von Christian Carls im November 2013 (christian.carls@gmx.de)
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Die Bundesrepublik Deutschland im Spätherbst 2013. Der Bundespräsident a.D. steht vor Gericht wegen der lächerlichen Summe von 753,90 €, die er sich auf einem Besuch des Oktoberfestes vor vier Jahren von einem befreundeten Filmproduzenten geliehen hat.
Die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft gewinnt 1:0 in Wembley gegen England, die Koalitionäre in Berlin streiten in immer längeren Verhandlungen über die Einführung einer PKW-Maut für Ausländer bzw. für alle Autofahrer und die Gesellschaft regt sich darüber auf, dass ausländische Geheimdienste ihrer eigentlichen Bestimmung nachgehen…zu spionieren.
Die Stimmung des Bundestagswahlkampfes, sollte es je eine gegeben haben zwischen „Stinkefinger-Peer“, „Grabscher-Brüderle“ und „Allgemein und unverbindlich Merkel“, ist längst verpufft und einer schleichenden aber doch fühlbaren Lethargie gewichen.
Hat dieses Land keine anderen Probleme über die es sich zu streiten, zu debattieren und die es anzugehen lohnt? Nahezu ein Viertel der deutschen Bevölkerung lebt in der Nähe, an oder sogar unterhalb der Armutsgrenze. Die Auswirkungen der Agenda 2010 und das menschenverachtende „Forder- und Förder-Instrument“ Hartz IV sind allgegenwärtig und doch wird dieser offensichtliche Missstand schweigend hingenommen. Die Alternative seitens einer Regierung, ganz gleich aus welcher Koalition oder aus welcher Mehr- oder Minderheit sie bestehen wird, heißt „gesetzlicher Mindestlohn“. Dabei wird noch zwischen einer Anhebung für den Osten und für den Westen unterschieden. In meinen Augen ein untrügliches Zeichen, wie es um die Deutsche Einheit und die Chancengleichheit 24 Jahre nach dem Mauerfall bestellt ist. Die Erhöhung beträgt im Maximalfall 1,40 € pro Stunde. Dies wird der Bevölkerung als soziale Gerechtigkeit verkauft und allgemeiner Applaus für die gönnerhaften Politiker wird erwartet. Gleichzeitig soll Hartz IV um im besten Fall 50 € pro Monat erhöht werden. Dafür werden neuerdings die Aktivitäten von Beziehern der Grundsicherung auf dem zweiten bzw. dritten „Arbeitsmarkt“, genauer bei eBay, strengstens überwacht. Natürlich regen sich im selben Atemzug alle Berufenen über Ausspähaktivitäten der Amerikaner und Briten auf, wenn aber Vater Staat bzw. die Arbeitsagentur Big Brother spielt ist das Teil der „sozialen Gerechtigkeit“ und ganz im Sinne des Forderns und Förderns….
Gefördert werden in diesem Land die Wohlhabenden und die Superreichen, die 80-90 % des sich im Umlauf befindlichen Geldes besitzen, dies aber durch Anlagestrategien nicht in den Geldkreislauf zurückgeben. Dort gehen dem Staat Millionen von Geldern verloren bzw. werden ihm bewusst vorenthalten und nicht durch vereinzelte eBay Verkäufe, um sich zusätzlich zur lange nicht ausreichenden Grundsicherung etwas dazuzuverdienen.
Grundsicherung, dieser Begriff ist mehr als irreführend…Wer kann denn im Ernst glauben, dass man mit 382 € im Monat auch nur annähernd ein Leben führen kann, welches in diesem unseren Land als menschlich und gesellschaftlich partizipierend angesehen wird? Sicher muss niemand verhungern oder auf der Straße bei Kälte erfrieren. Niemand? Auch hierüber gibt es Statistiken und die Dunkelziffer derer, die im wahrsten Sinne „nicht gesehen“ werden, ist wie so oft sicher um ein Vielfaches höher. Um es mit einem Zitat des Berliner Liedermachers Reinhard Mey auf den Punkt zu bringen: „Ist das nicht eine Schande…? In diesem unseren Lande…“.
Jedoch ist das Sterben aufgrund Hungerns oder Kälte wohl kaum die Maßgabe eines Systems, welches sich selbst den Titel „Sozialstaat“ verleiht, es erinnert vielmehr an längst vergangene Zeiten. In einem Land der Dichter und Denker sollte niemand unterhalb eines gewissen Standards leben müssen, bei all dem Reichtum, der von einer Minderheit angehäuft wird, muss auch Platz für die Schichten der Gesellschaft sein, die bisher allenfalls als Sündenböcke herhalten und auf die sich nur zu leicht die Ängste und Vorurteile der restlichen Bevölkerung projizieren lassen.
