Ratten

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Unkuhle Worte eines russischen Bauern – Über das Gute und Gerne Leben im Westen

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Jedem Hipster / Fripster / Junkster / X-Hamster werden solche Worte eines russischen Bauern wohl nur ein müdes Ja ey lol mann entlocken, bevor er weiter an der Plörre schlürft, die ihm von all den Heidis, Sidos, Rezos, Tilos, Bumstis und Struppis via Flatscreen täglich frei Haus geliefert wird. Aber auch der Hipster / Fripster / Junkster / X-Hamster hat in seinem Leben Phasen, in denen das Kaugummiploppen verebbt und der Gummi, den er kaut, nach Scheiße zu schmecken anfängt. Er mag sich dann eventuell fragen, ob das ein oder andere Bild aus dem unkuhlen Text des russischen Bauern nicht doch entfernte Ähnlichkeit mit dem verqualmten Kellerkino hat, in dem er sitzt und ob es nicht Zeit wäre, mal an die frische Luft zu gehen …

(Text des russischen Bio-Bauern Iwan Halilow, Übersetzung aus dem Russischen von Ilja Potrebitsch, veröffentlicht mit Genehmigung des Übersetzers)

Wir werden wie Ratten vernichtet

In einer Entbindungsklinik wird ein Kind geboren. Das erste, was es sieht, ist ein helles, elektrisches Licht, welches gleich am Anfang seines Lebens sein Augenlicht zerstört. Das erste, was es fühlt, sind die Hände eines fremden Menschen im weißen Kittel, die wahrscheinlich vor wenigen Stunden bei einer anderen Frau einen Abort durchgeführt haben.

Dem Kind wird die Nabelschnur gleich nach der Geburt durchtrennt. Das Blut und die notwendigen Substanzen aus der Plazenta, die nach der Geburt langsam wieder über die Nabelschnur in den Körper des Kindes gelangen sollen (so ist es von der Natur aus gewollt), erhält es nicht. Dies ist der erste Schlag gegen den Körper eines gerade mal geborenen Menschen.

Weiter: Menschen in weißen Kitteln verursachen einen zweiten vernichtenden Schlag gegen die schwache Immunität des Kindes – sie impfen das Kind mit Krankheiten zu.

Weiter: Die Mütter versuchen, ihren eigenen Kindern irgendeine chemische Nahrung aufzudrücken. Sie werden in jeder Hinsicht vom Stillen abgehalten, oder ihnen wird geraten, maximal 3-4 Monate lang zu stillen und danach auf chemische Nahrung umzusteigen.

Das Kind wächst auf und geht in den Kindergarten und danach in die Schule. Nun wird das Kind sich 15 Jahre lang „sozialisieren“ müssen, das heißt, es wird die meiste Zeit mit denjenigen gleichaltrigen Kindern verbringen, die auf dem gleichen Niveau hängen geblieben sind wie es selbst, das heißt, ab diesem Moment wird es sich selbstverständlich nicht mehr entwickeln können.

Erzogen wird das Kind mit Hilfe des Fernsehers und des Internets, weil beide Elternteile arbeiten gehen und die Omas und Opas in Altersheimen sitzen und an der Erziehung ebenfalls nicht teilnehmen. Fremde Menschen im Fernseher und in der Schule werden sich mit psychischer und physischer Entwicklung deines Kindes befassen. In diesen 15 Jahren der „Sozialisierung“ lernt dein Kind rauchen, Alkohol trinken, kiffen, fluchen, unzüchtig leben, Pornofilme anschauen, das heißt, es wird sich in die moderne Viehgesellschaft perfekt anpassen müssen. Für die Mädchen wird es Normalität sein, jedes Wochenende irgendwo abzuhängen bis in die frühen Morgenstunden, saufen und mit jedem zu schlafen, so dass sie bereits mit 18 Jahren eine reiche Erfahrung mit einem anderen Geschlecht vorweisen können.

Die Eltern werden ihren Töchtern selbstverständlich nicht erklären, sie sollen sich für ihren zukünftigen Ehemann bewahren. Törichte Mädchen werden das ganze Leben lang „nach DER Liebe suchen“, „nach DER passenden Person“, dabei springend von einem Bett zum anderen Bett. Sie werden sich als vollwertige Mitglieder einer modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bezeichnen.

Die Norm für diesen biologischen Abfall (Menschen) werden keine schöpferischen und nützlichen Tätigkeiten sein. Sie werden nicht wissen, was gut und was schlecht für sie ist. Die Norm wird sein, nicht zu viel nachzusinnen und nicht zu tief in Details zu gehen. „Warum denkst du darüber nach? Was für Sitten? Was für Anständigkeit? Was für Glauben? Lass uns lieber feiern und saufen! Du lebst nur einmal!“ Sie werden keine Prinzipien haben. Sie werden keinen gesunden Geist haben. Er wird Freunde um sich herum haben, die genauso dumm sind wie er selbst. Für ihn wird es unangenehm und anstrengend sein, sich von verständigen Freunden zu umgeben, denn seinen Vektor des Lebens hat er bereits in Richtung Degradierung ausgerichtet. Je mehr er seinen Körper und seine Psyche zerstört, desto mehr Freude bereitet es ihm.

Dein Kind ist nun erwachsen geworden. Jetzt ist er in der Lage, den Unternehmen, den Firmen und dem ganzen wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu dienen. Seine Lebensenergie wird durch die Apotheken, Supermärkte und Internet ausgesaugt. Von Zeit zu Zeit wird er von den „erfolgreichen“ Beispielen inspiriert und versucht, einige Ziele, welche von der gesellschaftlichen Pop-Kultur vorgegeben werden, zu erreichen.

Jemand wird Wissenschaftler werden wollen, oder Ingenieur. Er wird dann neue Arten von Waffen, Technologien und Chemikalien entwickeln, um die Zerstörung des Planeten noch weiter voranzutreiben. Jemand wird Schauspieler oder Sänger werden wollen, um das Volk vergnügen zu können und damit das Geld zu verdienen. Und jemand wird einfach ein ganz kleines Zahnrad werden, das dem System dient. Jeden Tag werden ihm unnötige Waren und Dienstleistungen auferlegt.

