Das Mephisto-Prinzip in der Politik. Machiavelli reloaded.
Ein Standpunkt von Christian Kreiß.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.
Mephisto, Faust Teil 1
Wer hat das schon mal erlebt: ein Chef, seltener eine Chefin, oder ein Vorgesetzter, der einen „rundmacht“, herunterputzt, anschreit, lauthals schimpft, seine Wut oder Dampf ablässt? Ich selbst habe das oft erlebt. Es gibt unzählige Schilderungen von Betroffenen dazu. Vor allem in Konzernen und Unternehmen, aber auch im Militär und anderen straff organisierten Großorganisationen habe ich den Eindruck, ist das durchaus verbreitet.
Aber nicht nur im Berufsleben gibt es das. Machtpositionen scheinen häufig das Tor zu aggressiven Gefühlen zu öffnen. Die Geschichte ist voll von Tyrannen, Diktatoren, Usurpatoren oder Machtmenschen, die oft grausame Herrschermethoden anwenden, von Einsperren, Enthaupten, Erschießen über Misshandlungen aller Art von Untergebenen, sowohl eigene Untertanen wie erst recht von Gefangenen, Feinden oder Andersdenkenden. Manchmal wurde auch einfach der Überbringer von schlechten Nachrichten kurzerhand einen Kopf kürzer gemacht. Das gilt nicht nur für weit zurückliegende Zeiten, sondern durchaus auch für die jüngere und jüngste Geschichte. Von Nero über Napoleon, Mussolini, Hitler, Stalin, Mao bis Pinochet oder Pol Pot wissen viele Milliarden Menschen ein trauriges Lied davon zu singen.
Auch in anderen Lebensbereichen, im tagtäglichen Leben existiert es. Ich hatte zwei Lateinlehrer. Der eine schrie immer wieder in der Klasse herum, ließ Liegestützen und Kniebeugen machen und hatte ganz offensichtlich seine Freude an seinen tyrannischen Auslassungen. Ein paar sensible Mädchen hielten das nicht aus und fielen wegen Latein durch. Der andere Lateinlehrer hatte einen stark sadistischen Hang, verteilte mit süffisantem Grinsen und großer Freude die schlechten Noten und kündigte im Voraus an, wer am Schuljahresende durchfallen werde. Das kam auch tatsächlich so. Also auch manche Lehrer, die ja in Machtpositionen gegenüber Schülern sind, haben und leben manchmal eine sadistische Ader.
Was ich damit sagen will: Mit der Macht, mit Machtpositionen scheint häufig die Lust am schlechten Behandeln anderer Menschen, an Unterdrücken, an Sadismus, am Schaden-Wollen anderer, Hand in Hand zu gehen. Ich gehe aber davon aus, dass es vermutlich vor allem andersherum gilt: Machtmenschen haben häufig einen starken Instinkt oder Trieb zu Unterdrückung, Sadismus, zum Schaden-Wollen, zum Böses-Tun und sie versuchen daher, in Machtpositionen zu kommen, um diesen Trieb auszuleben.
In einer Zeit, in der die Horrorfilme und Dystopien aus den 80ern inzwischen von der Realität überholt werden, beharren die Hüter der herrschenden Lehre umso vehementer darauf, dass es Böses ja überhaupt nicht gebe. Sieht man auf das überwältigend Gute und Gerne, das sich uns aus allen Talkshows, Flatscreens und Plakaten entgegenwindet, dann könnte man ja in der Tat meinen, dass das Böse obsolet geworden ist.
Auch die medialen Meinungsführer und Influencer, die damit beauftragt sind, Schlaftabletten und Happy Pills zu verteilen, suggerieren uns mit diesem entwaffnend smarten Obamarezotilo-Smile, dass für den, der noch im Trockenen sitzt und sich zu amüsieren weiß, doch eigentlich eh alles ja ey lol mann sei. Wir müssten jetzt nur vernünftig sein und uns stramm hinter diejenigen evidenzbasierten Experten stellen, die Noam Chomsky als säkulare Hohepriester und Wachhunde der Machtelite bezeichnet hat: „Unite behind the science“ und das Gute und Gerne Leben kann weitergehen.
