Ein von der Todesgöttin Hel entfesselter dunkler Strudel steht am Firmament und will alles verschlingen (Marvel-„Thor: Ragnarok“ Offizieller Trailer/YouTube)
Künstler und Kreativschaffende hatten schon immer eine sehr feinsinnige Wahrnehmung für das, was sich als „Zeichen der Zeit“ gerade am Horizont abspielt, auch wenn dies für das Auge des fernsehenden Spiegelbildbürgers nicht direkt sichtbar ist. „Am Horizont leuchten die Zeichen der Zeit: Niedertracht und Raffsucht und Eitelkeit“, mit diesen Textzeilen fasste Reinhard Mey die Zeichen der Zeit schon vor einiger Zeit recht treffsicher in Worte (siehe „Das Narrenschiff“). Es waren allerdings noch vergleichsweise sozialromantische Zeiten, in denen Reinhard Mey diesen Text zimmerte. Inzwischen türmt sich am Himmel ein noch ungleich verheerenderes Zeichen auf, das alle bisherigen Zeichen in den Schatten stellt, alle Zukunftshoffnung zu ersticken droht und vermutlich die größte Herausforderung darstellt, vor der die Menschheit jemals gestanden hat – ein Zeichen, das von Kunstschaffenden wiederum relativ treffsicher aufgegriffen wird.
Noch niemals zuvor wurde in unseren Leitmedien mit solcher Leichtfertigkeit über die Möglichkeit eines nuklearen Erstschlags und über einen möglichen Schlagabtausch zwischen NATO und Russland, also über ein Game Over für uns alle, gesprochen. Doch selbst, wenn die Vernunft im gegenwärtigen Säbelrasseln die Oberhand behalten sollte und wir einem nuklearen Holocaust entgehen können, haben wir hundert Mittel an der Hand, uns trotzdem selbst den Garaus zu machen und uns ökologisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell, technologisch, pädagogisch, sexuell und allgemeinmenschlich zu zerstören. Unsere Politiker und ihre neoliberalen Apologeten sind scheinbar wie wild zum Wahnsinn entschlossen, den sie euphemistisch „Fortschritt“ nennen und den sie um jeden Preis auf Schiene bringen wollen, obwohl der Grand Canyon, in den diese Schiene führt, bereits in Sichtweite ist. Wer sich dem zur Normalität erklärten Wahnsinn verweigert, gilt als Fortschrittsverweigerer und Querfrontler. Wie der Eifelphilosoph in seinem letzten Artikel feststellt, wäre entschlossenes zivilgesellschaftliches Engagement jetzt dringend vonnöten, um das Schlimmste zu verhindern, aber dennoch: eine unbegreifliche Lethargie hält uns darnieder und möchte uns jede Hoffnung rauben. Burnout und Angststörungen grassieren und greifen inzwischen sogar nach unseren Kindern, laut WHO-Statistik wird Depression demnächst zur Volkskrankheit Nr.1 avancieren – und das, obwohl uns der rasende technische Fortschritt doch angeblich zu strahlenden Menschen machen sollte. Wie man auch an den Wahlergebnissen sieht, haben wir uns an diesen Alltagswahnsinn und die chronifizierte Dunkelheit bereits so gewöhnt, dass wir diese für normal und alternativlos halten (siehe „Über die Logik des Gänsebratens“).
Anstatt uns gegen die Bedrohung aufzuraffen, scheint nun sogar eine gewisse Lust am Niedergang Platz zu greifen, die man nicht nur in den führenden Kulturevents zelebriert (siehe „Kulturtod 4.0“). Es ist nur allzu verständlich, dass wir uns lieber mit unterhaltsameren Dingen beschäftigen würden. Und ich weiß, dass es eine Zumutung ist, auf innere Realitäten hinzuweisen, wenn man sich sogar den äußerlich sichtbaren Realitäten beharrlich verweigert. Aber da 2017 unsere eigentlich stets um Entwarnung bemühten Wissenschaftler die ‚Doomsday Clock‘ (siehe „Bulletin of the Atomic Scientists„) um weitere 30 Sekunden vorstellen mussten und diese Uhr nun auf zweieinhalb Minuten vor Mitternacht – d.h. der symbolischen Apokalypse – steht, täten wir eventuell gut daran, zumindest für ein paar Augenblicke einmal den Blick auf diejenige dunkle Seite in unserem Wesen hinzulenken, die sich leider nicht nur bei Putin oder Trump verorten lässt, sondern die in jedem einzelnen von uns schlummert. Der feinsinnige UN Generalsekretär Dag Hammarskjöld spricht in seinem Tagebuch von einem „düsteren Kontrapunkt des Bösen, der in unserem Wesen, ja, von unserem Wesen, doch nicht unser Wesen ist“ und dass „etwas in uns die Katastrophe begrüßt und das Unglück sogar für die bejaht, zu denen wir halten“. Da wir diesen Teil in uns nicht im Auge behalten, sondern ihm vollkommen freie Zügel gelassen haben, hat er sich nun nach außen projiziert, verdunkelt den Himmel und versorgt uns mit pechschweren Regenschauern, die jeden Ansatz von Konstruktivität zunichte machen wollen und alles zu ersticken drohen.