Er wird täglich von chemischen Lebensmitteln vergiftet und rund um die Uhr mit allen Arten von Strahlungen bestrahlt. Er wird jeden Tag seinen Körper mit chemischen Hygieneprodukten waschen. Er wird jeden Tag synthetische Kleidung auf seiner Haut tragen, welche auch noch mit einem chemischen Waschmittel, welches aus der Kleidung nie komplett ausgewaschen wird, durchtränkt ist. Jeden Tag wird er sowohl Außen als auch Innen vergiftet und nochmal vergiftet.

Gesundheit wird zur Mangelware. Die psychische Gesundheit ist bereits zerstört. Der Mensch hört auf, ein Mensch zu sein und verkommt zu einem „Fernsehzuschauer“, der seine Weltanschauung aus dem zusammensetzt, was er im Fernseher, im Radio und in den Zeitungen gesehen, gelesen und gehört hat. Und nur ein Dummer erkennt nicht, dass all diese Medien der strengsten Zensur unterliegen.

Der Mensch bleibt somit ohne Gesundheit, ohne Gehirn und ohne Seele. Mit so einem Zustand wird er nicht lange leben können.

Sein ganzes Leben lang wird er krank sein und möglicherweise seine Kinder zur Welt bringen, vorausgesetzt irgendwelche Bastarde in weißen Kitteln ihn nicht dazu überreden, das Kind direkt im Mutterleib zu töten. Der Kreis schließt sich und seine Nachkommen dürfen nun das Gleiche erleben wie er.

 

(Foto: Pixabay / CC0)

Über multiresistente Keime, Kulturtod und emotionale Vulkanausbrüche in neoliberaler Gletscherlandschaft – und Enten, die an Nacktschnecken ersticken

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Foto: Nacktschneckenpaarung CC-BY-SA-3.0 BY rupp.de/wikimedia commons (Quellenlink)   

Jedes Jahr infizieren sich in Deutschland rund eine Million Menschen mit multiresistenten Krankenhaus-Keimen / MRSA, gegen die kein Antibiotikum mehr hilft (siehe ARD-Doku „Operation gelungen – Patient tot“). Nach Schätzung der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene sterben daran ca. 40.000 Patienten. Falls wir Antibiotika in der Tier- und Menschenmast weiterhin so unbedarft einsetzen wie bisher, werden laut neuesten Berechnungen  demnächst mehr Menschen an multiresistenten Keimen sterben als an Krebs (siehe Spiegel). Laut dem „Review on Antimicrobial Resistance“ könnten bis 2050 weltweit zehn Millionen Menschen pro Jahr an nicht mehr behandelbaren Infektionen sterben. „Wenn wir das Problem nicht lösen, steuern wir auf Zeiten wie im Mittelalter zu. Viele Menschen werden sterben“, warnt der Ökonom Jim O’Neill, der die Recherchen zu dem Bericht leitete, gegenüber der BBC (siehe Bericht). Sogar die eisern in neoliberalen Traumgefilden schlafende CDU-Fraktion schlägt inzwischen Alarm.

Als ob diese Art von Infektionen noch nicht schrecklich genug wäre, naht sich uns eine noch viel abgründigere, wenngleich unsichtbare und daher wenig thematisierte Gefahr: Die innere Vermorschung bzw. der geistige Tod. Wenn man die derzeitige Sachlage einige Jahre in die Zukunft extrapoliert, dann wird diese Art des Todes wohl weitaus mehr Menschen dahinraffen als MRSA und die Pest im Mittelalter zusammen.

Eine Vorstufe zum geistigen Tod ist der soziale Tod, wenngleich, wie wir sogleich ausführen werden, der soziale Tod gleichzeitig eine große Chance ist, dem geistigen Tod zu entrinnen –insofern kann das Hartzer-Schicksal bei aller bekämpfenswerten Dramatik womöglich eine großartige Chance darstellen, um der endgültigen Auslöschung seines Menschseins zu entgehen.

Aber alles schön der Reihe nach. Im jüngsten Artikel des Eifelphilosophen (Der soziale Tod – Triumph der Elite, Wille der Regierung, Ende der Gerechtigkeit) wird bereits das drohende Schicksal des fernsehenden Reihenhaus-Sparschweinbürgers skizziert: der soziale Tod. Indem sich bei stagnierenden Haushaltseinkommen und gleichzeitig rasant steigenden Wohnungs- und Lebenshaltungskosten immer weniger Menschen, nicht nur Hartzer,  den Eintritt in eine Theater-, Konzert- oder Sporthalle leisten können – oft sprengt schon der Cafe- und Eissalonbesuch das Familienbudget -, verlieren sie den Anschluss an Kultur und Gesellschaft.

Ohne Zweifel ist das Herausdrängen aus der Kulturteilhabe bzw. die Gefahr des sozialen Tods etwas ungemein Schmerzvolles und zeugt von einem Totalversagen unseres Polit- und Wirtschaftssystems. Das soll jetzt nicht zynisch klingen, aber: Diejenigen, die sich Kulturteilhabe noch leisten können und aus dem Vollen schöpfen, befinden sich ohne dass sie es wissen, in noch viel größerer Gefahr – der Gefahr, dem geistigen Tod bzw. einer Art innerer Vermorschung entgegenzugehen. Denn war die Teilhabe an der herrschenden Kultur in früheren Zeitepochen i.d.R. der Garant und Wegweiser für eine angemessene menschliche Entwicklung, so ist es heute andersrum: Kultur muss individuell begründet werden. Schwimmt man nur mit dem mit, was einem von außen als „Kulturleben“ zugefüttert wird, dann wird man von einem Vakuum angesaugt, geht man langsam aber sicher unter und erleidet eine Art inneren Erfrierungstod (heute salopp als „Burn-out“ bezeichnet – was zunächst flammend und heldenhaft klingt, aber schon bei wörtlicher Interpretation zeigt, dass dieser Zustand gar nichts Flammendes oder Wärmehaftes mehr in sich hat, sondern eben: „Flamme-aus“, also: Kälte).

