarriereSPIEGEL: Sie haben dann bei einer bekannten Unternehmensberatung gearbeitet. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass in der Branche Berater mit einem Praktikum bei Bertelsmann schon als Medienexperten verkauft werden. Wie viel Bluff gehört zum Beraterdasein?
Herles: Jede Menge. Das ist aber so gewollt. Man verkauft die Perspektive des Außenstehenden, will aber gleichzeitig Industrieexperte sein. Schwierig in einer Branche, in der die meisten Menschen unter 35 sind. Woher sollen die Industrieerfahrung haben? Aber die Geblufften lassen sich zu gerne bluffen. Denn durch die Berater können sie ihre eigenen Hände in Unschuld waschen.
Alles nur ein großer Bluff. Alle wissen es. Alle leiden darunter – besonders die, die Aufgrund der eifrigen Wühlarbeit von Unternehmensberatern arbeitslos geworden sind. Ja – das musste nebenbei noch installiert werden, damit der ganz große Coup gegen die Lebensqualität in Deutschland gelang: man brauchte eine repressive Sozialpolitik, der Staat musste mit aller staatlichen Gewalt ins Arbeitsleben eingreifen, man brauchte am Ende der Nahrungskette einen Reißwolf. Wir kennen ihn als „Hartz IV“ – so etwas als Unternehmensberater in der Politik zu installieren ist kein Problem, wenn man nur genug Politiker findet, die 30 000 -Euro-Anzüge geil finden.
Der geheime Trick des Erfolges ist allen bekannt: am Ende der Beratung sollten schon ein paar Köpfe rollen. Das treibt den Aktienkurs nach oben (immer!), das bringt einen sofortigen Anstieg des „Share Holder Value“ und macht den übrig gebliebenen Mitarbeitern klar, wo der Hammer hängt. Gehaltserhöhungen, Betriebsrat, gesundheitsschonende Arbeitszeit: ein Luxus, den sich keiner mehr leisten kann – und keiner mehr zu fordern traut. Dafür macht man gerne die Arbeit von drei Kollegen mit, bereit, den nächsten Coup der Branche zu ertragen: den Verzicht auf Schlaf.
KarriereSPIEGEL: Wie viele Nächte können Sie durcharbeiten?
Herles: Sogenannte Allnighter sind in der Branche tatsächlich durchaus üblich. Ich persönlich habe nie wirklich durchgearbeitet, aber oft nur sehr kurz geschlafen.
Völlig verrückt? Leider nein. Habe selbst erleben dürfen, wie sich „Führungskräfte“ der Pharmaindustrie mit Personalverantwortung damit brüsteten, dass sie kaum Schlaf brauchten – und sich gegenseitig unterboten, bis sie nahe Null waren. Da erfolgreiche „Manager“ keinen Schlaf brauchen, hatten wir schnell die 120- Stunden-Woche: weil ARBEIT FREUDE MACHT, hat sich auf keiner getraut, zu meckern. Das der Verein eine enorm hohe Unfallrate im Straßenverkehr hatte und regelmäßig 5-er BMW´s zerlegte, war nie ein Thema: das geschieht eben, wenn die Elite unterwegs ist … wo gehobelt wird, da fallen Späne, auf die man dann noch stolz ist.
Eine Elite von Idioten, die aber dafür außerordentlich gut bezahlt werden – dafür, neue Werte vorzuleben und in die Gesellschaft zu tragen.
Was man schnell vergisst: das Geld für diese Idioten fällt nicht als Geschenk vom Himmel, das wird von „Entscheidern“ angewiesen, die sich gut überlegen, warum sie was wohin schicken. Es ist nicht der liebe Gott, der „Entscheider“ oder die „Leistungselite“ reich macht, sondern eine Hand voll Leute, die Preise festsetzen – auch die Preise für „Manager“. Es war eine politische Entscheidung auf höchster wirtschaftlicher Ebene, die die Gehälter für die Lumpenelite in perverse Höhen getrieben haben und auch ihre Handlanger mit enormen materiellen Vorzügen ausstatteten, so dass wirklich jeder normale Arbeiter sehen konnte: hier kommen die neuen Könige.
Das war bewusst so installiert worden – und bezahlt von jenen Gewinnen, die dem Steuerzahler durch überhöhte Preise, Steuerhinterziehung, Betrug oder dem Vertrieb minderwertiger Ware aus der Tasche gezogen wurden.
Ganz Deutschland wurde zu einem Arbeitslager, in dem die Demokratie einen leisen Tod starb – aber wehe man erzählte davon.
Man braucht auch gar nicht davon zu erzählen. Stellen Sie sich einfach mal heute morgen an eine Ampel und schauen sie sich die Gesichter der Leute an, bevor sie ihr Pokerface für den Controller aufsetzen: dort sieht man ehrlicher, wie viel Freude Arbeit macht.
Sie kennen die Wahrheit, auch wenn es verpönt ist, darüber zu sprechen. Hören wir noch einmal Martin Wehrle dazu:
Frei ist sie tatsächlich, die moderne Arbeitswelt, aber nur frei von Berechenbarkeit: Wer jahrzehntelang beste Arbeit leistet, kann über Nacht für die Rendite rausgekegelt werden; frei von Gerechtigkeit ist sie: Die Reallöhne der Mitarbeiter sind zwischen 2000 und 2012 um 1,8 Prozent gesunken, während die Unternehmensgewinne durch die Decke schießen; und frei ist sie von einer Abgrenzung zum Privatleben: Der Feierabend ist kein Schlusspfiff mehr, nur noch Auftakt zur Verlängerung.
Gesunde Menschen gehen rein in die Firmen, und kranke kommen raus. Die Fließbänder der schönen neuen Arbeitswelt produzieren Volksleiden wie Bluthochdruck, ADHS und Burnout.
Und wer zahlt die Zeche dafür?
Die Leute, die sich heute morgen aus dem Bett gequält haben, um ab 9 überglücklich im Büro zu sitzen, voller Freude darüber, einen weiteren Tag 0hne Hartz IV erleben zu dürfen.
Wissen Sie, wie man das System beschreiben könnte?
„Vernichtung durch Arbeit“. Ein Prinzip, dass der deutschen Elite schon früher großen Spaß bereitet hat.