Bild: Prometheus (Wikimedia/Jan Eric Cloeve/Link)
Laut Jean Ziegler leben wir derzeit in einer „kannibalischen Weltordnung“. Das ist das trockene Fazit eines heute 81jährigen ehemaligen UN-Kommissars, der in Sachen Menschenrechte und Ernährungsfragen rund um den Globus gereist ist.
Dass soeben 800 Menschen bei ihrer Überfahrt nach Europa am Grund des Mittelmeeres ihren Tod gefunden haben, ist natürlich nicht das Werk von Kannibalen, sondern ist tunesischen Schleppern zuzurechnen, über deren Skrupellosigkeit sich unsere Politiker jetzt empört zeigen.
Angesichts solch schrecklicher Tagesnachrichten kann man hierzulande nicht einfach mit den Vorbereitungen für die nächste Fußball-EM (2016) bzw. WM (2018) weitermachen, sondern muss schon etwas Handfestes tun. Gleich in Anschluss an die Trauerfeier in Malta hat daher EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos in einer Pressekonferenz verkündet, dass „Europa den Schmugglern den Krieg“ erkläre. Erwogen wird unter anderem, leerstehende Schlepperschiffe an der afrikanischen Küste zu bombardieren. Bettelfamilien und Landstreicher, die bisher in abgetakelten Fischerkähnen Zuflucht gesucht haben, sollten sich also schleunigst wieder dem Regen und den Straßenräubern aussetzen. Denn es könnte sein, dass sie plötzlich ihren Körper am Meeresgrund bzw. sich selbst im Jenseits wiederfinden.
Derartige Vorschläge der EU-Granden sind nicht etwa das Resultat einer durchzechten Nacht in Maltas Hafenkneipen, sondern die kühl durchdachte Konsequenz einer stringenten Logik, nach der unser Räderwerk derzeit tickt und die Jean Ziegler als „kannibalische Weltordnung“ bezeichnet hat. Da er als 81jähriger keinen besonderen Karriereknick mehr zu befürchten hat, kann er sich eine solch unverblümte Ausdrucksweise leisten.
Da tun sich Persönlichkeiten, die im politischen Tagesgeschäft stehen, schon deutlich schwerer. Sie müssen sich diplomatischer artikulieren. Deutschlands „Frau ohne Eigenschaften“ etwa beherrscht diese Tugend tadellos. Auf „bundesregierung.de“ hat sich die gute Dame bereits im Februar zum Sterben im Mittelmeer mit den Worten geäußert: „In der Tat ist die Situation auf dem Mittelmeer auch sehr unbefriedigend.“
Doch gehen wir wieder weg von Merkel, sonst wird die Gefahr groß, abzuschweifen. Fassen wir doch einmal den wirklichen Kern des Problems ins Auge. Dabei wollen wir uns diesmal nicht mit den üblichen ökonomisch-strukturell-soziologischen Analysen und Unternehmungen aufhalten, die ja bisher, wie man sieht, trotz aller Zeit, Ressourcen und brillanter Köpfe, die da investiert wurden, nichts wirklich zum Besseren haben wenden können.
Vor allem dürfen wir nicht den Fehler machen, den globalen Wahnsinn, von dem die jüngste Tragödie im Mittelmeer nur ein Exponent einer täglich in unvorstellbarem Ausmaß stattfindenden Vernichtung an menschlicher Existenz und menschlicher Würde ist, außerhalb unserer eigenen Pforten zu lokalisieren. Wo dann unsere Politiker Betroffenheit heucheln, wenn sich ebendieser Wahnsinn auch bei uns Bahn bricht, sei es in Form von Leichenbergen an unseren Staatsgrenzen, in Form von Terrorismus in europäischen Metropolen wie Paris oder in Form von Piloten, die die Passagiere ihres vollbesetzten Jumbos angeblich mutwillig in die Alpen krachen lassen. Der unbedarfte Fernsehbürger, der diese Schrecknisse entgegennimmt, während er auf dem Wohnzimmersofa sein Müller-Joghurt löffelt, steht dem fassungslos gegenüber und versteht nicht, was Menschen dazu treibt, den eigenen Tod und den ihrer Mitmenschen in Kauf zu nehmen.
Sichtet man zum aktuellen Unglück im Mittelmeer die Internet-Foren, dann ist bei aller Betroffenheit auch der mehr oder weniger offenkundige Duktus vernehmbar, dass so eine Schlepper-Überfahrt mit Kind und Kegel ja heller Wahnsinn sei, wir sowieso nicht alle Flüchtlinge aufnehmen können und es nun zumindest den an der afrikanischen Nordküste in den Startlöchern stehenden Migranten eine Lehre sein werde, von ihrem Unterfangen, in die Burg Europa zu gelangen, abzulassen.