Die Sache ist leider umso tückischer als diesem geistigen Erfrierungstod jede Menge feuriger Eruptionen und Emotionsfeuerwerke vorangehen, die den Eindruck von wohliger Wärme und Vitalität erwecken. Da diese jedoch den Menschen in Wirklichkeit leer ausgehen lassen, muss die Dosis ständig gesteigert und noch mehr Treibstoff verbrannt werden. Der Designer Ken Garland bringt es auf den Punkt: „Unsere Überflussgesellschaft hat einen Punkt der Sättigung erreicht, an dem der schrille Schrei der Konsumpropaganda nichts weiter ist als bloßer Lärm.“  

Auch wenn das unmittelbare Schicksal hart erscheint: Wer in die Einkaufs- und Wellnesstempel dieser Überflussgesellschaft nicht mehr eintreten kann, sondern notgedrungen daheimbleiben und sich mit karger, aber substanzieller und vitaminreicher Diät in Form von klassischer Philosophie zufriedengeben muss – Marc Aurel, Seneca und Goethe gibt’s beim Trödler schon ab € 1.-, also zum Gegenwert einer Vanilleeiskugel, und der Kenner kann ein ganzes Jahr von einem einzigen solchen Büchlein zehren -, der hat die Chance, die heranrollende kulturelle Pestepidemie zu überstehen und geistig gesund zu bleiben (sofern er auch das Ernährungs- und Heizungsproblem löst, ich weiß).

Ein Hartzer in der Eifel oder im Schwarzwald hat also womöglich weitaus bessere Überlebenschancen, um die kommende geistige Pandemie zu überstehen als ein urbaner Karrierist im SUV. Man nehme nur den Eifelphilosophen: Wäre er nicht geharzt worden, dann triebe er weiterhin in wortmächtiger und überzeugungskräftiger Weise für einen Pharmakonzern sein Unwesen, der aktuell mit Monsanto fusionieren will (demnächst vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt / siehe Netzfauen.org). So aber nutzt er seine Wortmacht und Intelligenz nun dazu, um gerade denjenigen aufgeblasenen Gummikrokodilen einen Stich zu verpassen, denen er früher gedient hat – und hilft damit unzähligen Menschen, in einer zunehmend vergletscherten Gesellschaft nicht an sich zu zweifeln, sondern dem zur Normalität erklärten Wahnsinn die Stirn zu bieten (Hallo Eifel, möchte deinen guten Namen hier nicht verhunzen, aber du bist da einfach ein Paradebeispiel).

Viktor Frankl denkt die aktuelle Situation zu Ende und spricht vom „existenziellen Vakuum“ als größter Herausforderung unserer Zeit:

„Fragen wir uns doch nur, was das Resultat wäre, wenn ein menschliches Wesen sämtliche Bedürfnisse, die es im Zeitquerschnitt haben mag, voll befriedigen vermöchte – was wäre das Resultat: das Erlebnis der Erfüllung? Oder vielmehr das Gegenteil, nämlich die Erfahrung einer abgründigen Langeweile – einer bodenlosen Leere – eben des existenziellen Vakuums? Mit diesem Vakuum werden wir Neurologen ja alltäglich und sprechstündlich konfrontiert …“

Gleichzeitig weist Frankl auch auf den goldenen Mittelweg hin, der gelungenes Leben ermöglicht (und den er zwischen den beiden ebenfalls in uns immanenten Tendenzen nach bloßer Macht und nach bloßer Lust lokalisiert): die Ergründung – und schließlich das aktive Schaffen – von immer mehr Sinn.

 „Aber der ‚Mensch auf der Suche nach Sinn‘ wird unter den gesellschaftlichen Bedingungen von heute eigentlich nur frustriert! Und das rührt daher, dass die Wohlstandsgesellschaft bzw. der Wohlfahrtsstaat praktisch alle Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen imstande ist, ja, einzelne Bedürfnisse werden von der Konsumgesellschaft überhaupt erst erzeugt. Nur ein Bedürfnis geht leer aus, und das ist das Sinnbedürfnis des Menschen – das ist sein „Wille zum Sinn“, wie ich ihn nenne, das heißt, das dem Menschen zutiefst innewohnende Bedürfnis, in seinem Leben oder vielleicht besser gesagt in jeder einzelnen Lebenssituation einen Sinn zu finden – und hinzugehen und ihn zu erfüllen.“

Wird der Sinn des Lebens und des Menschseins geleugnet und werden Mensch und Welt nur als geistlose, kommerziell verwertbare Kohlenstoffhaufen angesehen, so wie dies derzeit in Schulen und Universitäten de facto gelehrt wird, dann gerät der Mensch in innere Verzweiflung.

Aktuell konstatiert Regisseur David Schalko „Perversion als letzten Ausdruck der inneren Verzweiflung“. Plattformen und Übertragungsstätten der inneren Verzweiflung sind nicht nur unsere urbanen Kulturstätten, Arbeitsplätze und Medien, sondern zunehmend auch unsere Bildungsseinrichtungen und Universitäten. In einem jüngsten Interview beklagt der Jenaer Soziologie-Professor Hartmut  Rosa unter Verweis auf die stark zunehmenden Burn-out-Raten und Angsterkrankungen schon unter Studenten, dass die Universität immer mehr zu einer „Entfremdungszone“ werde.  Jede Nacht wachten in unserer beschleunigten, spätkapitalistischen westlichen Welt mehr Menschen schweißgebadet auf als in totalitären Regimen (Quelle: Zeit).

Natürlich wäre es nun keine Lösung, sich von allen diesen entfremdeten Orten gesellschaftlichen Geschehens fernzuhalten. Im Gegenteil, es geht darum, mutig und gut gerüstet mit Humor in diese Räume einzutreten und sie wieder in menschengerechte Lebensumfelder zu verwandeln.

Zurück aber zu unserem eigentlichen Thema, dem drohenden geistigen Tod. Um an die Wurzeln des Virus zu gelangen, der zu dieser Art Tod führt, müssten wir weiter ausholen. Da das Hamsterrad, in dem ich selbst laufe, mir dazu gerade nicht genug Atem lässt, müssen wir ein andernmal darauf zurückkommen. Die nachfolgenden Streiflichter sind in Wirklichkeit vollkommen unwichtige Randerscheinungen, eigentlich gar nicht wert, sie zu erwähnen. Niemand möge sich daher an den Beispielen festbeißen. Sie sind nur oberflächliche Symptome und womöglich sogar autoimmune Heilungsversuche und Rettungsschreie eines zutiefst kranken und daher fiebernden menschlichen Organismus. Wem die Beispiele dekadent vorkommen, dem sei gesagt: Das ist noch gar nichts. Gegen das, was noch auf uns zukommt, sind das nur humoreske Kinkerlitzchen, quasi nur das Wetterleuchten eines Hurrikans, der sich noch hinter dem Horizont verbirgt. So ähnlich wie eine tödliche Infektion sich zunächst als leichte Kopfschmerzen oder Magenkrämpfe äußern kann. Trotz ihres Seifenblasen-Charakters können besagte Symptome aber als erste Annäherung an den eigentlichen Leviathan dienen, der unsere Gesellschaft derzeit durchlöchert wie ein Bandwurm einen Schweizer Käse.