Dieser common sense kommt nicht von ungefähr. Die Kategorie des Bösen für nicht existent zu erklären bzw. zu zerschwätzen oder lächerlich zu machen („hihi, pöhse Chemie…“) gehört mithin zur Strategie des neoliberalen Zeitgeists und ihrer Schergen, um der vollendeten Ausschlachtung aller, insbesondere der humanen Ressourcen die Tore zu öffnen. Denn wenn es Gutes und Böses oder Moralisches und Unmoralisches gar nicht gibt, dann bleibt als einzig „vernünftiges“ Kriterium nur noch die betriebswirtschaftliche Effizienz. In dieser Hinsicht haben die Fritzen von McKinsey & Co. noch längst nicht das Maß des Machbaren ausgelotet. Wie weit in betriebswirtschaftlicher Hinsicht noch Optimierungsmöglichkeit besteht, können wir von Auschwitz lernen. Die neoliberalen Betriebs- und Volkswirte werden in einer Zeit sinkender Renditen jedenfalls nicht darauf verzichten, sich die Humanressource – die einzige auf dieser Welt nicht zur Neige gehende sondern exponentiell wachsende Ressource – auf möglichst evidenzbasierte Weise nutzbar zu machen.
Doch das geht nur, wenn man den Menschen zuerst den Geist aus ihren Köpfen bläst wie einem Ei den Dotter, wenn man Ostereidekorationen bastelt. In diesem Unterfangen leisten die Spindoctoren dieser Betriebs- und Volkswirte derzeit ganze Arbeit. Wenn Prof. Kreiß, selbst promovierter Volkswirt und Autor des Buches „BWL-Blenden, Wuchern, Lamentieren“, von einem Mephisto-Prinzip spricht, dem wir derzeit auf allen Ebenen huldigen, dann hört man aus dem Lager der Skeptizisten sofort wieder dieses „hihi, pöhse …“ (siehe Der Psiram Lehrmeister – Massentaugliches Infotainment und marktkonformer Brainfuck).
Das Böse? Fuck yeah, bro, das gab’s doch vielleicht irgendwann im Mittelalter, aber doch nicht in unseren strahlenden Zeiten der digitalen Transformation, in denen Gott KI seine Herrschaft antritt und Sheldon Coopers Kumpels das Chipsfuttern und Onanieren demnächst vom Serviceroboter „Sophia“ besorgt bekommen.
Auch die gerade in Idlib verschanzten Terroristen der HTS (früherer Name: Al Nusra und Al Kaida), sind laut Tagesschau gar nicht böse, sondern moderate Kopfabschneider. Deshalb werden ihnen auch von derjenigen deutschen Regierung, die das Gute und Gerne für sich gepachtet hat, aktuell 50 Millionen Euro überwiesen (2019: > 60 Mio.) – Steuergelder, die der tagesschauguckende Leitmedienbürger jedoch gerne springen lässt, wenn es darum geht, in der Welt wieder „Verantwortung zu übernehmen“ und dem Guten und Gernen Leben zum Endsieg zu verhelfen.
„Alles was ist, ist gut“ und was noch nicht ganz gut ist, könne man getrost den „Experten“ überlassen, die gerade am kommenden Paradies basteln. In dieses Credo stimmt derzeit fast jeder, der etwas auf sich hält, ein – knallharte Vertreter des Neoliberalismus genauso wie Vertreter der Microsoft-Esoterik: Alles ist gut. Und wenn Dein Leben noch nicht gut ist, dann hast Du Dich eben noch nicht richtig ins Zeug gelegt!
