Die Rolle Deutschlands im Zeitalter der neuen Stellvertreterkriege
Ein Standpunkt von Jonas Ecke.
Armenien: Ein Stellvertreterkrieg in der Anfangsphase?
Wie viele Konflikte der letzten Jahre, droht sich der kürzlich ausgebrochene Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien in einen globalen Stellvertreterkrieg zu entwickeln. Die Konfliktgründe an sich sind lokal: Seit vielen Jahren wurde der Disput zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Herrschaft über die Bergregion Berg-Karabach als einer der „eingefrorenen Konflikte“ der Welt beschrieben. Auch wenn der Disput über die Vorherrschaft über das Territorium ungeklärt blieb, kein diplomatischer Fortschritt zu verzeichnen war, und es vorübergehend zu Scharmützeln kam, konnte man bis vor kurzem noch nicht von einem anhaltenden Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan sprechen.
Typisch für die momentane Geopolitik ist der Konflikt deshalb, weil schon kurz nach dem Ausbruch des Krieges externe Staaten als indirekte Konfliktparteien auftraten. Auf der einen Seite liefert Russland Waffen an beide Seiten, ist aber Schutzmacht von Armenien. Gründe für die russische Unterstützung sind die gemeinsamen russisch-orthodoxen kulturellen Wurzeln und Bündnisverpflichtungen seitens Russland gegenüber Armeniens.
Von Oppositionellen wurde berichtet, dass am 23. Dezember in der Stadt Homs eine Panzergranate in einer Rebellenstellung einschlug. Kurz darauf halluzinierten einige Soldaten oder litten an schweren Atembeschwerden. Mehrere Soldaten erstickten im Spital am eigenen Erbrochenen. Für die Ärzte war schnell klar, dass die Betroffenen einem Giftgas ausgesetzt waren. Von offizieller Seite wurde der Anschlag nicht bestätigt, doch aufgrund diverser Verdachtsmomente hat das amerikanische Konsulat in Istanbul eine eigene Untersuchung eingeleitet. Kurz darauf wurde eine geheime Depesche an das US- Aussenministerium geschickt.
Erst nachdem einige Medien über einen möglichen Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Homs berichteten, erklärte State Department Sprecher Patrick Ventrell am 15. Dezember, dass die Chemiewaffen von der syrischen Regierung sicher verwahrt werden:
„Wir haben Assad klar gemacht, dass er zur Rechenschaft gezogen wird, falls er Gebrauch und Fehler bei der Sicherung der Chemiewaffen macht.“
Am Abend des gleichen Tages hakte National Security Sprecher Tommy Vietor nach: „Die Berichterstattungen, die wir von Medien-Quellen über angebliche Chemiewaffen Vorfälle in Syrien gesehen haben, ist nicht vergleichbar mit dem, was wir über das syrische Chemiewaffen-Programm wissen.“
Zwei Ärzte, die während des Anschlages vor Ort waren berichteten:
„Das waren Chemiewaffen, da sind wir uns sicher, denn Tränengas kann nicht fünf Personen töten.“
Ihre Behauptung ermittelten sie aufgrund von drei Faktoren: plötzliche Todesfälle, grosse Anzahl von betroffenen Personen und wiederkehrende Symptome auch 12 Stunden nach der Behandlung. Für einen wissenschaftlichen Beleg des Chemieeinsatzes fehlte ihnen eine entsprechende Ausrüstung. Sie hätten zwar Proben von den Betroffenen genommen, diese seien inzwischen aber unbrauchbar geworden.
Die öffentliche Reaktion der US-Regierung fällt bis jetzt sehr zurückhaltend aus. Washington will nicht näher auf die Erkenntnisse seiner Diplomaten in Istanbul eingehen. Im August erklärte Barack Obama, wenn Assad Chemiewaffen gegen sein Volk einsetzt, übertrete er eine „rote Linie“. Die Folge wäre ein militärisches Eingreifen der USA. Im Dezember schwächte er seine Drohung ab und erwähnte nur noch verhalten den Einsatz von Chemiewaffen. Aufgrund der sanfteren US-Rhetorik könnte sich Assad dazu entschlossen haben, seinen Handlungsspielraum weiter auszuloten.
Die augenreibende Verwunderung vieler Europapolitiker über den neuen Kurs der Türkei verwirrt den aufmerksamen Betrachter.
Auf einmal scheinen sich hochrangige Politiker förmlich überrascht zu fragen, warum man die Türkei auf dem Weg in den Osten statt auf dem Weg nach Europa findet. Diese „Überraschung“ aber kann nur vorgespiegelt sein; zahlreiche Länder der EU haben in den zurückliegenden Jahren ihr Bestes gegeben, zwischen die Türkei und der Europäischen Union einen möglichst dicken Keil zu treiben. Statt, wie in den Sechzigen noch, von einer Vollmitgliedschaft zu sprechen, wollte man plötzlich nur eine „privilegierte“ Mitgliedschaft, eine „Light-Version“ also. Auf einmal fielen vorzugsweise konservativen Politikern eine Menge Gründe ein, die Türkei möglichst ganz außen vor zu lassen und plötzlich fand man, dass die islamische Prägung des Landes nicht so ganz zur okzidentalen, vorgeblich „christlichen“ Ausgestaltung Europas passen würde.
Als Erdogan die Macht übernommen hatte, sah man eine extreme Islamisierung durch seine AKP auf die Türkei zukommen; gut informierte Beobachter aber wissen, dass die laizistische und mehrheitlich sunnitische Türkei gerade durch ihren Islam eine positive, mäßigende und vorbeugende Wirkung auf ihre Nachbarschaft hat, in welchen der saudische und extreme Wahabismus Fuß zu fassen versucht.
