Ultradekadenz

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Oktoberfest 4.0 – Überleben im Zeitalter der Ultradekadenz


Foto: pw/nachrichtenspiegel.de

Wie wir lernten, die Lüge zu lieben

„In times of information, ignorance is a choice“. Seit ich an der Pinnwand des virtuellen Widerstands  diesem Satz begegnet bin, sehe ich einiges gelassener als zuvor. Ohne dass dies etwas mit Resignation zu tun hätte, erspare ich mir nun doch einige vergebliche Liebesmühe, wie sie so manche zweifellos gut meinende Zeitgenossin aufwendet, um diejenigen wachzurütteln, die “Lieber dazugehören, als aufgeklärt sein” wollen, so auch der Titel eines Essays von Anette Sorg auf Nachdenkseiten, in welchem dafür plädiert wird, „in die Mokassins“ derjenigen zu schlüpfen, die „lieber nicht aufgeklärt werden möchten, weil sie sich dann neu sortieren müssten“.

Stoßen wir diejenigen, die dem herrschenden Wind folgen und geduckt im Herdentrieb verharren wollen, also nicht unnötig mit „alternativen Fakten“ vor den Kopf. Es ist ja weitgehend überflüssig geworden, dass man noch erschütternde Fakten und Links aus dem Fressnapf des globalen Newsfeeds zusammenträgt, um diejenigen Mitbürger aufzurütteln, die scheinbar zu oft den Reden einer Kanzlerin gelauscht haben, die mit jedem ihrer Worte nur „Betäubungszonen ausbreitet“ (©Roger Willemsen) und sich nun in einer Art Wachkomazustand befinden.

Um zu realisieren, wo es überall brennt bzw. wo wir systematisch verraten, verkauft und vergiftet werden, braucht man nicht einmal mehr auf Whistleblower oder alternative Medien zurückzugreifen.  Man weiß ja schon gar nicht mehr, wo man auf der brennenden Titanic, auf der manche Bundestagsabgeordnete immer noch Gut und Gerne leben, noch die Feuerstellen löschen soll. Durch den täglich über uns hereinprasselnden Napalm-Regen an Infotainment und brachialer Unterhaltung sind viele jedoch derart abgebrüht geworden, dass es sie nicht mehr vom Hocker reißt, wenn sogar Siemens-Chef Joe Kaeser ganz offen über die demnächst „über uns hereinbrechende Hölle“ spricht, in der neun von zehn Menschen untergehen werden.

Wenn selbst die Warnungen solcher Hohepriester unserer technikgläubigen Zeit nicht gehört werden, dann braucht man sich auch nicht zu wundern, dass die Warnungen anderer besorgter Köpfe weitgehend ungehört verklingen, wie z.B. dass das Bulletin of  the Atomic Scientists die „Doomsday Clock“ mittlerweile auf zwei Minuten vor Mitternacht vorstellen musste oder der offene Brief führender CIA/NSA-Überwachungsarchitekten, dass „wir gerade schlüsselfertige Tyranneien errichten“ (mit der Infrastruktur 5G als Thron und Gott KI als Regent).

Obwohl ihm und seinen Kindern gerade das Fell über die Ohren gezogen wird, wird der tagesschauguckende Spiegelbildbürger heute von einer fast unentrinnbaren Medien- und Meinungs-Maschinerie in der Illusion gewogen, dass er sich eben auf einem ganzjährigen Oktoberfest befindet. Die rasanten Loopings und Talfahren, bei denen es ihn fast (und manche tatsächlich) aus der Kurve schmeißt und er zuvor aufgesogenes Bier und Weißwürste wieder erbrechen muss, er danach einen gewaltigen Drehschwindel hat und nicht mehr weiß wo oben und unten, vorne und hinten, geschweige denn wo links und rechts ist … nu, mein lieber Gutbürger: das ist eben nur die Hochschau- und Geisterbahn am Dauer-Rummelplatz, auf dem Du voll Spaß haben darfst und Gut und Gerne lebst!

Viele haben die Lüge inzwischen lieb gewonnen. Sie gehört zum Lifestyle dazu wie der SUV vorm Garten, in dem der Mähroboter jedes aufkeimende Pflänzchen des Gewissens umgehend verhäckselt und in den Fangkorb wirft. Und die vom Rummelplatz schwindeligen Gutbürger, die keine Katze besitzen, kuscheln auf ihrer Couch abends eben mit dieser Lüge, kraueln sie, füttern sie, lassen sich necken und beißen … obwohl der im Katzenklo befindliche Katzenstreu vom Durchfall dieser transatlantisch-neoliberal-marktkonform- nihilistisch-digitalen Tamagochi-Katze bereits voll gesättigt ist und zum Himmel stinkt.