Zurück aber zum Film. Man mag der kunstschaffenden Avantgarde vorwerfen, dass sie heute in vielerlei Hinsicht exzentrisch, kommerzialisiert, dekadent und sonstiges sei, aber eines muss man den Kreativschaffenden unbedingt lassen: Sie haben ein geradezu geniales Gespür für das, was momentan „in der Luft liegt“, thematisieren in ihren bildenden oder filmischen Werken also stets brandaktuelle Themen. Und genauso wie sich laut einer Umfrage inzwischen viele Bürger von Satireprogrammen wie Anstalt & Co. besser über das Zeitgeschehen informiert fühlen als durch die offiziellen Leitmedien, so kann man auch anhand von dem, was gerade filmisch inszeniert wird, ungemein Wichtiges über die globale Großwetterlage erfahren.
„Wer etwas über das Leben lernen will, muss ins Kino gehen“, meinte schon Kafka, der selbst ein passionierter Kinogeher war. Aktuell werden wir wieder aufgefordert, ins Kino zu gehen: „Thor: Tag der Entscheidung“ scheint einer der größten Kassenschlager aller Zeiten zu werden. In dem gestern in den Kinos angelaufenen Marvel-Epos sieht man den sonnenhaften Göttersohn Thor im Kampf gegen die Todesgöttin Hel, die nach jahretausendelanger Gefangenschaft wieder freikommt und nun nichts Geringeres einleiten will als Ragnarök, die Götterdämmerung – was gleichbedeutend wäre mit dem totalen Untergang der Welten rund um Asgaard & Co. Ihre Kräfte sind so gewaltig, dass zunächst nicht einmal der Götterheld Thor etwas gegen den von Hel ausgehenden dunklen Strudel, der die Sonne verdunkelt und alles in den Abgrund stürzen möchte, ausrichten kann. Wenn dieser alles erstickenwollende Strudel nicht aufgehalten wird, dann wäre das „das Ende von Allem“, bekommt man im Filmtrailer (siehe YouTube) von einer Stimme aus dem Off erklärt.
Hel, die Göttin des Todes wirft ihren Speer (Marvel-„Thor: Ragnarok“ Offizieller Trailer/YouTube)
136 Millionen Klicks erhielt der Trailer alleine innerhalb der ersten 24 Stunden nach seiner Veröffentlichung. 136 Millionen Menschen haben das cineastisch visualisierte Zeichen der Zeit also bereits vernommen, eine ganze Generation scharrt in den Startlöchern, um sich den gestern in den Kinos angelaufenen Film anzusehen. Auch wenn der Film selbst von den Disney-/Marvel-Studios relativ profan inszeniert ist, sollte man das Motiv der Menschen, die zu solchen Filmen in die Kinos strömen, nicht vorschnell profanisieren. Denn die Menschen, ob Jung oder Alt, sehen solche Filme nicht nur, weil sie nichts anderes zu tun haben, sondern weil sie von ihrem Inneren her einen tiefen Hunger nach Bildern haben, in denen sie etwas zu sehen bekommen, was den tieferen Ebenen des Zeitgeschehens und des Menschseins entspricht, was aber in unseren Leitmedien verbal nicht thematisiert wird.
Sie merken, dass ihnen ihre Politiker, die diese Leitmedien als ihr Sprachrohr benutzen, nicht die Wahrheit erzählen. Denn während besagte Politiker in ihren Wahlprogrammen irgendetwas von „einem Land, in dem wir gut und gerne leben“ memmeln, wird im Hintergrund eiskalt eine menschenverachtende neoliberale Agenda durchgezogen und sieht das Auge, egal wohin es blickt, überall nur, wie die Dinge mit rasanter Geschwindigkeit den Bach hinunter gehen. Der Bürger, der seiner ihn beherrschenden Obrigkeit aus einer archetypischen Anlage heraus immer noch so gerne vertrauen würde wie fürsorgenden Eltern, kann nicht mehr übersehen, wie er von den Regierenden verraten, verkauft und ihm das Fell über die Ohren gezogen wird. Er sehnt sich also nach Bildern, die ihm das Unfassbare zumindest auf unterbewusste Weise veranschaulichen.