Nachdem Politik und Wissenschaft sich bisher als vollkommen unfähig erwiesen haben, diesen aalglatten und obendrein unsichtbaren Bandwurm zu erfassen, bleibt uns als Barometer des Zeitgeschehens wieder einmal nur die Kunst. Noch der griechische Mensch fühlte sich nur deshalb gesund, weil er regelmäßig durch Kunst und Drama eine Katharsis, eine innere Reinigung erfuhr und sich ihm während des Schauspiels die Perspektive auf begeisternde menschliche Ideale eröffnete. Obwohl sich unsere Kunstszene längst von diesen ihren eigentlichen Möglichkeiten verabschiedet hat (bereits 1972 konstatierte der Nobelpreisträger Oktavio Paz das „Ende der Kunst“), so ist die Funktion der Kunst heute zumindest die eines präzisen Spiegels des herrschenden Zeitgeistes.

Was spiegelt uns also aktuell die Kunst? Auf der Documenta in Kassel, der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, erfährt man etwa von der früheren künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev (vom Magazin „ArtReview“ zur einflussreichsten Person im internationalen Kunstbetrieb gewählt): „Ich habe kein Konzept.“ – setzt jedoch nach, dass die Documenta immerhin eine „Choreographie“ habe: „Sie ist unharmonisch und frenetisch“; außerdem: „Ich halte Verwirrung für eine sehr gesunde Position.“

Vor einigen Jahren habe ich aus dem Kulturteil einer Tageszeitung folgenden Artikel der Kunstjournalistin Andrea Heinz herausgerissen, weil ich ihn als Kunstliebhaber so ungemein treffend fand:  „Überhaupt scheinen es in dieser zeitgenössischen ‚Crossover-Kunst‘ Selbstbezogenheit und der Rückzug auf das Ich zu sein, die aus der Auseinandersetzung mit der Umwelt resultieren. Die klassische Dreieinigkeit vom Schönen-Wahren-Guten ist ohnehin passe, es geht jetzt maximal um individuelle Wahrheiten. […]  es ist, wenn man so will, die Kunst der Krise. Es sind Kunst-Fluchten, die sich die hochqualifizierte und -gezüchtete Kunstelite von morgen erschafft.“

Der Artikel stammt aus 2011. Inzwischen ist wieder einiges Wasser den Bach hinuntergeflossen und der Kessel, in dem wir sitzen, um ein paar weitere Grad Celsius erhitzt worden. Als ich vorgestern das Programm einer der international anerkanntesten, seit 1927 etablierten Kunstveranstaltungen, der „Wiener Festwochen“ las, wehte mir bereits ein ganz anderer Wind entgegen. Folgender Bericht findet sich dazu als oberster  Leitartikel der Tagesnachrichten im österreichischen Rundfunk ORF (Anliegen der Wiener Festwochen ist es lt. Wikipedia, „Kulturereignisse selbst zu schaffen oder mitzugestalten, die höchstes künstlerisches Niveau mit gesellschaftsrelevanten Inhalten und Zielen verbinden“. Sie verstehen sich als „Angebot zur Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Welten“; ebenso besitzt der ORF einen gesetzlich verankerten Bildungsauftrag). Highlight der Festwochen  ist diesmal eine Inszenierung des Regisseurs Jan Fabre „Mount Olympus“ (siehe Volltext mit Bildern auf orf.at):

„…Diese Akkuratesse braucht es auch, wenn auf der Bühne gekotzt wird, wenn Frauen stehend in Glasgefäße urinieren, Pornoszenen nachgestellt werden und 20 Personen wild um sich schlagen, kreischen und schluchzen, wenn rohes Fleisch und Eingeweide geworfen werden, wenn echtes menschliches Blut fließt … Denn 24 Stunden Chaos – das würde rasch langweilig. Es braucht also eine strenge Dramaturgie – und höchste Konzentration.

… 24 Stunden, in denen Fabre sein Publikum gemeinsam mit den Darstellern immer weiter bergab führt in die Untiefen des Unbewussten, wo Tagesreste, Ängste, Begierden und Traumfetzen einen wabernden Morast bilden.

… Dem Zuschauer wird gleich zu Beginn empfohlen, sich auf das Geschehen einzulassen und dabei nicht rational zu denken. Den körperlichen Einstieg macht Regisseur Fabre leicht: Während einer Drum-and-Bass-Nummer mit halbnackt twerkenden Darstellern fahren einem die Beats in alle Glieder. Ein überdrehter Dionysos schüttelt als „Master of Ceremony“ die üppig vorhandenen Speckfalten und verspricht, den ganzen Saal in den Wahnsinn zu treiben.

… Im Laufe der Nacht stellte sich, wie geplant, kollektive Trance ein, die sich im Lauf des Sonntags noch steigerte. Langsame, behutsame Bewegungen im Zuschauerraum, eine eingeschworene Community bildete sich hinter, auf und vor der Bühne. Es breitete sich ein wohliges Gefühl der Verbundenheit aus. Ein Erfahrungsraum war geöffnet, in dem nichts obszön wirkte oder flach. Jetzt hatte Fabre das Publikum dort, wo er es wollte, und konnte sein Bestiarium in all seiner Brutalität, Geilheit, Verzweiflung und Lächerlichkeit vorführen.

… Das Publikum dankte dem Regisseur und den Darstellern für diese intensiven Erfahrungen mit einem intensiven 15-minütigen Applaus.

