Samstag, 27. 9.2014. Eifel. Wenn ich über das kranke Deutschland schreibe, werden Sie sicher irgendetwas Asoziales erwarten. Korruption in der Politik zum Beispiel: das ist ziemlich krank. Geschieht in Deutschland ganz öffentlich, 5000 Lobbyisten sorgen in Berlin dafür, dass die Politik ihrer Verbände durchgesetzt werden. Gut, es gibt auch Lobbyisten von Umweltschutzorganisationen – jedenfalls habe ich mal einen in Brüssel gesehen. Meistens jedoch können sich diese mit 100000 Euro/Jahr fürstlich versorgten Herren (eine Dame sah ich da noch nie, fällt mir gerade ein) nur große Konzerne leisten, die jederzeit ihre Aufwendungen für Lobbyisten als Werbekosten von der Steuer absetzen können – oder irre ich da? Ja – wir Bürger zahlen mit Preisaufschlägen und Steuern dafür, dass unsere Politiker davon abgehalten werden, in unserem Sinne zu arbeiten. Krank, oder?
Oder diese Bankenrettung. Groß titeln die Massenblätter, dass jeder dritte Euro für Soziales ausgegeben wird – das die anderen beiden bei den Banken landen, wird nicht erwähnt. Na ja – Scherz beiseite, dass ist übertrieben: aber dass wir schwerreichen, kerngesunden Bankern eine Sozialhilfe zahlen, die zigtausendfach über der Sozialhilfe für Bürger liegt, ist doch auch krank, oder?
Oder nehmen wir die Gesellschaft? Fast zwei Drittel der Deutschen hacken auf Juden, Ausländern (besonders Muslime), Arbeitslosen, Asylbewerbern oder Menschen mit Migrationshintergrund (auch hier: Muslime) herum. Alles faule Säcke, wenn man die vom Abstieg bedrohte Mittelschicht fragt (siehe Boell.de):
61 Prozent sind der Ansicht, dass in Deutschland zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden müssen. Gerade in der verunsicherten Mittelschicht gibt es offenbar zunehmend ein Bedürfnis nach Abgrenzung. Schwache soziale Gruppen, z. B. Langzeitarbeitslose, werden für ihr eigenes Schicksal verantwortlich gemacht, auch um die Möglichkeit des eigenen Scheiterns von sich zu weisen.
Die Taz spricht von einer „Verrohung des Bürgertums“ (siehe Taz):
Die Umfrage belegt zugleich eine geradezu sprunghafte Zunahme rechtspopulistischer Einstellungen vor allem bei den Bürgerinnen und Bürgern mit höheren Einkommen (ab 2.598 Euro im Monat).
Ist das nicht krank? Superkrank? Ich meine: kann man solch´ ein asoziales Verhalten einer ansonsten wohl versorgten Speckschicht noch geistig gesund nennen? Geht das nicht schon in den psychopathischen oder soziopathischen Bereich und ist behandlungspflichtig?
Interessante Fragen, die mich heute nicht interessieren. Letztlich begegnete mir die Information, dass fast zehn Prozent der Deutschen schwerbehindert sind (siehe Spiegel). Fand ich ziemlich viel. Es brachte mich auf eine andere Frage, die mich schon länger beschäftigt: was haben die eigentlich sonst noch so, die Deutschen?
Krebs natürlich. Oft erwähnt, neben Herz-Kreislauferkrankungen eine der häufigsten Todesursachen. 1,5 Millionen Menschen litten allen 2010 darunter , Tendenz: steigend. Platz 1: Prostata bei Männern, Mammakarzinom bei Frauen, Platz 2 Darmkrebs, Platz 3: Lunge (siehe Krebsinformationsdienst).
Lunge? Die kann doch auch sonst noch erkranken? Das sind doch die Leute mit dem kleinen Fläschchen, die inhalieren müssen?