Was treibt aber wohl einen Menschen, das Leben von sich und seiner geliebten Familie auf den russischen Roulettetisch zu werfen und dann, falls er mit dem nackten Leben davonkommt und die Überfahrt schafft, sich ohne jede Sprachkenntnis und berufliche Qualifikation, fernab der Kultur und Heimat, in der verwurzelt ist, nun als Underdog und Tagelöhner zu verdingen?
Jean Ziegler hat die Gründe in seinen Reports als UN-Kommissar für Welternährung bereits vor Jahren eindringlich dargelegt. Er war direkt vor Ort, z.B. in Dakar, einem Hauptumschlagplatz für Agrarwaren auf dem afrikanischen Kontinent und konnte sehen, wie dort überschüssige Ramschwaren, Gemüse und Hühnerbrüste aus Europa und den USA auf den Markt geworfen wurden – zu Dumpingpreisen, die nur aufgrund der milliardenschweren Agrarsubventionen der EU möglich waren und die unter dem Preis lagen, zu denen ein afrikanischer Kleinbauer kostendeckend produzieren konnte. Ein solcher Kleinbauer habe daher nur die Wahl, entweder sich und seine Familie verhungern zu lassen oder eben die Überfahrt nach Europa zu wagen und sich dort als Straßenkehrer zu verdingen.
Man also durchaus sagen: Dass in Afrika der Markt und die Infrastruktur kaputt sind, sodass die Menschen dort durch ehrlichen Landbau kein Auslangen mehr finden, ist auch Schuld unserer fehlgeleiteten EU-Politik. Wo Schuld ist, läge daher auch Verantwortung. Natürlich sind an dem Fiasko noch weitere Faktoren mitbeteiligt – von den, übrigens ebenfalls dem Westen bzw. der Nordhemisphäre zuzurechnenden Kolonialisierungsfolgen, dem Klimawandel, der Rolle von IWF und Weltbank, Economic Hitmen etc. wollen wir an dieser Stelle nicht reden. Der Präsident von Burkina Faso, Thomas Sankara hat es seinerzeit gewagt, die hegemonialen Zustände vor der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) anzusprechen und seine afrikanischen Staatskollegen zur Solidarität aufgefordert, die Schuldenknechtschaft zu verweigern, die es ihnen unmöglich macht, in ihren Heimatländern Schulen, Krankenhäuser und Infrastruktur aufzubauen, sondern die ein fortwährendes finanzielles Ausbluten in Richtung USA und Europa darstellt. Nach Ende seiner berühmt gewordenen Rede, mit der er auch die anwesenden westlichen Regierungschefs vor den Kopf gestoßen hat, war sein Sarg schon maßgeschneidert. Er hat die nächsten zwei Monate nicht überlebt.
Wer sich über die Machenschaften der von unserem Wirtschaftssystem entsandten Economic Hitmen informieren will, findet z.B. in Erwin Wagenhofers Doku-Klassiker „Let’s Make Money“ ein zweiminütiges Exklusiv-Interview mit einem waschechten Economic Hitman, der aus dem US Dienst ausgestiegen ist. Für das, was der gute Mann in diesem Interview zum Besten gibt, fehlen mir noch die Worte – nicht nur, weil mir anfangs der Mund offen geblieben ist, sondern auch wirklich buchstäblich. Denn „Verschwörungen“ gibt’s ja im wirklichen Leben laut herrschender Doktrin nicht (warum dann Geheimdienste in einem rechtsstaatlichen und demokratischen System eben „geheim“ sein müssen, habe ich zwar bis jetzt noch nicht eingesehen, aber was soll’s, bin eben ein einfältiger Geist; die wenigen Brocken, die vom Treiben der Geheimdienste ab und zu, meist erst nach Jahrzehnten ans Tageslicht kommen, lassen jedenfalls ahnen, warum die Herrschaften ihre Pläne geheim halten wollen.)
Um also nicht unnötig anzuecken, wollen wir hier keine pathetischen Worte verwenden und nennen wir das, wovon der Economic Hitman da im Interview redet, nicht Verschwörung, sondern geben dem Ganzen eben einen profaneren Namen: Nennen wir es einfach systematischen Meuchelmord. Wer sich etwas diplomatischer ausdrücken möchte als ich, der kann stattdessen auch „Absprache mit letaler Folgewirkung für opponierende Target-Objekte“ sagen.
Egal welche Worte wir verwenden, wir werden uns in Zukunft jedenfalls schwer tun, den Wahnsinn in gewohnter Manier nach außen zu projizieren, denn er wird immer öfter bei uns anklopfen. Warum? – Weil er in unserem eigenen Inneren daheim ist. Aus ebendiesem Grund nützt es auch wenig, wenn wir ihn im Äußeren noch so vehement bekämpfen.