… Fabre teilt seine körperliche Interpretation dessen, was dem menschlichen Handeln zugrunde liegt: Status wollen. Bestimmen wollen. Und gleichzeitig: alle Zügel fahren lassen wollen, mit jedem ficken wollen, vor Schmerz losschreien wollen, jemandem die Gedärme herausreißen wollen, mit dem man eine Rechnung offen hat. Er zeigt das ganze Spektrum des Scheiterns und Reüssierens in einer Welt, die nur vermeintlich auf Vernunft aufgebaut ist.“

Fabre drückt durch seine Kunst in Wirklichkeit exakt das Gleiche aus, was heute auch von streng wissenschaftlicher Seite konstatiert wird: Dass der Mensch nur ein geistloser, nervendurchzuckter Kohlenstoffhaufen, ergo alles Wurst und daher nach Willkür des Geschäftstüchtigen verwertbar ist. Laut neuester Erkenntnis der Biotechnologen (unwiderlegbar ersichtlich im Rasterelektronenmikroskop) ist der Mensch nur eine Art Ratte (siehe Nachrichtenspiegel: Rat Race and Rape Culure Club Köln). Mit einem Wort: Die humanistische und grundgesetzlich verankerte Auffassung, dass der Mensch eine Würde und damit ein Schutzbedürfnis besitzt, befindet sich in akuter Erosion. Der entsprechende Paragraph des Grundgesetzes wird im Falle einer vollendeten Durchsetzung des technokratisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes womöglich nicht mehr lange haltbar sein. Und während wir heute nur Ratte spielen und uns auf Festspielen am Rattenleben ergötzen, so werden die Kinder, denen wir beibringen, dass der Mensch nur eine etwas raffiniertere Ratte ist, schon bald beginnen, mit dieser Weltanschauung Ernst zu machen und auch ihr gemäß zu leben.

Um sich auf diese neue Realität einzustimmen, bedarf es einer fachmännischen Konditionierung und Taktung des Bürgers. Regisseur Fabre macht uns den Gefallen, dass er in einem Interview ausspricht, wie diese Konditionierung abläuft (im täglichen Fernsehprogramm, mit dem der Bürger allabendlich abgefüllt wird, läuft übrigens exakt dieselbe Konditionierung ab, ohne dass es ausdrücklich erklärt wird; womit auch selbstredend klar ist, dass diejenigen Ausgebooteten und Harzer, die ihre Ausgrenzung von der kulturellen Teilhabe nicht für die Lektüre von Marc Aurel & Co. nutzen, sondern für „Fernsehen“, in keiner Weise vor der kommenden Pandemie bzw. dem geistigen Tod geschützt sind):

>> In „Mount Olympus“ will er … eine Art programmierter Überforderung erzeugen, das betrifft sowohl Publikum als auch Ensemble. „Es ist sehr, sehr fordernd für alle Beteiligten. Nach jeder Vorstellung sind wir für ungefähr eine Woche völlig aus dem Takt. Die biologische Uhr ist völlig durcheinander.“ Er habe schon oft von Zuschauern gehört, dass sich im Laufe der Performance die Perspektiven verschieben: Wenn man zwischendurch hinausgeht und zurückkommt, empfinde man die Vorstellung als Realität.<<

Ich blättere weiter im Kulturteil der Nachrichten und stoße auf ein Megakonzert, das letzten Donnerstag trotz miserablem Wetter 50.000 Menschen in ein Fußballstadion der Festspielstadt lockte: Die Rockband AC/DC gab ein Stelldichein. Da man heute gesteinigt wird, wenn man gegenüber Rockheiligenikonen wie Angus Young & Co. nicht bedingungslose Wertschätzung bezeugt, vorneweg mein Disclaimer: Es geht mir überhaupt nicht um AC/DC oder sonst irgendeine bestimmte Band,  die AC/DC Leute haben sich für ihre Verdienste als Bahnbrecher des Heavy Metal nach ihrem Ableben  wohl zweifellos den Eintritt in den siebenten Hardrockhimmel gesichert. Auch die Motive der unzähligen Fans, die in solche Konzerte strömen, kann ich vollständig nachvollziehen. In einer Arbeits- und Alltagswelt, die inzwischen trotz Dauerbespaßung weitgehend unlustig geworden ist, sind Gelegenheiten, sich den Dynamoeffekt und die 100.000 Volt Hochspannung eines Konzertkessels zunutze zu machen um die vergletscherte Kruste des schnöden technokratischen Alltagsfaschismus zumindest kurzfristig zu sprengen, natürlich sehr willkommen.

Der Name der stadionfüllenden Band sei an dieser Stelle also vollkommen egal, es gibt deren unzählige für jeden Geschmack. Es soll damit nur ein weiteres, in Wirklichkeit vollkommen nebensächliches Kultur-Streiflicht angeführt sein, man könnte sicher dasselbe Szenario anhand eines Konzertes von Madonna, den Stones oder Bushido berichten. Auch in einem Bierzelt mit Heino, den Original Fidelen Uasprung Spatzen Brunnzer Buahm oder sonstigen Globetrottern  könnte man im Prinzip genau dasselbe gespiegelt finden wie beim jüngsten AC/DC Konzert. Ein Ausschnitt dazu aus dem Konzertbericht des öffentlichen Rundfunks (siehe orf.at):

„Teufelshörner dominierten nicht nur die bombastische Bühne mit den zwei Videowalls. Man möchte jene Person sein, die den Gewinn des Verkaufs von Plastikteufelshörnchen an diesem Abend einstreifen durfte. Das ganze fast restlos gefüllte Stadion blinkte und leuchtete rot. (…)

„If You Want Blood You’ve Got It“ („Highway to Hell“, 1979) – die Bühne wurde rot beleuchtet, das Blut war allerorten in Wallung, vor allem bei Angus Young. Er schüttelte seine letzten Locken und war in seiner Angus-Young-Trance, der Mund beim Gitarrespielen weit offen. Rose und er interagierten auf der Bühne nicht wirklich. Hier war jeder in seinem eigenen Film der Hauptdarsteller. Die Bühne war groß. Da war Platz für zwei Egos, selbst von dieser Dimension (…)

Das Publikum war bester Laune und jubelte frenetisch mit (…) „I gonna take ya to hell“ – und jeder wollte sich allzu gerne mitnehmen lassen. Angus Young führte die Pilgerschar Richtung Hölle im Trippelschritt an (…)

Angus Young stellte seine Ohren auf und bekam, was er wollte: ein lautes Liebesgrölen von 50.000 Menschen, die sich gerade sehr wild und sehr böse fühlten und jede Menge Spaß dabei hatten.

Auch der FM4-Redakteur Boris Jordan war live dabei. Am Ende seines im Wesentlichen gleichlautenden Konzertberichts zieht er sein persönliches Resümee: „Irgendwie hat das dann etwas von einer selbstvergrößernden, lebenströstenden Macht, einem unernsten Stück Scheißegal-Zuversicht, das man nicht ohne weiteres überall bekommt.“

So wie im Leben nie etwas umsonst ist und man überall etwas Nützliches lernen kann, hatte ich spätestens hier ein Aha-Erlebnis. Vielleicht ist ja gerade das das missing link, das uns Philosophen fehlt, damit wir nicht zu sauertöpfisch werden: ein unernstes Stück Scheißegal-Zuversicht. Angesichts der momentanen Weltlage gehört diese Ingredienz eigentlich in jeden Wanderrucksack, oder noch besser: als App aufs Smartphone.  Auch unseren Kindern würde solch ein unernstes Stück Scheißegal-Zuversicht womöglich nicht schaden, man könnte z.B. den unnützen Bastelunterricht streichen und stattdessen eine Stunde Hardrock mit Headbangen einführen.