Der Erfolg von Kassenschlagern wie „Matrix“ oder „Herr der Ringe“ erklärt sich durch nichts anderes, als dass durch die hierbei dargebotenen Bilder der Nerv der Zeit getroffen und archetypische Kräfte ins Licht gehoben werden, die im Unterbewussten des Einzelnen ebenso wie im von C.G. Jung zumindest bereits ansatzweise erforschten kollektiven Unterbewussten ihr Wesen bzw. ihr Unwesen treiben. Was in diesem Unterbewussten alles so west, wäre für die meisten ohne Vorbereitung bei Vollbewusstsein wohl nicht ertragbar, weshalb eine bildhafte Darstellung in Mythen und Sagen, oder eben im zeitgenössischen Medium des Films vielfach als die einzige akzeptable Darstellung erscheint, die breitenwirksam ins Volk einfließen kann.
Sigmund Freud war kurz vor seinem Tod fassungslos über die Dinge, die er in den Untiefen des Menschen ergründet hatte – unter anderem den Todestrieb Thanatos – und stammelte nur: „so viel Wahnsinn, so viel Wahnsinn…“. Der durchschnittliche Bürger ahnt das Ausmaß dieses Wahnsinns und scheut daher aus einer unbewussten Furcht heraus, den Deckel vom Topf des Un(ter)bewussten zu heben, der aber heute bereits überkocht.
Dabei wäre die gute Nachricht: Dort im Unbewussten lauern nicht nur dunkle Kräfte, es gibt dort zum Glück auch viele lichte Kräfte bzw. konstruktive Antriebe, die den Menschen zu Liebe, Mitgefühl und Gewissen motivieren und die in Wirklichkeit viel stärker sind als die destruktiven Antriebe. Wenn man sich in diesen konstruktiven Kräften gründet, dann kann man es auch mit den alles verschlingen wollenden dunklen Kräften aufnehmen, so wie eben der Göttersohn Thor und seine Mitstreiter in der jüngsten Marvel-Verfilmung – der der Todesgöttin Hel am Ende schließlich doch noch den entscheidenden Tritt verpasst und damit die Götterdämmerung beendet.
Wäre auch schade, wenn die Menschen- und Götterevolution vorzeitig ein Ende gefunden hätte. Denn von der Thor-Saga sind laut Marvel-Studios insgesamt sieben Teile geplant und der aktuelle Film stellt erst Kapitel 3 dar. Mit einem Wort: Wir haben in der Evolution gerade Halbzeit – wenn wir es jetzt in der Halbzeit vermasseln, bloß weil wir gerade etwas müde geworden sind, dann verpassen wir womöglich die wichtigsten Episoden, die uns noch bevorstehen und das Happy End …
In diesem Sinne – damit wir nicht mit Hollywood enden -, zwei Verse aus dem Tagebuch von Dag Hammarskjöld:
„Wenn Morgenfrische der Mittagsmüdigkeit weicht,
wenn die Beinmuskeln vor Anspannung beben,
wenn der Weg unendlich scheint
und plötzlich nichts mehr gehen will, wie du wünschest –
gerade dann darfst du nicht zaudern.
(…)
Weiter! Welche Entfernung ich auch zurückgelegt,
sie gibt mir nicht das Recht, innezuhalten.
Weiter! Die Sorgfalt bei den letzten Schritten unter dem Gipfel
entscheidet über den Wert all dessen, was voraufgegangen sein mag.“
—
Nachsatz:
Kampf zwischen Walkyren und dem Heer der Todesgöttin Hel (Marvel-„Thor: Ragnarok“ Offizieller Trailer/YouTube)
Die Verfilmung des Mythos um Thor ist wie alles aus der Hollywood-Schmiede wieder einmal ambivalent: Einerseits bietet der Film archetypisch bewegende Bilder wie etwa den Kampf zwischen den Walkyren und dem dunklen Heer der Todesgöttin Hel (siehe oben), andererseits wurde mit dem ursprünglichen Gehalt der nordischen Göttersage, wie man sie von der Edda her kennt, arg Schindluder getrieben und diese bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Aus der jüngsten ORF-Rezension zum Film erfahren wir, dass der neuseeländische Regisseur Taika Waititi „die Göttersaga von unnötigem Ballast und Tiefgang befreit hat und sich ganz auf Schauwerte und Skurrilitäten konzentriert“, d.h., er den tiefen Sinn, der jeder Sage innewohnt, mit seinem Machwerk zu einem bananesken Action-Feuerwerk mit Hardrockhintermalung reduziert hat.