Che Guevara hat dies klar erkannt und Jean Ziegler zur rechten Zeit instruiert. Als Ziegler in seinen jungen Jahren Chauffeur Che Guevaras während der Teilnahme Kubas an der Weltzuckerkonferenz der UNO in Genf war, äußerte er den Wunsch, dass er ihn bei der Rückreise nach Kuba mitnehme. Che Guevara antwortete ihm: „Dein Platz ist hier. Hier ist das Gehirn des Monsters, hier musst du kämpfen.“
Leider ist dieses Monster nicht so ohne Weiteres dingfest zu machen. Seine Existenz ist zwar ob des inzwischen augenscheinlichen Kahlfraßes und der abgründigen ökologischen, ökonomischen, finanztechnischen, sozialen und allgemeinmenschlichen Entwicklung evident, trotzdem ist es glatt wie ein Aal und obendrein unsichtbar.
Wenn wir das Monster wirklich beim Namen nennen wollen, dann hätten wir zwar endlich den not-wendigen Hebel an der Hand, um den bereits unerträglich werdenden globalen Verhältnissen eine Wendung zu geben, allerdings stünde dann in Zukunft ein gewaltiges Stück Arbeit für uns an. Und wer es gewohnt ist, auf seinem Politikersessel ein leistungsfreies oder zumindest ein leistungsträges Einkommen zu beziehen, der wird naturgemäß vor echter Arbeit zurückschrecken und lieber weiterhin auf Vollkoffer-Lösungen setzen. Wie das Bombardieren von Fischerbooten, den „Kampf gegen den Terror“ (der übrigens lt. aktueller Studie der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges /IPPNW seit seiner Ausrufung vor 12 Jahren bisher über 1 Million Todesopfer gefordert hat – nicht einberechnet sind hierbei verstümmelte und invalide Opfer) und den Ausbau der Bürgerüberwachungsmaschinerie, die schon demnächst wie ein schwarzes Loch alle Grundlagen unserer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verschlingen könnte.
Aber nicht nur den leistungsträgen Politikern würde es sauer aufstoßen und den gewohnten Ledersessel entziehen, wenn wir den Wahnsinn beim Namen nennen und dann die Ärmel für den Ringkampf hochkrempeln müssten (Manche Spitzenpolitiker wie Jean-Claude Juncker geben das durchaus unverhohlen zu: „Wir wissen an sich schon, was zu tun und zu ändern wäre. Aber wir wissen nicht, wie wir dabei gleichzeitig an der Macht bleiben können.“)
Auch dem gemeinen, fernsehenden Bürger könnte im Falle einer bewussten Konfrontation mit dem Wahnsinn, der ihm von klein auf zur Normalität erklärt wurde, zunächst die Lust auf sein abendliches Dosenbier vergehen.
Im Sinne einer demokratischen Vorgehensweise müsste man weiters auch die Position der Arbeitgeber berücksichtigen. Nach Demaskierung des zur Normalität erklärten alltäglichen Wahnsinns vermutlich würde die Bereitschaft seiner Angestellten, sinnlose Profitoptimierungsarbeiten und Werbefritzentätigkeiten zu erfüllen, in den Keller sinken. Wie soll der arme Kerl dann die Aufträge der Hedgefonds-Kunden bearbeiten, wenn er alleine im Großraumbüro sitzt?
Wollen wir es trotzdem wagen, dem Wahnsinn ins Auge zu schauen, obwohl wir damit soviel Unbill erzeugen und vielen unbedarften Menschen den vertrauten Boden entziehen?
Wäre die Zündschnur zum Dynamit, auf dem wir sitzen, nicht bereits so bedrohlich weit abgebrannt, dann würde ich in der Tat zaudern und mich lieber mit Witzreißen und Schenkelklopfen beliebt machen, als hier unliebsame Wahrheiten in die Welt zu posaunen.
Als Kenner der griechischen Mythologie macht mir zudem das Schicksal des Prometheus ein etwas mulmiges Gefühl im Bauch. Nachdem er den Menschen schnellfertig das Feuer gebracht hatte, wurde er von den Göttern hart bestraft, ein Geier fraß von nun an täglich seine Leber auf. – Nun denn, ich hoffe, dass die Götter einem kleinen Parkwächter gnädiger sind als dem der Spezies der Titanen angehörigen Prometheus.
Nach eingehender Beobachtung des täglichen Parktreibens, langjähriger sorgfältiger Abwägung und zahllosen randomisierten Doppelblindstudien wage ich daher als akademisch akkreditierter Parkwächter zu konstatieren, wo die Wurzel des Bösen steckt.