So, genug für heute, es ist schon dunkel. Höchste Zeit, dass ich meine Enten einsperre, bevor der Marder kommt. Überhaupt werde ich auf meine Enten dieses Jahr gut aufpassen und ihnen reichlich frisches Wasser bereitstellen müssen. Die alljährliche Nacktschneckeninvasion beginnt wieder. Letztes Jahr habe ich im Sommer die Hälfte meiner Jungenten verloren. Die Tiere hatten einen solch unbändigen Appetit auf Nacktschnecken, dass sie den Hals nicht voll davon kriegen konnten. Sie sind an den schleimigen Kriechtieren elend erstickt.

 

Was wir heute brauchen wie ein Loch im Knie: „Bodenständige“ Politiker im Maulwurfspelz und AFX-Parteien

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Foto:[Copyrighted free use] v. Sir Boris, Quelle   

Die Gänsehaut steht dem Politologen Philipp Ruch noch am Rücken wie nach einer Geisterbahnfahrt durch ein Mumienkabinett:

„Ich war kürzlich wieder im Bundestag – das war grausam, ein Armutszeugnis. Wer den Nährboden für Kleingeistigkeit sucht, sollte genau dorthin gehen. Die Mitglieder der Bundesregierung sind Verwalter des Status quo. Keiner von denen ist es gewohnt, unkonventionell zu denken oder seine Fantasie anzuschmeißen. Keiner von denen hat eine Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen könnte. […] Die derzeitige politische Führung ist die reinste Provokation. Diese Gleichgültigkeit im Land ist grauenvoll und gefährlich. […] Aber unsere Politiker verteilen Schlaftabletten.“ (Interview in Telepolis, 07.01.2016)

Peter Sloterdijk hat dazu einen weniger emotionalen, sondern mehr philosophischen Zugang. Wir leben, so Sloterdijk, längst in einer „Lethargokratie“ – „Wo Politik war, wird betreutes Dahindämmern“ (siehe Handelsblatt). Auch Merkel kommt in seiner Betrachtung nicht gut weg – er bezeichnet sie wenig schmeichelhaft als „Hohlraumfigur“.  Während Sloterdijk den „Lügenäther heute so dicht wie zu Zeiten des Kalten Krieges“ einschätzt, hält er hingegen den EU Kommissionspräsidenten  Jean-Claude Juncker mit seinem Ausspruch „Wenn es ernst wird, musst du lügen“ durchaus für keinen Zyniker: „Juncker ist kein Zyniker. Er ist ein redlicher Arbeiter in der wahrheitslosen Sphäre, die man Politik nennt. Insofern fast ein Journalist.“

Mit einem Wort also: In besagter wahrheitsloser Sphäre der Politik haben heute Pragmatiker das Sagen. Sie wollen die fernsehenden Bürger mit noch mehr Wohlschand und Wirtschaftwachsdumm beglücken, obwohl uns diese Schande und Dummheit bereits in jeder Hinsicht an den Rand des Abgrunds gebracht haben. Aber macht nichts, die Losung lautet: Wir brauchen einfach nur noch mehr davon, dann wird’s schon wieder aufwärts gehen. So wie es auch Donald Trump verspricht, der robuste Unternehmer, der weiß wie man sich in einem Krokodilteich das Recht des Stärkeren zunutze macht und der „America great again“ machen will.

Was ist übrigens so „great“ am American Lifestyle? Nicht einmal die Chefapologeten wissen es so richtig. In seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ spricht US Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski vom „nicht genauer bestimmbaren, aber erheblichen kulturellen Reiz des american way of life“, den er neben „der Fähigkeit, riesige wirtschaftliche und technologische Ressourcen umgehend für militärische Zwecke einzusetzen“ als die beiden Hauptfaktoren bezeichnete, auf der „Amerikas imperiale Macht beruht“.

Nachdem der frenetische Applaus, den Trump für sein Wahlversprechen erntet, verebbt ist, kommen dem ein oder anderen vielleicht auch die Worte von Christian Morgenstern in den Sinn:

„Wozu, so fragt man sich, Reichtum, Wohlstand, Macht,
wenn alles dies den Menschen nur verflacht?“

Und in der Tat ist die frühere Begeisterung über den American Way of Life bei den meisten Menschen, inklusive den Amerikanern selbst, mittlerweile stark abgeflacht. Ernüchterung, sogar Untergangsstimmung hat sich breitgemacht, auch wenn es nicht jedermann so radikal formuliert wie  Georges Clemenceau: „Amerika – das ist die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne den Umweg über die Kultur“.

Aber wir brauchen gar nicht zu unseren transatlantischen Freunden gucken, vor unserer eigenen Tür gibt es genauso viel zu kehren. Unsere TTIP Politiker haben inzwischen den gleichen rosa Hasen im Programm, den sie auf der Showbühne medienwirksam aus dem Zauberhut ziehen: ein frisch geföhntes, strahlrosa Vieh mit Duracell-Batterien im Hintern, LED-Blinklichtern in den Augen und Bluetooth-Stöpseln in den Ohren, das solange blind im Takt trommelt bis die Batterien alle sind – ein Synonym quasi für den uniformen, leistungsbereiten Wettbewerbsbürger, wie er heute en masse an den Schulen und Unis gezüchtet wird (siehe Züchtung zum Axolotl-Bürger).

„Visionen? Wer Visionen hat, braucht einen Arzt!“, meinte schon Altbundeskanzler Schmidt auf die naive Frage der Jugend nach menschengerechten politischen Perspektiven. Er erntete damit ebensolch sattes Gelächter wie Berlusconi, als er in einer TV-Show einer verzweifelten jungen Italienerin die Frage beantwortete, wie sie als working poor ihre Existenz bestreiten solle. Der Cavaliere schmunzelnd: „Nun, Sie könnten doch einen der Söhne Berlusconis heiraten.“

Unsere Politiker geben sich stattdessen gerne als Pragmatiker, als Realos – als „bodenständig“ … dabei ist der Stand bzw. das Menschenbild, das sie haben, bereits so unterirdisch und sub-zero, dass man nicht einmal mehr ihre Ohrenspitzen aus dem Boden herausragen sieht.