Dies ist nicht nur eine theoretische Beobachtung, es ist längst Realität…Wie viele Menschen sieht man heute im Vergleich zu vor ein paar Jahren, die Flaschen sammeln und dies längst nicht mehr auf Großereignissen sondern in ganz normalen Wohngegenden und das Tag für Tag. Nicht wenige schieben einen Einkaufswagen vor sich her und haben die unterschiedlichsten „Werkzeuge“ um Flaschen aus Glascontainern zu fischen. Dieser Anblick berührt die meisten Menschen, aber entsetzt er sie auch? Führt dieses krasse Beobachten der Armut zu einem Handeln, zu einem Umdenken oder auch nur zu einem Überdenken der Verhältnisse in diesem Land? Nein bisher nicht….
Die Menschen drehen sich um, gehen weiter ihren Weg und sind froh, dass sie nicht im Glascontainer fischen. Ich bin sicher, den meisten Menschen, die beim Flaschen sammeln beobachtet werden, ging es mal genauso.
Die Linke hat im BT-Wahlkampf diesen krassen Umstand zum Thema auf Wahlplakaten gemacht. Dort war der Slogan „Weg mit Hartz IV – Gerechtigkeit statt Flaschen sammeln“ zu lesen. Gebracht hat es freilich wenig. Aber wo liegt der Grund? Ich kann mir das nur mit einer allgemeinen Lethargie erklären und einer immer mehr um sich greifenden Politikverdrossenheit in der deutschen Bevölkerung. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben die Menschen gelehrt, dass die Machteliten in Berlin um sich selbst und höchstens noch um finanz-, das heißt überzeugungsstarke, Lobbyisten kreisen. Sie sind rein selbstreferentiell und haben sich längst von den Bedürfnissen und dem Willen des Souveräns in unserer Demokratie, dem Willen des deutschen Volkes, abgewandt. Diese Haltung führt bei den Menschen zu einer „was kann ich schon ändern“ Einstellung und genau dies ist, was dieses Land in Lethargie verharren lässt. Vergleichbar mit dem Verhalten von Tieren, die sich bei Bedrohung einfach totstellen und warten bis die Gefahr vorüber ist.
Im Falle der BRD wäre vielleicht die Taktik „Angriff ist die besten Verteidigung“ das Mittel der Wahl. Dies ist nicht als Aufruf zu Revolten zu verstehen, vielmehr zielt es auf die Mobilisierung der Bevölkerung zur Bekämpfung, zu Beeinflussung und schließlich zur Beseitigung der sozialen Missstände ab.
In jedem anderem Land der Europäischen Union geht das Volk für seine eigenen Rechte auf die Straße, wird sich gegen die Entscheidungen der Exekutive mit aller dem Volk zur Verfügung stehenden Macht gewehrt. Dabei kommt es nicht selten zum Schulterschluss sonst sehr unterschiedlicher Gruppen bzw. Verbänden. Im Gegensatz dazu demonstrieren in der BRD wochenlang Menschen gegen die Tieferlegung bzw. gegen den Umbau eines historischen Bahnhofes und den Schutz einer seltenen Käferart. Daher nochmal meine Frage: Gibt es keine anderen Probleme? Wo ist die Solidarität der Menschen untereinander, die Zusammenarbeit der Gewerkschaften und sozialen Verbände, der politischen Kräfte in diesem Land, die eine Verbesserung für 20 Millionen Menschen, Tendenz stark steigend, und dadurch eine gesamtgesellschaftliche Veränderung herbeiführen kann? Sie bleibt aus….es bleibt bei Treffen von Netzwerken, die immer unter sich bleiben und bei vereinzelten Demonstrationen, oft ohne jede Wirkung..
Am Beispiel der Netzwerke, die sich für die Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) einsetzen, ist die Machtlosigkeit und Ohnmacht solcher Initiativen, bei aller Wertschätzung des Engagements, sehr gut zu beschreiben. Letztes Wochenende traf sich in Köln das BGE-Netzwerk der Region West. Das Netzwerk insgesamt erreicht nach eigenen Angaben über einen E-Mail-Verteiler rund 3000 Personen. Man traf sich in einem kleinen Raum in Köln und es kamen neun Personen, davon einer erst kurz vor Ende.