Da gibt es zwei Formen, die erstmal interessieren: die chronisch obstruktive Atemwegserkrankung (copd) und das Asthma. Copd betrifft 18,1 % der Bevölkerung, 7,5 befinden sich im Stadium 2 – wo es ernst wird (siehe Ärztezeitung). Sechs Millionen Menschen leiden unter dieser Erkrankung (siehe copd-Deutschland) – und mehr als doppelt soviel laufen mit Stadium 1 herum, ohne etwas zu merken. Die zählen wir aber erstmal nicht.
Asthma sieht nun ähnlich aus – ist aber etwas ganz anderes (Differentialdiagnose: siehe Ärztezeitung). Zu den sechs Millionen Menschen mit copd kommen nochmal 6 Millionen Asthmatiker – 10-15 Prozent aller Kinder leiden darunter (siehe asthma-verstehen).
Gemeint ist hier allergisches Asthma.
Ach ja: Allergien.
Allergien können Asthma verursachen – doch Allergien müssen nicht unbedingt die Lunge betreffen. Zahlen haben wir da aus dem Jahre 2011:
25 % der Deutschen leiden unter Heuschnupfen, 8,5 % unter einer Kontaktallergie, 6, 5 % unter Neurodermitis (siehe Statista), das wären allein 20 Millionen Menschen mit Heuschnupfen. Insgesamt summieren sich die allergischen Erkrankungen auf 35 % der Bevölkerung – im Jahre 2012. (siehe Welt)… das wären 28 Millionen Allergiker in Deutschland.
Tendenz: steigend, sie ältere Zahlen nahelegen (siehe allergien.com):
In jahrelangen Studien ließ sich beobachten, dass die Anzahl der Erkrankungsfälle immer weiter ansteigt. Waren im Jahr 1990 etwa 25 % der Bevölkerung von einer Allergie betroffen waren, so waren es 2000 schon 30 %.
Und im Jahre 2012 35 %. Man kann ausrechnen, wann wirklich jeder eine Allergie hat. Manche marschieren jetzt schon auf die 50 % zu (siehe DGAKI).
Allergische Erkrankungen betreffen in Deutschland ungefähr 20 – 30 Millionen Menschen, über die Hälfte der Bundesbürger sind bereits „sensibilisiert“, d. h., tragen Antikörper in sich, die bei Kontakt mit Allergenen aus der Umwelt irgendwann zur Krankheit führen können. Allergie kann deshalb mit Fug und Recht als eine „Volkskrankheit“ bezeichnet werden, von vielen wird sie als „Epidemie des 21. Jahrhunderts“ apostrophiert.
Der Lunge geht es im Übrigen auch immer schlechter (siehe biermann-medizin):
Deutlich wird anhand des Weißbuches, dass pulmonale Erkrankungen häufig sind – oder, wie es Gillissen ausdrückt, dass „die Lunge wesentlich für das Krankheitsgeschehen in Deutschland ist“. So ist die Lebenszeitprävalenz von Asthma im Zeitraum 2003-2009 bei Frauen von sechs auf zehn Prozent gestiegen, bei Männern von 5,2 auf acht Prozent. Bei der chronisch-obstruktiven Lungenkrankheit (COPD) müsse von einem Anstieg der Punktprävalenz von 1,3 auf 13,1 Prozent ausgegangen werden, erläuterte Gillissen. Nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation werden pulmonale Erkrankungen und insbesondere die COPD bis zum Jahr 2020 die dritthäufigste Todesursache darstellen.
Kranke Lunge, ausrastendes Immunsystem (ja, das sind Allergien in Wirklichkeit: der Körper reagiert auf harmlose Stoffe wie auf einen schlimmen Feind – eine spannende Geschichte), was gibt es denn sonst noch?
Na, das Herz. Häufigste Todesursache in Deutschland. Da kann viel kaputt gehen: dem elektrischen Motor des Herzens geht der Strom aus, der Muskel wird schwach, das Gefäßsystem verkalkt (was gerade am Herzen wiederum selbst ganz üble Folgen haben kann). Herzinfarkt, Herzinsuffizienz und Schlaganfall können dann die unangnehmen Folgen sein. Über 25 % der Deutschen haben Probleme mit dem Bluthochdruck (siehe rki), das wären locker 20 Millionen. Betrifft auch Jüngere (siehe Wikipedia)
In der Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen ist der Druck in den Gefäßen bei etwa jeder zehnten Frau und etwa jedem vierten Mann zu hoch.