Aber da der Wähler bisher mit Vorliebe solch „bodenständigen“ Typen das Mandat gegeben hat, haben wir heute die groteske Situation, dass unsere Parlamente randvoll besetzt sind mit Personen, die die Welt aus einer Maulwurfsperspektive betrachten. Und es ist eben eine dunkle und feuchte Welt, in der es darum geht, sich durch die Erde zu graben und nach Würmern zu schürfen. Nicht, dass diese Weltsicht falsch wäre – aus der Sicht eines Maulwurfs ist sie die einzig richtige Realität. Und der Maulwurf kann auch gar nicht anders, als dieser Realität gemäß zu handeln. Auch liegt es in seiner Natur, jede darüber hinausgehende Realität zu leugnen. Wenn man ihm erzählte, dass es da oben noch eine ganz andere Welt gibt, mit Sonne, Sternen, Regenbögen, Blitzen und Hurrikans – der Maulwurf würde das große Zittern bekommen und vor Aufregung in die Nähe eines Herzinfarkts geraten. Schon alleine die Vorstellung, dass seine ans Dunkel gewöhnten Augen der strahlenden Sonne ausgesetzt werden, bereitet ihm Schmerz. Er muss eine solche Realität also schon aus reinem Selbstschutz abwehren.

Das Problem ist nur: Indem die Maulwürfe die Maulwurfsrealität zur einzig gültigen und möglichen Realität erklären, bleibt diese auch für den Rest der Bevölkerung alternativlos.

Da jedoch der Großteil von uns Zweibeinern in Wirklichkeit gar nicht der Spezies der Maulwürfe zugehörig ist, man uns aber trotzdem ein Dahinvegetieren in einer lichtlosen und kalten Umgebung aufnötigt, verwundert es nicht, dass mittlerweile Vitamin-D-Mangel und seelischer Rheumatismus epidemisch zunehmen und wir in dieser vermeintlich alternativlosen Welt zugrunde zu gehen drohen. So werden Depressionen lt. WHO-Statistik innerhalb der nächsten 15 Jahre die Volkskrankheit Nr.1 sein (siehe Ärztezeitung).

„We have elections, but we have no choice“, schrien wütende junge Menschen seinerzeit während der Unruhen in den Vororten von Paris in die Kameras – sie hatten damals die Wahl zwischen Nicolas Sarkozy und Segolene Royal, Kandidaten verschiedener Parteien, aber Absolventen der gleichen Schulen und Universitäten, also aus denselben ideologischen Kaderschmieden kommend. Eine akademische Schicht, von der Noam Chomsky sagt, dass sie „deeply indoctrinated“ (zu deutsch: zutiefst gehirngewaschen) ist.

In der Tat ist es in unserem Zeitalter der Postdemokratie relativ einerlei, welche drei Buchstaben eine Partei trägt. Da alle Köpfe dieser Parteien vom Förderband desselben Schul- und Universitätssystems gelaufen sind und daher im gleichen (szientistisch-technokratisch-nihilistischen) Takt ticken, ist es auch relativ bedeutungslos, welche Partei gerade an der Macht ist – nach kurzer Zeit wird auch eine neugewählte Partei „auf Linie“ sein und nur noch ökonomische Direktiven ausführen, egal ob sie sich AFD, AFX, oder SOS nennt.

Dass hinter der „AFD“ übrigens nichts anderes wartet als ein knallhartes neoliberales Programm, hat der Eifelphilosoph ja schon kurz abgehandelt (siehe AfD – Alternative für Deutschland?). Die übliche transatlantisch verkrückte Melange mit Aussicht auf mehr Effizienz, schärferen Wettbewerb und „vernünftiges“ Wirtschaften – überaus verlockende Worthülsen also,  mit denen auch die FDP unter dem kürzlich abgeschiedenen Guido Westerwelle zumindest kurzfristig reüssieren und satte Wahlergebnisse einfahren konnte, bevor dann die Maulwurfsmilch ranzig wurde und sich die Wähler wieder ernüchtert an dem Ort wiederfanden, den sie ohnehin schon gewohnt waren: im Bockshorn.

In Wirklichkeit brauchen wir keine strukturellen/wirtschaftlichen/technokratischen Verbesserungsvorschläge, sondern eine grundlegend andere Sicht von Welt, Mensch und dem Sinn unseres Daseins im Sinne von Platons Höhlengleichnis (das heute übrigens im Schulunterricht geflissentlich verschwiegen wird). Solange ein Politiker das nicht als Motiv hat, sondern nur so tickt, wie er vom Förderband von Schule und Uni gelaufen ist – szientistisch-technokratisch-nihilistisch eben, ist das was er bringt, vollständig für die Katz‘.  Sogar der Strom fürs Mikrophon und die Beleuchtung, mit dem die Frauken und Manneken solcher Parteien in Szene gesetzt werden und mit dem sie ihre technokratischen Verschlimmbesserungen in den Raum trompeten, ist reine Verschwendung. Ebenso die Tonnen an giftiger Druckerfarbe, mit der man die Litfasssäulen unserer Städte mit den Konterfeis besagter Frauken und Manneken zukleistert.

Solche „bodenständigen“ Politiker brauchen wir heute in Wirklichkeit genauso wie einen 35. Maulwurf in einem Garten, in dem bereits 34 andere Maulwürfe am Werk sind, um den Radieschen die Wurzeln abzufressen.

31 Steve Geshwister_Im Wahlkreisbüro

Bild: „Zu Besuch im Wahlkreisbüro“ von Steve Geshwister (Quelle)

Ich habe daher schon zuletzt vorgeschlagen, dass die großen Parteien ihre heiße Luft lieber dem Fernwärmeheizwerk spendieren und sich stattdessen das Talent von Steve Geshwister, dem Zeichner des obigen Bildes (siehe auch: Galerie) zunutze machen sollten. Er hat die geniale Gabe, dasjenige darzustellen, zu was man die menschliche Realität heute reduziert hat: zu bloßer Wirtschaftlichkeit bzw. was das ganze Drumherum heute ist: nur noch eine hohle Phrase.