Schon im ersten Teil der Thor-Saga bewiesen die Marvel-Drehbuchschreiber ihren Willen zu sinnbefreiter Umdeutung der Edda, indem sie dem Erzbösewicht und Vater Lokis, Fárbauti, kurzerhand den Namen von Lokis Mutter, Laufey, verpassten. „Laufey“ klingt in den Ohren von Hollywoods Weinstein-Boys vermutlich einfach cooler. Während also bei Worten wie Ragnarök/Götterdämmerung, Thor, Odin ebenso wie Jotunheim – dem Reich der grausamen Frostriesen, die über die Menschheit eine neue Eiszeit bringen wollen -, dem nordischen Menschen in alter Zeit ein ehrfürchtiger Schauer über den Rücken gelaufen ist, so werden diese Namen in der Marvel-Comicschmiede nun mit nachdrücklicher Respektlosigkeit verhunzt und auf Teletubbie-Niveau heruntergeschraubt. Damit beim Zuseher keine Langeweile aufkommt, scheuten die Drehbuchautoren nicht einmal davor zurück, dem Göttersohn Thor das grüne Marvel-Comics Monster „Hulk“ als Kampfgefährten an die Seite zu stellen. Der Darsteller des Thor, Chris Hemsworth, beeindruckt durch das Chrisma eines Eishockeyspielers oder eines Barrista-Boys aus der Starbucks-Filiale von nebenan. Flotte Sprüche mit vorprogrammierten Lachern und Dauerexplosionen sorgen indes dafür, dass beim Zuseher keinesfalls Anflüge von Tiefgang oder Nachdenklichkeit aufkommen.
Ich empfehle also nicht, den Film anzugucken, da man genauso wie beim Essen alles was man sieht, ja auch verdauen muss. Bereits beim Ansehen des Trailers ergießt sich auf das Auge eine opulente Bilderflut, an der das Unterbewusste zumindest einige Tage zu kauen hat. Sieht man allerdings von der platten Hollywood-Inszenierung ab, dann ist das Thema selbst, das hier aufgegriffen und filmisch inszeniert wird, wieder einmal etwas, was zu 100% den Puls der Zeit trifft. Den sinnvollen Kern aus den immer reißerischer werdenden Hollywood-Produktionen herauszulösen, wird allerdings zunehmend schwieriger. Während sich der Geschichtenerzähler Michael Köhlmeier seinerzeit noch relativ leicht tat, in dem von Sylvester Stallone verkörperten Rambo nichts anderes zu verorten als eine etwas modernisierte Herakles-Heldenfigur, so wird die Aufrechterhaltung eines Heldenbildes in den neuen Hollywood-Produktionen zunehmend schwieriger, da es die Weinstein-Produzenten anscheinend gar nicht mehr ertragen, sich das Bild eines wirklichen Helden mit ritterhaften Tugenden vor Augen zu stellen. Man entwirft daher zunehmend zynische Anti-Helden mit fragwürdigen Charaktereigenschaften, lässt etwa den Superhelden Ironman im Film seine Popularität beim Volk fraglos ausnützen, indem er in Bars abhängt und Frauen abschleppt, lässt den Göttersohn Thor in einer Spelunke einen rumtrinken und anschließend mit seinen Saufkumpanen gröhlend durch die Straßen torkeln etc.
Eventuell tut man also besser daran, wieder die echte Edda aus dem Bücherschrank zu holen und in Muße ein paar Seiten darin zu blättern. Man wird sehen, dass sich dabei sehr viel lebendigere und schönere Bilder entwickeln als wenn man sich eine durch technisch perfekte 3D-Renderings brillierende Hollywood-Inszenierung vorsetzen lässt, die in Wirklichkeit die individuelle Phantasie beraubt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie enttäuscht ich war, als ich nach dem begeisterten Lesen von J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“ – in meiner Jugendzeit noch ein literarischer Geheimtip – später dann die filmische Fassung zu sehen bekommen habe. Der Gandalf mit Trinkernase und profanem Gesichtsausdruck, den ich da zu sehen bekam, war im Vergleich zu der Heldenfigur, die ich beim Lesen des Buches in meinem Inneren aufgebaut hatte, ein arger Abstieg. Ich dachte mir: Wer zuerst den Film sieht und dann erst das Buch liest, ist dann bereits mit einer fixen Vorstellung behaftet, wie Gandalf und die übrigen Figuren der Mythologie aussehen. Dies einigen durchgeknallten Hollywood-Boys zu überlassen, ist eigentlich ein Raub der eigenen Vorstellungskraft. Gerade diese Vorstellungskraft brauchen wir heute aber dringend – um aus den Abwärtsgleisen der vermeintlichen Alternativlosigkeit auszubrechen und wieder den Weg aufwärts in eine menschenwürdige und nachhaltige Zukunft einzuschlagen.