Foto: Henry David Thoreau_painted portrait /flickr/thierry ehrmann/cc by 2.0
Wer in einem Moor gewandert ist, kennt vielleicht schon die Erfahrung: Der feste Grund, auf dem man geht, gibt plötzlich nach und man beginnt im Schlamm einzusinken. – Man muss dann von Grasinsel zu Grasinsel hüpfen, hat jeweils nur ein paar Augenblicke Zeit, um das Ziel des nächsten Schritts anzuvisieren, da das Grasbüschel, auf dem man gerade steht, ebenfalls dabei ist, unter der Last des eigenen Gewichts unterzugehen.
Eigentlich ist das eine schöne Parabel für das Leben. Denn auch wenn wir uns noch so sehr mit Sicherheit und festen Verhältnissen einrichten wollen, ist es im Leben ja doch eine unbarmherzige Gesetzmäßigkeit, dass alles, was im Status Quo stehen bleiben möchte, stagniert und schließlich untergeht. Wir wollen nun nicht darüber nachdenken, was es für die Zukunft des Landes bedeutet, dass bei der jüngsten Bundestagswahl ein großer Teil der Wähler für Status Quo, also für Einsinken im Schlamm gestimmt hat, sondern die Sache etwas genereller fassen. Denn die Willenslähmung, die man heute trotz aller hochgradigen Intelligenz beobachten kann, wurzelt genau in diesem Umstand: Wir wagen keine wirklichen Entscheidungen mehr. Wir sind zu Bürgern geworden, die im Leben möglichst viel Wohlergehen und Glück erhalten wollen, aber möglichst keine Mühe aufwenden und vor allem keine Gedanken und selbstaktiven Zielsetzungen zum allgemeinen Fortschritt des von Jean Ziegler als „kannibalisch“ bezeichneten Weltgeschehens fassen wollen. Aus diesem Grunde werden wir von Jahr zu Jahr schwächer und zum Spielball fremder Interessen, sodass man uns mittlerweile sogar mit Nonsens-Zynismen wie „für ein Land, in dem wir gut und gerne leben“ einkaufen und uns das Fell über die Ohren ziehen kann.
Auch im Feld der Beziehungen ist man Entscheidungen heute sehr abhold und führt daher vielfach „Nicht-Beziehungen“ bzw. „Halb-Beziehungen“, die so unverbindlich sind, dass man nicht einmal Schluss machen muss, wenn man sie nicht mehr reizvoll genug findet. Die Diplom-Psychologin Wiebke Neberich berichtet (siehe welt.de): „Ich beobachte das tatsächlich als Phänomen: Viele Leute wissen nicht mehr, ob sie nun in einer Beziehung sind oder nicht. Auffällig wurde es für mich, als ich für die Humboldt-Universität eine Studie durchführte und zu Beginn des Fragebogens die demografischen Angaben abfragte, Alter, Geschlecht, Beziehungsstand. Zahlreiche der Teilnehmer haben hier nämlich kein Kreuzchen machen können – waren sie nun alleinstehend oder in einer Beziehung? Sie haben es schlicht nicht gewusst. Ich habe dann mit den Leuten gesprochen, die mir erzählten, sie würden sich zwar mit jemandem treffen, aber was genau das sei, das könnten sie nicht sagen.“
Lisa Fischbach, eine weitere Diplom-Psychologin sieht als Grund für die neue Unverbindlichkeit die Angst, andere, vielleicht bessere Möglichkeiten auszuschließen, wenn man sich eindeutig zu einem Menschen bekennt. Als „Mingles“ (von „mixed“ und „Single“) bezeichnet der Hamburger Trendforscher Peter Wippermann diejenigen, die in solchen Nicht- oder Halb-Beziehungen leben und nebenher auch noch eine Reihe anderer „Friends with Benefit“ ganz unverbindlich daten. „Die Zeiten, in denen ein Kuss oder zumindest der erste Sex es besiegelten, klarmachten, dass das hier nun eine besondere und exklusive Beziehung zwischen zwei Menschen ist, sind vorbei.“ Immerhin beschreiben die Psychologen auch, wie entwürdigend und aufreibend ein solch unverbindliches Leben ist und dass sich viele wieder nach echter Partnerschaft sehnen, in der man aufeinander bauen kann.
Offensichtlich kennen viele Menschen den Wert des eigenständigen Gedankenbildens und Entscheidens nicht mehr. Angesichts der sich überstürzenden weltweiten Ereignisse, mit denen wir heute rund um die Uhr medial konfrontiert – und überfordert – werden, scheinen diese inneren Vorgänge bedeutungslos zu sein. Dabei sind es geradewegs diese inneren Vorgänge, die den Menschen stabilisieren, sein wirkliches Selbstbewusstsein wieder aufrichten und ihn gegen die Tendenz der Vermassung und der damit einhergehenden Depression immun machen. Denn das Fällen einer Entscheidung mobilisiert immer denjenigen innersten Wesenskern des Menschen, aus dem heraus wir nicht „Wir sind Papst“, sondern „ICH“ sagen.