Würden wir statt der heuchlerischen Imagewahlwerbung flächendeckend die Cartoons von Steve Geshwister plakatieren, dann wäre endlich einmal das Bekenntnis am Tisch, was denn eigentlich noch der Inhalt all unserer hochtrabenden Phrasen ist: nämlich nackte Wirtschaftlichkeit.

Dann könnten wir endlich neu anfangen und am Aufbau einer wirklich humanen Gesellschaft, an der Verwirklichung von Sinn etc. zu arbeiten. Solange dieses Eingeständnis jedoch nicht am Tisch ist (dass wir unsere Intelligenz für bloße Bedürfnisbefriedigung prostituieren, wie es die Ratte übrigens auch ganz ohne den Luxus menschlicher Intelligenz und Freiheit, sondern rein aus ihrem Instinkt schafft), solange wird es weiter abwärts gehen und die Zustände werden immer unerträglicher werden.

Wenn wir das Malheur, in dem wir heute stecken, rein menschheitsgeschichtlich betrachten, dann braucht es keineswegs Anlass zu Resignation geben. Ganz im Gegenteil, dass alle Begriffe, die früher einmal Substanz hatten, heute leer und zur Farce geworden sind, musste unweigerlich so kommen. Denn nur indem unsere Kultur vollkommen leer von allem geworden ist, was früher einmal Bedeutung hatte, ist nun der notwendige Platz vorhanden, der mit einer ganz neuen Art von Humanität und Sinnhaftigkeit gefüllt werden kann, die dem eigentlichen Potenzial des Menschen entspricht.

Dass wir als Kinder des 20./21. Jahrhunderts uns nicht mehr der gleichen Illusion wie unsere Eltern und Großeltern hingeben können – dass dann, wenn wir uns ein Zweitauto, eine Waschmaschine und einen großen Farbfernseher erarbeiten, alles besser sein wird – ist zwar bitter, aber das ist eben unser Schicksal. Natürlich ist die Sehnsucht nach solchen Illusionen riesengroß – und wird nicht nur von der Politik, sondern auch von der Werbeindustrie weidlich ausgenützt, indem sie uns vorgaukelt, dass wir dieses und jenes Produkt unbedingt haben müssten, dann würden wir so grinseglücklich sein wie das Model im Werbespot. Wie gerne würden wir uns solchen Illusionen wie anno dazumal hingeben, als die Welt noch einfältig und saftig war und man auf vermeintlich festem Boden stehen konnte!

Um uns zumindest noch ein paar Jährchen in solch nostalgischen Gefühlen zu wiegen, sind wir sogar bereit, blechernen Pappkameraden wie Trump und Berlusconi das Steuerrad in die Hand zu geben. Die erzählen uns faustdicke und mittlerweile abgründig gefährliche Lügen, aber egal, man kann dank ihnen kurz nochmal die Augen vom Ernst der Stunde, die heute geschlagen hat, abwenden und ein bisschen dahindösen. In diesem Zusammenhang nennt Sloterdijk Angela Merkel auch deshalb eine Hohlraumfigur, „weil in ihr zahllose Menschen etwas von ihren Hoffnungen, ihren Ärgernissen, ihren Träumen, ihren Niederlagen, ihren Sorgen, ihren Müdigkeiten“ ablegen könnten.

Natürlich sind all diese Illusionen zum Platzen verurteilt wie Seifenblasen. Denn die Wahrheit ist: Der menschheitsgeschichtliche Frühling und Sommer sind vorbei, wir sind nun in die kalte Jahreszeit des Frostes (Herbst/Winter) eingetreten, in der die Vegetation, die früher üppig geblüht hat, sterben muss. So wie nächste Woche Ostern ist, könnte man sagen, dass das, was wir als Zeitzeugen und Akteure des 20./21. Jahrhunderts  miterleben dürfen, eigentlich ein einziges ausgedehntes Ostern ist: Eine Phase des Absterbens von allem, was früher einmal gehaltvoll und angemessen war, einhergehend mit der Möglichkeit eines Neuerstehens. Vermutlich ist das die entscheidendste Phase in der gesamten Geschichte überhaupt. Und wie die Geschichte ausgehen wird, ist keinesfalls festgeschrieben sondern liegt in der Freiheit jedes einzelnen. Es wird auch keine kollektive Entscheidung sein, sondern eine höchst individuelle, die jeder für sich treffen darf.

Zwei Wege stehen uns offen:

Wir können das tun, was uns die Trumps, Merkels & Maulwurfskollegen vorschlagen: alle Ressourcen einsetzen, um den faulen, morschen Baum unseres alten Systems noch einmal in Beton zu gießen, mit Stahlkonstruktionen zu stützen und zu mechatronisieren. Das wäre allerdings gleichbedeutend mit dem sicheren Untergang unserer gesamten Zivilisation.

Wir können aber auch die faule, morsche Substanz der sterbenden Kultur einfach als Humus benutzen, um darin ganz neue Keime zu setzen – und jeder von uns, der sich der Spezies homo sapiens zuzählt und nicht zu den Borgs, trägt einen ganz individuellen Keim in sich, den er nur ausfindig  machen und am richtigen Ort einsetzen muss. Er ist oft schwer zu finden, ich weiß. Meist wurde er durch Schule, Uni und Medien zugeschottert und zugeteert. Aber es gibt ihn, jeder von uns hat ihn und in Wirklichkeit ist dieser individuelle Keim unser Lebensatem. Wenn viele Menschen diesen individuellen Keim zum Leben bringen, dann könnte unser Globus mit einer neuen, wunderbaren Vegetation erfüllt werden. Die Welt könnte ein empathischer, lebenswerter Ort werden, in dem der Mensch nicht mehr dem Wahnsinn dient, sondern dem Sinn – wo er an sinnvollem Aufbau und an einer Entwicklung arbeitet, die auch allen anderen zugute kommt.

Damit dieser neue Keim zum Leben erwacht und sich entfaltet, muss er allerdings vorher durch eine Art Todesprozess gehen – er muss die alte Hülle, die ihn umgibt, auflösen. Nur dann ist der Umschlag zum neuen Leben möglich.

Mit Goethes Worten:

“Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und Werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.”

 

***

Ach ja, wie das Foto unten beweist, treiben da und dort ja schon einige Keime durch die eisige Kruste …

in diesem Sinne: Frohe Ostern! – der Schnee wird bald schmelzen.

31 Krokusse im März

Update – 20.März 2016:

31_Krokusse_update

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