Auf NATO-Basis allerdings, da sehen die gleichen Europäer vieles gleich ganz anders. Da freut man sich, in der Türkei einen „zuverlässigen Freund“ gefunden zu haben, man bedient sich gern des Flugplatzes Incirlik und liefert Waffen in beinahe jeder gewünschten Menge jeden Typs.
Die türkische Regierung, gerade die unter Erdogan, hat seit vielen Jahren anwachsende Probleme ihren Bürgern die europäische Hinhaltetaktik zu erklären. Es will ihr immer weniger gelingen ins Land zu vermitteln, dass immer neue Forderungen aus Brüssel an Ankara gestellt, immer intensivere Tests und immer harschere Ver- und Beurteilungen angestellt werden. Während gleichzeitig ein fragwürdiges Staaten- und Nationengerümpel im Osten scharenweise der EU voll beitritt. Darunter schwerst krisengeschüttelte, menschenrechtsferne Länder wie Rumänien, wo schon mal ganz offen von politischen Parteien im Wahlkampf eine „Endlösung“ für die „Zigeunerfrage“ gefordert wird. Dies wird zu Recht in der Türkei nicht verstanden und mit einiger Empörung aufgenommen.
Ausweislich der kleinlaut in Brüssel immer wieder erfolgenden Zugeständnisse, dass die Türkei auch zwischenzeitlich höhergelegte Latten nicht gerissen habe und der regelrecht glänzenden Wirtschaftsdaten fällt es dem aufmerksamen Beobachter schwer zu verstehen, warum dieser Kurs gefahren wird. In nächster Zukunft wird die Türkei die meisten und vor allem die größten Staaten Europas mit ihren Wirtschaftskennziffern rechts überholen.
In den zurückliegenden Jahren hat sich die Türkei als Botschafter des Westens im Nahen und Mittleren Ostens bestens bewährt; häufiger wird Ankara von Vertretern islamisch geprägter Länder gebeten, bestimmte Anersinnen an den Westen zu „übersetzen“, da man sich sonst unverstanden fühlte. Umgekehrt kontaktiert man die Türkei vom Westen aus sehr gern, um Botschaften in den Nahen Osten zu bringen und verständlich auszugestalten.
Jetzt kommt natürlich, was nicht mehr anders zu erwarten stand:
Da sich die Welt derzeit neu orientiert, muss auch eine Türkei ihren neuen Platz suchen und sie hat ihre geostrategischen Überlegungen mit Bravour absolviert. Da die EU ihr den Beitritt und damit eine Identifikation mit westlicher Politik verweigert, findet sie ihren Platz in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Sie kann dort aufgrund ihrer hervorragenden Reputation sehr nützliche bilaterale und multilaterale Netzwerke knüpfen und somit neue Märkte als auch neue Sicherheitsstrategien für sich und ihre Region entwickeln.
Und in der Tat findet die Türkei ein breites und zukunftsträchtiges Aufgabenfeld direkt vor ihrer Tür; sie kann für sich eröffnen, was ihr vermutlich im Rahmen einer EU-Mitgliedschaft verweigert worden wäre. Iran, Afghanistan, Syrien, Ägypten …. Der Türkei stünde eine ganze Reihe potenter Vertrags- und Gesprächspartner zur Verfügung.
Auch Israel hat die einstmals existierende Freundschaft zur Türkei mit Füßen getreten und neuerdings auch mit Waffen beschossen.
Während europäische Politiker durchaus verschnupft auf den wütenden Ausbruch Erdogans nach dem Gaza-Massaker reagierten, wollten sie ihn sogar anlässlich der Toten von der Flotille am liebsten zurückpfeifen. Erdogan hätte seine Integrität als Ministerpräsident der Türkei nicht nur riskiert, sondern gar verspielt, wäre er bei beiden Gelegenheiten ruhig und im Sinne der EU „besonnen“ geblieben.
Ihm ist auch gar nichts vorzuwerfen, so sehen das auch überwältigend mehrheitlich seine Bürger. Die Wahl seiner Worte und Lautstärke gab ohnehin schon nur gedämpft wieder, was auf den Straßen der Türkei nach all den vielen Toten über Israel gedacht wurde.
Es ist für die Türkei hohe Zeit, ihren Standpunkt, ihre neue Realität, ein neues Selbstbewusstsein und vielleicht sogar eine neue Identität für sich zu gewinnen. Das Land hat eine Menge Pfunde, mit denen es wuchern kann und die in der EU offenbar niemand (mehr) braucht oder haben will.
Und diese Identität, so sie denn auch laizistischer Natur ist, wird grundsätzlich immer mit ebensogroßer Selbstverständlichkeit eine islamische sein wie Deutschland sich freiwillig das christliche Stigma erwählt.
Dass dies nun wieder Grund genug für die Auflösung der letzten Bande zwischen Israel und der Türkei sein kann und womöglich sein wird, kann letztlich nicht das Problem der Türkei sein. Sie ist es nicht, die Blut darüber gebracht und noch nicht einmal das leiseste Wörtchen einer Entschuldigung dafür gefunden hat.
Vielleicht ist es besser so für die Türkei, vielleicht findet sie ein neues Zuhause, ein neues und starkes Selbstverständnis. Es waren wohl eher wir in und mit unserer EU, die die Zeichen der Zeit einfach nicht verstanden haben und katastrophal rückständig gewesen sind um eine Türkei in unseren Reihen begrüßen zu können. Wir sind es, die eine Freundschaft ausgeschlagen haben und wir sind es auch, die in Zukunft zäher mit dieser neuen Türkei zu verhandeln haben und eher in die Position eines Bittstellers gelangen werden.
© 2010 Echsenwut.