Entgegen der herrschenden Expertenmeinung ist es ganz und gar nicht einerlei, was man denkt und ob man entscheidet. Jede innerliche Entscheidung, und sei sie auch noch so klein, wird unweigerlich Folgewirkungen haben: Man bereitet sich damit nämlich nichts Geringeres als sein Schicksal. Mit jeder Entscheidung wird man ein Stück mehr zu dem, wozu man sich gerade entscheidet. Wer z.B. täglich lügt, macht sich dadurch sukzessive zum Lügner, wer betrügt, zum Betrüger. Wer etwas Hilfreiches tut, macht sich zum Wohltäter. Wer sich täglich mit Philosophie oder Musik beschäftigt, wird zum Philosophen / zum Musiker etc. Wer nichts tut, sondern bloß abwartet, was ihm das Leben oder die derzeit etablierten PolitikerInnen bieten, der wird zum – … ?
Viktor Frankl hat aus diesem Grunde den Menschen so definiert: „Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet. Und was entscheidet es? Was es im nächsten Augenblick sein wird.“
Indem man eine Entscheidung fasst, setzt man mächtige innere Hebel in Bewegung, die sich in weiterer Folge unweigerlich auswirken werden. Und es gibt täglich sehr viel zu entscheiden: Welchen Medien und welchen Persönlichkeiten man Glauben schenkt und welchen nicht mehr, welche Produkte man kauft und welche nicht mehr, welche Bücher man liest etc. Bedeutungsvoll sind hierbei nicht nur „handfeste“ Entscheidungen wie etwa darüber, ob man sein Geld bei der Räuberhotzenplotzbank oder lieber bei der Ethikbank oder GLS anlegt, sondern vielmehr auch „höchstpersönliche“ innere Entscheidungen: Was für ein Mensch will ich werden? Welche Eigenschaften will ich in meinem Leben entwickeln, welche Qualitäten ausdrücken? Mit welchen (medialen, literarischen) Quellen gieße ich mein Innenleben, damit diese Qualitäten wachsen können?
Welches Gerank wird in meinem Inneren wohl aufwachsen, wenn ich mit Spiegel, Bild und Hustler gieße?
Und was, wenn ich statt des abendlichen Dosenbiers vorm Flachbildschirm mit einem Schuss Goethe, Marc Aurel oder einem sonstigen Philosophen meiner Wahl gieße?
Welche blühende Vegetation könnte in meinem Inneren aufwachsen, wenn ich den Flachbildschirm überhaupt aus dem Wohnzimmer verbanne, meine innere Landschaft also nicht mehr einem täglichen Napalm-Bombardement ausgesetzt ist?
Welche Weltanschauung wähle ich? – Gar keine? Die herrschende Staatsreligion (den technokratischen Nihilismus)? Oder diejenige von Dieter Bohlen und Robber Williams („Eat as you can!“)? Die Auswahl an möglichen Weltanschauungen ist heute zweifellos groß und jeder kann hierbei frei wählen. Manche Weltanschauungen versprechen mehr Spaß, manche weniger. Man stelle sich aber auch hier eventuell die Frankl’sche Frage: „Wozu wird es mich machen?“ Denn in der Wahl sind wir vollkommen frei, im Tragen der Folgewirkungen dieser Wahl allerdings nicht mehr.
Die Liste an Entscheidungen, die täglich anstehen, ließe sich noch beliebig verlängern. Manchmal sind getroffene Entscheidungen auch falsch. Aber dann führen sie einen zumindest zu einer bestimmten Konsequenz, man lernt dazu und wird in Zukunft wach für bestimmte Dinge. Fatal ist in Wirklichkeit nur das Nicht-Entscheiden, das bloß passive Abwarten, was uns die Tagesschau oder die transatlantischen Katzenkloparteien bringen.