Darunter waren zwei Teilnehmer aus dem Raum Köln. Der Rest setzte sich aus Aktivisten aus dem Saarland, dem Kreis Aachen, Wuppertal und Duisburg sowie dem Rhein Main Gebiet zusammen. Der Ablauf einer solchen Veranstaltung trägt sicher zur Information der Anwesenden bei und führt zu manch nachhaltigen Diskussionen und einem schicken Protokoll, welches über den E-Mail-Verteiler der abwesenden Mehrheit des Netzwerkes zugeführt wird. Aber die Essenz, der Spirit solcher Treffen ist gleich null genau wie die Relevanz zur Umsetzung der Idee des BGE. Man bleibt unter sich und unterhält sich mit Menschen, die der Idee zwar wohlgesonnen aber zum Teil nicht zum gemeinschaftlichen Handeln dafür bereit oder in der Lage sind. Dieser Umstand wird aber nur von einer Minderheit der schon wenigen Anwesenden wahrgenommen. Im Gegenteil, es wird sich noch über die bewusste Ignoranz der Medien bzgl. des Themas BGE beschwert. Dieses allgemeine Lamentieren über die Steuerung der öffentlichen Meinung seitens der Medien ist ein nur zu gern genommenes Argument zur Deckung der eigenen Unfähigkeit, wirklich etwas zu verändern oder wenigstens eine Veränderung anzustoßen. Um die Medien dazu zu bewegen, über etwas zu berichten, muss man die öffentliche Meinung hinter sich bringen, eine Öffentlichkeit schaffen, die nicht ignoriert werden kann. Dies schafft man nicht durch immer wieder stattfindende interne Treffen, die sich im Ergebnis fast deckungsgleich überlagern und zwangsläufig zu einem nächsten und übernächsten Treffen der oft sehr überschaubaren Personenkreise führen. Um eine Idee im wahrsten Sinne unter das Volk und in die öffentliche Diskussion zu bringen, muss man die Öffentlichkeit wachrütteln und auf diese Idee aufmerksam machen. Dies hat nichts mit der Verbreitung von radikalen Ideen oder obskuren Theorien zu tun. Wenn es die AfD innerhalb von knapp zwei Jahren schafft, mit einer sehr fragwürdigen Strategie zur Absetzung des Euro und zur Rückkehr zur D-Mark aus dem Stand bei einer bundesweiten Wahl 4,7% zu erreichen, dann sollte dies doch mit einer Idee, die mindestens einem Viertel der Bevölkerung eine maßgebliche Verbesserung der Lebensverhältnisse ermöglicht, genauso zu erreichen sein. Die AfD dient in diesem Zusammenhang lediglich als Beispiel, was mit guter Öffentlichkeitsarbeit und der Besetzung von Interessen der Öffentlichkeit innerhalb relativ kurzer Zeit gelingen kann.
Diesen Weg muss auch die Initiative BGE gehen, hin zu einer Ein-Themen-Partei zur Bündelung aller Kräfte für die Einführung dieses Instruments zur Rückerlangung einer wirklichen sozialen Gerechtigkeit in der BRD. Hinter dieser Partei müssen sämtliche die Interessen der wirtschaftlich Schwächeren schützenden Gruppierungen wie bspw. Attac oder Sozial- und Kirchenverbände inhaltlich stehen. Vergleichbar mit einer Pyramide, die von einem breiten Unterbau ihre Kraft zieht und so bis in die Spitze vordringt und durch diese öffentlich wie politisch vertreten wird. Mittelfristiges Ziel muss die Teilnahme an der Bundestagswahl 2017 sein, also von heute an knapp vier Jahre Zeit zur Bildung und zum Ausbau einer Basis und eines wirklich funktionierenden Netzwerkes und eines Bündnisses, das wirklich handlungsfähig ist und auch nicht vor der politischen Auseinandersetzung mit den etablierten Parteien zurückschreckt. Mit der Initiierung eines BGE würde man 80 % der sozialen Probleme in der BRD lösen können. Die Kosten, die eine solche Einführung verursachen würde (ca. 1 Billion € / Jahr) könnten durch eine Erhöhung der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen- sowie der Erbschaftsteuer und durch den gleichzeitigen Wegfall der 550 Mrd. Euro/Jahr teuren Leistungen des Sozialbudgets, darunter die Renten- und Arbeitslosenversicherung relativ einfach und sicher gegenfinanziert werden. Dies wäre ein wirklich gerechtes „umfairteilen“ und würde den Menschen zuallererst helfen , die bis heute aufgrund der Gängelung durch Hartz IV am Rande des Existenzminimums leben müssen.
Natürlich sollen mit der Initiatividee BGE auch andere politisch bedeutsame Themenbereiche abgedeckt werden. Dazu könnte man sich an den Programmen der Parteien wie der Linken und den Grünen orientieren. Wichtig bleibt eine unmissverständliche Abgrenzung zu den Vorstellungen des Sozialstaates der etablierten Parteien. Dies schärft zum einen das eigene Profil und führt automatisch zur politischen Auseinandersetzung auf diversen Ebenen und damit zu einer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.
Lange genug hat die Mehrheit in diesem Land geschwiegen. Es ist an der Zeit, die Kräfte, hervorgerufen durch den Wunsch nach der Reform des Sozialstaates, zu bündeln und endlich eine wirkliche demokratische Alternative zur Besserung der Lebensverhältnisse einer großen Mehrheit der Menschen in Deutschland auf den Weg zu bringen.
„some men see things as they are and say `why`, I dream of things that never were and say `why not`“
John F. Kennedy