Nachsatz:

Angesichts des überbordenden Wahnsinns und der „Ultradekadenz“, die heute auf allen Ebenen unübersehbar sind, könnte man natürlich leicht in Resignation verfallen und meinen, dass ohnehin schon Hopfen und Malz verloren seien. Das ist jedoch ebenfalls eine Lüge und gehört mithin zur Schockstrategie (Naomi Klein), mit welcher der Mensch dem Diktat des totalen Marktes unterworfen werden soll. In Wahrheit haben wir es heute mit einer ausgesprochen paradoxen Zeit zu tun: Während es in der bisherigen Kulturgeschichte Phasen der Hochblüte und Phasen der Dekadenz gab, welche der damals noch nicht individualisierte Mensch mit dem Kollektiv zwangsläufig mitmachen musste, so leben wir heute in eine Zeit, in der jeder von uns so weit individualisiert ist (oder zumindest das Potential dazu hat), dass er aus eigenem Willen frei wählen kann: Ob er den totalen Niedergang mitmacht. Oder ob er sich ungeachtet des ihn umgebenden Infernos aufschwingt.

Heute leben wir in einer Zeit, in der zwei verschiedene Entwicklungen gleichzeitig zur Kulmination kommen und man muss aufpassen, dass man die zweitere dieser Entwicklungen bzw. Möglichkeiten nicht verpasst, da die erstere dieser Entwicklungen so viel Rauch, Lärm und Gestank macht, dass man die zweite glatt übersehen könnte. Beide Entwicklungen existieren heute parallel zueinander: Auf der einen Seite erreicht die Gesellschaft einen Zustand von fast unfassbarer Dekadenz und Verdummung (es würde jetzt zu weit führen, auszuführen, warum gerade diejenigen, deren Intellekt im Hitech-Brutkasten unseres Bildungssystems besonders zugespitzt wurde, besonders anfällig sind, in den Sog dieser Dekadenz zu geraten und möchte dazu vorerst nur auf Dostojewskijs Traum von der szientistischen Pest verweisen).

Auf der anderen Seite – von unseren Medien weitgehend unbeachtet und daher nicht am Schirm der allgemeinen Wahrnehmung – gibt es aber auch eine gar nicht so geringe Zahl an Personen, die erstaunlichste menschliche Qualitäten entwickelt haben, die sich in einem jeweils gewählten Gebiet unglaubliches Verständnis erarbeitet haben und tiefgründige Individuen geworden sind. Sie können diese Qualitäten bei allem, was sie diesbezüglich tun, gestalten oder sagen, auch authentisch ausdrücken. Mit dem Potential, das sie entwickelt haben – wir könnten selbst die angeblich alternativlosesten ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme in erstaunlich kurzer Zeit zum Besseren wenden und wieder Freude auf Zukunft haben. Die etablierten Machtstrukturen samt ihrer alternativlosen „Wissenschafts“-Büttel – müssten dann allerdings abdanken. Und das wollen die natürlich nicht, zu sehr mundet ihnen das große Fressen beim „Gastmahl der Geistlosen“ (Milosz Matuschek), das gerade stattfindet und bei dem sich diejenigen, deren Gaumen vor lauter Überdruss kaum noch etwas mundet, dann eben menschliche Köpfe auf ihre Teller servieren lassen (siehe

Moca Gala).

Lassen wir die neoliberalen Kannibalen aber wieder beiseite, wir wollten ja über die Hidden Champions sprechen, um mir auch mal so ein bescheuertes Bullshit-Bingo-Wort aus der Marketingkiste zu klauen, aber es gibt für die Individualisten, die ich meine, eben noch keine passende Bezeichnung. Ihr Handicap ist das bereits erwähnte: Die Medien unseres neoliberalen, dem reinen Nihilismus verpflichteten Systems (nur der Nihilismus gewährt die vollendete Ausschlachtung der noch verbliebenen Umwelt- und Humanressourcen und es werden daher heute nicht nur über unser Bildungs- und „Wissenschafts“- System gewaltige Anstrengungen unternommen, um dem Menschen jedwede Fähigkeit, sich seinen Geist zunutze zu machen und Umstände zu gestalten anstatt nur zu konsumieren und zu erdulden, endgültig auszutilgen und vergessen zu machen), haben Null Interesse, über das, was solche Menschen zu sagen haben, zu berichten. Die Systemmedien sehen es sogar als ihre Aufgabe an, solche Menschen, falls sie doch irgendwo Relevanz zu gewinnen drohen, umgehend ins Visier zu nehmen, zu diffamieren und sogar zu kriminalisieren (siehe Ulrich Mies: „Die Spindocs der Gegenaufklärung“).