Einzig bei denjenigen Menschen, die noch von ihrem Denken Gebrauch machen und die 2+2 zusammenzählen, könnte man sich darauf einigen, das Prädikat „böse“ zu vergeben. Denn diese behindern das Kommen des alternativlos Guten, des Fortschritts, des technokratischen Paradieses, in dem der allmächtige, allwissende, nur leider nicht allgütige Gott KI dafür sorgen wird, dass alles mit allem vernetzt und nach streng wissenschaftlichen Kriterien geratet ist. Für Ketzer, die meinen, dass dieses gechippte, selbstfahrende und selbstbestrafende Paradies eher Dantes Eishölle gleichen wird, bereitet man bereits die digitalen Scheiterhaufen.
Böse? War gestern. Wir sind die Guten. Seit Beginn der Milleniumswende hat die Medaille bekanntlich nur noch eine Seite. Wer das nicht glaubt, kann es bei Wikipedia nachlesen, dem neuen Wahrheitsmedium, mit dem jetzt auch Youtube-Videos referenziert werden, ob sie wahr oder fake sind.
Dabei wäre gerade das eine der wichtigsten Aufgaben der Neuzeit: Das Böse in all seinen Facetten und als – auch dem Menschen immanentes – Prinzip zu erkennen. Dann kann man eventuell Wege finden, wie man diese bösen Aspekte sogar zu etwas Brauchbarem nutzt. Aber davon brauchen wir jetzt gar noch nicht reden, da uns schlicht das ABC und die Grundrechenarten des Bösen fehlen.
Wir würden uns wundern, wie schnell die Dinge wieder aufwärts gehen würden, sobald wir uns dieses ABC aneignen. Solange wir uns diesbezüglich jedoch dumm und gwupp stellen, und uns dabei auch noch spaßig und schlau vorkommen, wird es weiter bergab gehen – und zwar im Schweinsgalopp.
Ich habe Böse übrigens bewusst ohne die üblichen Gänsefüßchen geschrieben. Wen das Wort Böse stört, der kann meinetwegen ruhig „das Destruktive“ sagen oder dgl. – An Worten soll es da nicht scheitern und darf man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen … in Zeiten, in denen das Böse bzw. die totale Destruktion keine Scham mehr kennt und in den Gewändern des Guten, Gernen und Alternativlosen daherkommt.
Wer meint, dass Mephisto ein hässlicher, übel riechender Geselle mit Krötenhaut ist, hat weder Faust gelesen noch aufmerksam die Rolling Stones gehört:
„Please allow me to introduce myself
I’m a man of wealth and taste
I’ve been around for a long, long years
Stole many a man’s soul and faith
Pleased to meet you
Hope you guess my name
But what’s puzzling you
Is the nature of my game.“ (Stones, “Sympathy for the devil”)
Würde ja auch niemand auf ihn reinfallen, wenn der Advocatus Diaboli gleich als derjenige aufträte, der er eigentlich ist. Er muss sich also maskieren, um uns für seine Ziele zu gewinnen. Und mittlerweile beherrscht er die Kunst des Maskierens auch auf meisterhafte Weise. Selbst den Weg in das abgründigste Verderben vermag er uns als „Gutes und Gernes“ zu verkaufen und den eigenen Garaus als lustige Grillparty.
Einer, der sich ganz im Gegenteil auf die Kunst des Demaskierens versteht, ist Prof. Christian Kreiß. Als promovierter Volkswirtschaftler und Investmentbanker hat er sich selbst in Mephistos Labyrinthe begeben, in die er nun mit seinen Büchern „BWL – Blenden, Wuchern, Lamentieren (Untertitel: „Wie die Betriebswirtschaftslehre zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt“), „Gekaufte Forschung“, „Geplanter Verschleiß“ und „Werbung – Nein Danke“ hineinleuchtet. Allesamt hochkarätige Lektüre, in der Mephisto und seinen Schergen die Maske vom Gesicht gezogen wird. Es ist auch höchste Zeit, diese Maske herunterzureißen, denn Mephisto setzt gerade zum Endsieg an, ist dabei, uns in eine Sackgasse zu führen, aus der es womöglich kein Zurück mehr gibt.