Kein Wunder angesichts der Ursachen:
Ein wichtiger blutdrucksteigernder Faktor kann die Erwerbstätigkeit sein. Von Arbeitenden mit einem durchschnittlichen Alter von 44 Jahren hatten nur 35 % einen normalen Blutdruck, und von den Bluthochdruckkranken hatten nur 7,5 % unter blutdrucksenkender Therapie normale Blutdruckwerte.
Sensation, oder? 65 % der arbeitenden Bevölkerung über 44 leiden unter Bluthochdruck und stehen damit ganz oben auf der Exekutionsskala des Herz-Kreislauf-Systems. Arbeit mach krank, aber wir schimpfen über Arbeitslose.
Wir sehen: das ist nicht allein ein Problem des Alters – obwohl die Betroffenen gerade im Alter ein Problem bekommen (siehe cips-conference)
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems führten im Jahr 2005 in Deutschland zu 367.361 Todesfällen; bei fast jedem zweiten Deutschen (ca. 45 %) wurde der Tod durch eine Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems ausgelöst (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006). Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen damit weiter unverändert die Liste der Todesursachen an. Infolge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen starben insbesondere ältere Menschen: Fast 91 % der Verstorbenen waren über 65 Jahre alt. Ein zunehmendes Problem ist dabei die in Deutschland wie in anderen westlichen Industrieländern stetig wachsende Zahl chronisch herzkranker Patienten. Derzeit leiden ca. 1,8 Millionen Deutsche an chronischer Herzinsuffizienz, jährlich kommen 200.000 bis 300.000 Patienten hinzu.
Bleiben wir konservativ und zählen hier nur 20 Millionen Kranke. 12 Millionen mit Lunge, im Schnitt 25 Millionen mit Allergie: 57 Millionen Erkrankungen. Aber das ist nur ein Zwischenergebnis, aus gleicher Quelle erfahren wir auch etwas über die Diabetiker:
Laut Angaben der Deutschen Diabetes-Stiftung (DDS) sind aktuell über 7 Millionen Menschen in Diabetes-Behandlung, weitere ca. 3,5 Mio. wissen nichts von ihrer Erkrankung. Jeden Tag kommen etwa 1.000 Betroffene dazu – zunehmend in jüngerem Alter und bedauerlicherweise auch immer mehr Jugendliche.
10,5 Millionen – zusammen mit den Demenzkranken, den Krebskranken und den vorher aufgeführten Problemen mit Immunsystem sind wir bei 70 Millionen kranken Menschen: bei konservativer Schätzung – die Allergie gäbe ja noch viel mehr her.
Kommen wir zum Rücken. Erstmal zu den Knochen (alle Zahlen aus: Schmerz in Zahlen vom Forum Schmerz)
In Deutschland gibt es 7,8 Millionen Menschen über 50 Jahren, die an Osteoporose leiden
8,5 Millionen Erwachsene sind von Arthrose betroffen
Rheuma: 1,6 Millionen. Neuropathischen Schmerzsyndrom: 4 Millionen. Also nochmal über 20 Millionen.
„Rücken“ ist aber insgesamt noch schlimmer (siehe Paradisi):
Zeitlebens haben nur 10 bis 20 Prozent aller Deutschen keine Rückenschmerzen. Jeder zehnte Deutsche hat chronische Schmerzen und davon gehen 15 Prozent in Frührente.
80 % der Deutschen haben Rückenschmerzen? Das sind locker mal 64 Millionen. Vielleicht auch 72 Millionen. Soll ich die mal zu den 90 Millionen Erkrankungen hinzuzählen, die das 80 Millionen starke Volk jetzt schon hat?
Dabei sind wir noch gar nicht bei den Kopfschmerzen angekommen, die gibt es ja auch noch (siehe Schmerzklinik).