Entscheidet man sich innerlich für oder gegen etwas, dann bringt man bereits als Einzelner unweigerlich zahlreiche andere Dominosteine ins Fallen und somit Bewegung ins Spiel. Ein Mann, der von der weltbewegenden Kraft des Einzelnen sehr genau Bescheid wusste, war Henry David Thoreau. Als Sklaverei für den Bürger von damals noch etwas genauso Selbstverständliches war wie Drohnenmassaker für die Bundeskanzlerin von heute, konnte Thoreau mit Überzeugung sagen:
„Ich weiß dies genau: Wenn tausend, wenn hundert, wenn zehn ehrliche Männer, die ich benennen kann, ja sogar wenn ein ehrlicher Mann in diesem Staat Massachusetts aufhören würde, Sklaven zu halten, von der Kooperation mit dem Schlechten zurück treten würde und bereit wäre, dafür ins Gefängnis zu gehen, wäre das der Beginn des Endes der Sklaverei. Es zählt nicht, wie klein der Anfang sein mag; Was einmal gut getan wurde, ist getan für immer.“
Eine Entscheidung muss sich nicht sofort in einer bestimmten Tat äußern – jede Entscheidung IST bereits eine (innere) Tat, die aber nichtsdestoweniger unmittelbare Folgewirkungen im Äußeren nach sich ziehen wird – schon ganz einfach in der Art, wie man anderen Menschen oder bestimmten Umständen dann begegnen wird. Man kann sich z.B. entscheiden, dass man untragbaren Zumutungen wie etwa dem neoliberalen Imperativ der Ausbeutung (seiner Mitmenschen und seiner selbst) die innere Gefolgschaft verweigert, ebenso wie der Lüge (siehe „Im Griff der Würgeschlange“). Man wird durch solche inneren Entscheidungen fähig zu einer revolutionären Haltung mit sehr weitreichender Wirkung. Wenn man selbst Zeuge von Lüge, Rufmord oder Korruption wird, dann wird man das Spiel nicht mitspielen, sondern Rückgrat behalten. Man entwickelt wieder die heute kaum noch vorstellbare Kraft, im Sinne von Lothar Zanetti nicht mitzulachen, wenn alle lachen, nicht mitzuspotten, wenn alle spotten, zu denken, was keiner wagt zu denken:
Was keiner wagt, das sollt ihr wagen.
Was keiner sagt, das sagt heraus.
Was keiner denkt, das wagt zu denken.
Was keiner anfängt, das führt aus.
Wenn keiner ja sagt, sollt ihr´s sagen.
Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein.
Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben.
Wenn alle mittun, steht allein.
Wo alle loben, habt Bedenken.
Wo alle spotten, spottet nicht.
Wo alle geizen, wagt zu schenken.
Wo alles dunkel ist, macht Licht.
In diesem Sinne: Entscheiden Sie sich noch heute vor dem Zubettgehen für irgendeine Sache – Sie werden schon morgen als jemand aufwachen, der ein Stück weit anders geworden ist … und damit auch die Welt verändert hat.
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Allgemeines zur Kolumne „Endzeitpoesie 4.0 – Brennholz gegen Robotisierung und drohenden Erfrierungstod“:
Da in unserer aus den Fugen geratenden Welt vieles nicht mehr rational verstehbar und auch kaum noch ertragbar ist, brauchen wir dringend ein Gegengewicht aus dem Reich der Poesie … mit diesem geistigen Gegengift in den Adern wird vieles Unverständliche plötzlich wieder verständlich und Unerträgliches wieder ertragbar – oder noch besser: gestaltbar!
Denn die größte Lüge, die uns heute beigebracht wird, ist: dass der Einzelne ohnehin nichts tun kann. – Das genaue Gegenteil davon ist wahr: Es kommt auf jeden einzelnen an und das mehr als jemals zuvor. Und wie uns schon Dostojewskij erklärt hat, ist im Leben auch niemals etwas umsonst, selbst wenn eine Bemühung keinen sichtbaren Erfolg zeigt: „Alles ist wie ein Ozean, alles fließt und berührt sich; rührst du an ein Ende der Welt, so zuckt es am anderen.“
Gerade unsere geistlose Zeit braucht philosophische Gedanken wie eine Wüste das Wasser. Dieses Wasser – die Gedanken der großen Geister der Menschheit – gibt es schon lange. Aber die scheinbar alten – in Wirklichkeit ewig jungen – Gedanken bleiben nicht dieselben: Jeder, der sie aufgreift und verinnerlicht, färbt sie mit seiner individuellen Persönlichkeitsnote ein und bringt dadurch wieder ganz neue Farben in die Welt, die bisher noch nicht existiert haben. Und solche Farben braucht unsere grau gewordene Welt (siehe 1000 Gestalten.de) heute dringend – sie saugt sie auf wie ein trockener Schwamm das Wasser … damit wieder Neues, Kreatives, Menschliches entstehen kann.
In diesem Sinne wollen wir der pseudopragmatischen Alternativlosigkeit (siehe „Der Führer 4.0 – Er ist schon längst da“) die Gefolgschaft in den Grand Canyon verweigern und es lieber mit Ilija Trojanow halten: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“. – Dann kann die scheinbare Endzeit zu einem neuen Anfang werden.