Man darf sich davon aber nicht bekümmern lassen. In Wirklichkeit sind die „Qualitätsjournalisten“ von Südtäuscher Zeitung & Co., die sich für diese Drecksarbeit hergeben, nur wie Bläser mit einem großen blechernen Tubahorn, das bis zum oberen Rand mit Gülle angefüllt ist, sodass jedes Hineinblasen in dieses Instrument nur noch ein bisschen dumpfes Geblubbere und üble Gärgase hervorbringt.

(Foto: pixabay/CC0)

Doch lassen wir diese traurige Zunft der südtäuschen Schreiberlinge wieder beiseite, man könnte sich dazu endlos empören und haben dieses Thema ja schon oft genug gestreift. Wir wollten von denjenigen Menschen sprechen, die ihr wirkliches Potential entwickelt haben bzw. von derjenigen Möglichkeit, welche uns heute nebst allen Niedergangserscheinungen ebenfalls offensteht: Dass es möglich ist, nicht auf Besserung von außen/einer Partei etc. zu warten, sondern  selbst Kultur zu schaffen, selbstbestimmt seine Interessen zu wählen und an zumindest einem individuell gewählten Thema bzw. Ziel dranzubleiben und sich trotz aller Mühsal und Rückschlägen immer tiefer in dieses Thema zu vertiefen. Das individuell gewählte Thema kann so vielfältig sein wie auch die Menschen vielfältig sind und ein jeder von uns ganz spezielle Anlagen hat. Es kann eine Kunst sein, Bildhauerei, Malerei, ein Instrument, Bewegungskunst, Literatur, Philosophie, Soziales, Menschenrechte, Natur, Tierschutz,  Kommunikation … sogar die Gebiete von Wirtschaft, Technik, Rechtswissenschaft oder Politik kann man so durchdringen, dass man sie auf humane Weise fruchtbar macht. Man braucht nur den Flachbildschirm ausmachen und man wird sehen, welche großartigen Möglichkeiten man heute hat, um etwas wirklich Sinnvolles und individuell Einzigartiges zu entwickeln, anstatt sich seine wertvollste Ressource: seine Lebenszeit absaugen zu lassen.

Der Abgrund der Ultradekadenz und der Berggipfel der individuellen Entwicklung: Beide Richtungen stehen uns heute offen. Es darf uns dabei nicht bekümmern, dass es heute nicht wie in bisherigen Hochkulturen ist, wo 95% der hiesigen Menschen an der jeweiligen kulturellen Höherentwicklung teilgenommen haben und nur 5% Barbaren waren bzw. versumpft sind. Möglicherweise ist das Verhältnis heute sogar umgekehrt: Vielleicht werden wir nur 5% zivilisierte Menschen und 95% Barbaren haben. Das wäre zwar tieftragisch, zumal es nicht einmal ein einziger Mensch sein müsste, der absauft, aber das ist eben neben seiner Tragik auch das Grandiose am freien Willen des Menschen: Jeder kann selbst wählen, was er werden möchte und wogegen er sich verweigert. „In times of information, ignorance is a choice“ – auch wer diese Wahl trifft, man muss sie respektieren.   

Der Abgrund der Ultradekadenz und der Berggipfel der individuellen Entwicklung. Im Fernsehen und den sonstigen Medien werden uns 24h-nonstop fast ausschließlich jene Akteure gezeigt, die ersteren Weg beschreiten bzw. der Ultradekadenz huldigen. Über diejenigen, die weitab des Rampenlichts und oft bei kargem Brot ihre Lebenszeit dazu nützen, um erstaunliche wirkliche Qualitäten zu entwickeln, erfährt man in den Medien kaum etwas. Obwohl es gar nicht wenige solche Menschen gibt. Viele haben, wenn schon nicht den Berggipfel, so doch beachtliche Höhen erreicht, auf denen sie trotz aller Mühsal des Aufstiegs den Vorzug sonnendurchfluteter, sauberer Luft und klaren Gebirgswassers genießen können, während sich die Follower der Ultradekadenz unterhalb eines Smogdeckels tummeln und in einem grützegrünen Kaulquappenteich versuchen, einen nächsten „Kick“ zu erheischen, um sich zu beweisen, dass sie vielleicht doch nicht ganz so tot sind wie sie sich fühlen, wenn einmal irgendwo in einer ruhigen Minute die Subwoofer verklingen.

Von denjenigen, die auf die Poolparty verzichten und sich stattdessen zu einer mühsamen Bergtour aufmachen, wird man zunächst nicht viel hören oder sehen. Denn wie schon Dostojewskij an oben erwähnter Stelle sagte: „Retten konnten sich in der ganzen Welt nur einige Menschen … aber niemand hatte diese Menschen irgendwo gesehen, niemand hatte ihr Wort und ihre Stimme gehört.“

 

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