Zwei von drei erwachsenen Deutschen (etwa 66 Millionen) leiden zumindest zeitweilig unter Kopfschmerzen. Das sind rund 47 Millionen Menschen. Von diesen wiederum sind fast 18 Millionen von Migräne betroffen, weitere 25 Millionen von Kopfschmerzen des Spannungstyps, der Rest mit knapp vier Millionen leidet unter anderen Formen wie beispielsweise dem Cluster-Kopfschmerz und vielen weiteren Formen.
Wir sind jetzt gerade bei 209 Millionen Erkrankungen.
Das kann ganz schön auf die Psyche schlagen, oder?
Ja – die Psyche (siehe Gesundheitsstadt Berlin)
Laut einer Studie von Jacobi haben 42 Prozent aller Bundesbürger im Laufe ihres Lebens schon einmal unter einer psychischen Störung gelitten.
33, 6 Millionen – mit erstaunlichen Steigerungsraten (siehe Statista):
Im Jahr 2008 betrug der Indexwert für Krankheitsfälle aufgrund psychischer Erkrankrungen 188; d.h., dass im Jahr 2008 rund 88 Prozent mehr Fälle psychischer Erkrankungen registriert wurden, als im Jahr 1994.
Neuere Zahlen belegen die Katastrophe menschlichen Geistes (siehe psyga)
Trotz rückläufiger Krankenstände in den letzten Jahren wächst der relative Anteil psychischer Erkrankungen am Arbeitsunfähigkeitsgeschehen. Er kletterte in den vergangenen 38 Jahren von zwei Prozent auf 14,7 Prozent. Die durch psychische Krankheiten ausgelösten Krankheitstage haben sich in diesem Zeitraum verfünffacht. Während psychische Erkrankungen vor 20 Jahren noch nahezu bedeutungslos waren, sind sie heute zweithäufigste Diagnosegruppe bei Krankschreibung bzw. Arbeitsunfähigkeit.
Depressionen liegen da bei 8 % der Bevölkerung, wobei Jugendliche von 18-29 Jahren bei knapp 10 % liegen.
Mag es da Zusammenhänge geben mit den oben geschilderten kranken Zuständen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft?
Wollen wir da mal nicht weiter ausholen, denn ich höre schon das Gemecker: „Man kann doch nicht einfach alle Krankheiten addieren!“.
Klar – es gibt sie, die multimorbiden Patieten. Die, die alles haben – erst recht im Alter … aber wissen Sie, dass wir momentan schon bei 4 Erkrankungen pro Bundesbürger angelangt sind – die meisten davon chronisch?
Haben Sie bemerkt, dass wir uns um das Ohr, das Auge, die Leber, die Niere, das Blut, die Galle oder den Magen-Darm-Trakt noch gar nicht gekümmert haben, mal abgesehen von den Infektionskrankheiten, die auch zunehmen (siehe Augsburger Allgmeine) Soll ich da auch nochmal ein paar Millionen einsammeln … oder reicht Ihnen das jetzt, um mal ein wenig ins Nachdenken zu kommen?
Wer in Deutschland ist eigentlich noch gesund?
Wissen Sie eigentlich, wie viele Krankheiten wir mitlerweile haben? 12161 verschiedene Diagnosen enthält der ICD 10 momentan (siehe Wikipedia): Tendenz: steigend. Manche meinen ja, es sei nur die Sucht der Ärzteschaft nach Profilierung, die das finden oder erfinden neuer Erkrankungen (zum Beispiel ADHS) vorantreiben – aber reicht das wirklich aus, um diese erschreckenden Zahlen zu erklären?
Oder macht unsere Gesellschaft vielleicht doch ein wenig kranker, als wir gerne zugeben?
Und: ist es angesichts dieser Zahlen wirklich verwunderlich, dass wir ein paar Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt haben, die zwar noch keine Rente beziehen aber aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nie wieder dem Standard eines deutschen Personalmanagers entsprechen werden?
Na ja – dies ist ein Nachdenkmagazin. Hier möchte man zum eigenen Denken ermuntern, zu dem nur ein Anstoß gegeben wird. Mal schauen, zu welchen Ergebnissen die Denker kommen: ein Land der Kranken, ein Land das krank macht – oder nur statistischer Unfug?
Bin mal gespannt auf die Antworten.