Die Diagnose des Volkswirtschaftsprofessors ist eindeutig: „Unser Wirtschaftsleben ist schwer krebskrank und steht vor einer tragischen Bereinigung, sei es durch Depression, Bürgerkrieg oder Krieg – wenn wir nichts ändern.“ Er erklärt uns auch, warum diese Krankheit entstanden ist: Weil in unserem Schul-/Universitäts-/Medien-/Wissenschaftssystem Wahrheit nicht nur verabscheut, sondern systematisch und von Kindesbeinen an zerstört wird. Dass wir de facto dem mephistophelischen Prinzip huldigen (von hebr. mephiz=der Verderber und tophel=der Lügner). Dass diese Mechanismen der Lebenslüge und des Verderbens mehr unbewusst als bewusst ablaufen, ändert an ihrer Konsequenz nicht das Geringste. Nachdem wir die Ausbildung dieses Schul-/Universitäts-/Medien-/Wissenschaftssystems durchlaufen haben, sind viele von uns heute der Wahrheit sehr abhold, reagieren sogar mit vehementer Allergiebereitschaft, wenn sie irgendwo durchschimmert (…ich musss aufpassen, dass ich jetzt nicht wieder in mein Lieblingsthema „Gwup“ verfalle und aus zwei geplanten Einleitungsabsätzen ein elegischer Aufsatz entsteht). Derart konditioniert, sind wir dann auch bereit, solche Politiker*Innen zu wählen, die uns die Lebenslüge gut garniert servieren und uns mit dem Brustton der Überzeugung in Aussicht stellen, dass es so weitergehen könne.
Kreiß belässt es auch nicht beim bloßen Feststellen des Status Quo, er führt auch vor Augen, wie relativ einfach man den gegenwärtigen Verhältnissen eine Wende geben könnte – man bräuchte dazu zunächst nur die derzeit vorherrschenden (mephistophelischen) Glaubenssätze in ihr Gegenteil umdrehen.
Welchen Teufelskreisen wir derzeit unterliegen, wie Werbung systematisch die Wahrheit zerstört, warum sich Mephisto gerade diebisch freut und wie wir den armen Teufel überwinden können, wenn wir uns nur ein bisschen aufraffen, das erklärt uns Christian Kreiß in einem kurzweiligen Vortrag. Im Unterschied zu vielen anderen Ökonomen, die derzeit mit ihren Crash- und Finanzanalysen Rekordklickzahlen erzielen, ohne jedoch auch nur annähernd an die Wurzel des eigentlichen Problems zu gehen (was heute auch Grundbedingung ist, um in den Leitmedien herumgereicht zu werden), wagt sich Prof. Kreiß in ebendiese Untiefen hinab und manövriert dort auch mit sicherer Hand, sodass man nicht ohne Gewinn wieder auftaucht, wenn man ihn auf diesem Tauchgang begleitet.
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Sein demnächst im Buchhandel erscheinendes Buch „Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft“ hat Prof. Kreiß übrigens als PDF zum Download freigegeben: siehe
www.menschengerechtewirtschaft.de
In dem Buch finden sich auch gleichermaßen unerwartete wie aufschlussreiche Betrachtungen, z.B. dass mindestens 50% unserer Arbeitszeit nicht nur unnötig, sondern regelrecht schädlich verbracht wird, wie Wahrheit im heutigen Wissenschaftsbetrieb systematisch ausgeschaltet und wir in einem Zustand von „Trivialität und Leere“ gehalten werden sollen oder die Frage, warum Mephistopheles heute so großen Wert darauf legt, dass Architektur so trostlos und hässlich wie möglich erscheinen muss.
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