Vorneweg: Sie steckt nicht in Putins Schlafzimmer, auch nicht im Koran oder den tollwütig gewordenen IS-Säbelzahntigern.
Sie steckt in unserem eigenen, mittlerweile zur dogmatischen Staatsreligion erhobenen Glaubensbekenntnis, und das ist: Der nihilistische Szientismus.
Denn diese Staatsreligion, die uns schon von klein auf in Schule und Uni mit dem Löffel gefüttert wird, steht in ihrem Absolutheitsanspruch dem blinden Fanatismus der IS-Kämpfer um nichts nach. Wer sich nicht ihrem sachzwänglichen Dogma und der damit einhergehenden Verwertungslogik unterwirft:
„Mensch und Welt sind nur geistlose Kohlenstoffzusammenballungen, ergo ist alles Wurst, ergo können Mensch und Umwelt nach reinen Effizienzkriterien ausgeschlachtet werden“,
dessen Karriere in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft ist schnell beendet, er wird als Ketzer exkommuniziert und am Scheiterhaufen der öffentlichen Meinung verbrannt.
Nachdem es z.B. Jean Ziegler gewagt hat, sich in Opposition zu obigem Dogma zu stellen (er glaubt an einen Sinnzusammenhang des Daseins, an eine geistige Existenz des Menschen, ergo an eine moralische Verantwortung des Einzelnen) und nachdem er begonnen hat, diejenigen Institutionen und Personen zu demaskieren, die sich in den Dienst des Wahnsinns – den wir soeben als nihilistischen Szientismus identifizierten – gestellt haben, wurde er postwendend von allen Seiten mit Gerichtsklagen und Schadensersatzforderungen zubetoniert. Derzeit hat er als Folge gerichtlicher Verurteilungen mehr als 6 Millionen Franken Schulden.
Aus Sicht eines Szientisten war Jean Ziegler dumm. Er hätte als Sohn eines privilegierten Schweizer Elternhauses, als Abgeordneter des Schweizer Bundesrates und späterer hoher UNO-Funktionär die besten Voraussetzungen gehabt, um richtig viel Kohle zu horten und sich einen riesigen Fuhrpark an Rolls Royces und Bentleys zuzulegen.
Das hat er nicht gemacht. Stattdessen hat er seine privilegierte Stellung genutzt, um für eine menschengerechte Zukunft für uns alle zu kämpfen. Vielleicht weil er eben keineswegs dumm ist, sondern hochintelligent. Sein Engagement für Humanität und Moral hat ihn zwar äußerlich arm gemacht, aber dafür innerlich reich. Er wird seiner letzten Stunde mit Seelenruhe ins Auge schauen können, denn er ist allem Gegenwind zum Trotz seinem Gewissen treu geblieben, hat seine Integrität gewahrt und sich zu einem wahren Menschen entwickelt.
Dass das letzte Stündchen hingegen für diejenigen, die auf den Bentley gesetzt haben bzw. sich dem nihilistischen Szientismus verschrieben haben, keineswegs lustig ist, weiß ich aus erster Hand von einem Mann, der auf einer Sterbestation gearbeitet hat. Er erzählt, dass viele Menschen, die rein materialistisch und in eigener Vorteilssuche gelebt haben, dann bei Herannahen des Sensenmannes in helle Panik geraten und alles in ihrem Leben rückgängig machen würden, da sie es als weitgehend verschwendete Zeit erkennen – aber es ist nun zu spät. Manche krallen sich zuletzt verkrampft an ihr Sparbuch…
Hätten diese Menschen in ihrer Schulzeit einen humanistischen Lehrer gehabt, der ihnen statt Excel und Powerpoint auch etwas über Philosophie nahebringt, dann wäre diesen Menschen vielleicht ein solch entwürdigender Abgang bzw. das verpfuschte Leben erspart geblieben. Denn dann hätten sie vielleicht etwas über die letzten Worte Alexanders des Großen erfahren:
„Wenn mein Sarg zu Grabe getragen wird, dann schneidet zwei Löcher hinein und lasst meine Hände heraus hängen! Ich will der Welt zeigen, dass ich mit leeren Händen gehe. Ich wollte immer größer und reicher werden, aber tatsächlich bin ich immer ärmer geworden. Lasst alle wissen: Alexander der Große stirbt mit offenen Händen. Ich kann nichts mitnehmen, alles war nur Einbildung.“
Wir reden heute viel über die Notwendigkeit von Impfungen und die Ausrottung von Kinderkrankheiten. Was wirklich Not täte, wäre eine geistige Impfung im Sinne Alexanders des Großen – gegen die fatalste aller Krankheiten, die sich derzeit zu einem wütenden globalen Flächenbrand ausweitet, der alles zu verschlingen droht: gegen den Szientismus.