Die zweite Welle ist gegessen. Eine medial-pharmazeutisch-lauterbachernde Übermacht will sie sich nicht nehmen lassen und manifestiert sie jetzt mit aller zu Gebote stehender Gewalt. Yes we can!, würde Obamas PR-Agentur, die für ihre elektrisierende Präsidentschaftskampagne auch den großen Preis der US Werbeindustrie gewonnen hat, ausrufen. Das Gebein, das diese zweite Welle hinterlassen wird, wird gewaltig sein. Aber es ist müßig, noch über darüber zu reden. Wer Erich Kästner gelesen hat, weiß, dass man eine Lawine gleich zu Beginn stoppen muss. Wenn sie schon ins Rollen gekommen ist, ist es zu spät. Lassen wir also die zweite Welle Schnee von gestern sein und reden wir über die dritte. Gegen diese dritte Welle wird uns die zweite womöglich wie eine Rutschpartie im Wellnessbad vorkommen.
Auch diese dritte Lawine bereitet sich gerade vor. Im Gegensatz zur zweiten befindet sie sich aber in einem Stadium, in dem wir sie eventuell noch stoppen können. Zumindest kann der Einzelne als Individuum entscheiden, ob er Teil der Lawine werden und damit mit ihr untergehen will oder ob er lieber einen anderen, wenn auch beschwerlicheren Weg ins Gebirge wählt.
Wenn wir sie nicht aufhalten, könnte sie uns alle canceln: Cancel Culture. Einige Experten für alpinen Lawinenverbau wie Milosz Matuschek treffen zum Glück bereits Vorkehrungen, um das Schlimmste zu verhindern (siehe „Appell für freie Debattenräume“). „Cancel Culture“ hat vielleicht nicht umsonst die gleiche Wortwurzel wie „Cancer“ – vielen dämmert mittlerweile, dass dieser Ungeist des Denunzierens Andersdenkender gewissermaßen Krebs für unsere Diskussionskultur ist und wir schleunigst etwas gegen diese Krankheit unternehmen sollten. Insofern auch der „Cancel God“ (siehe oben) nicht nur ein kopfloser, sondern auch ein zutiefst kranker Geist ist. Wer sich von ihm infiltrieren lässt, ist eigentlich arm dran. Er kann zwar als Vassalle dieses Ungeists in seinem Umkreis durchaus einigen Schaden anrichten (und am Gwupsofa gemeinsam mit Sheldon Coopers Kumpels auch Spaß daran haben), aber übersieht, dass er dabei den allergrößten Schaden sich selbst zufügt.
Indem man sich von diesem Umgeist leiten lässt, praktiziert man das Gegenteil von dem, was an sich gesundes Menschsein wäre: interessiert und wertschätzend auf seine Mitmenschen und neues Gedankengut zuzugehen, sich mutig auch unangenehmen Wahrheiten zu stellen. Wer hingegen in dem verharren möchte, was Vaclav Havel als Lebenslüge (*) bezeichnet hat und alle Anlässe zum Umdenken, die einem heute ja reichlich begegnen, brüsk abwehrt, stattdessen weiter die Lösemittelschwaden aus den Klebstofftüten der Relotius-Narrenspiegel und Südtäuschen Zeitungen inhaliert, um sich die Illusion des „guten & gernen“ Lebens aufrechtzuerhalten, der wird sich mit der Zeit selbst intoxinieren und den Garaus bereiten. Denn eine gesunde Verschaltung von Nervensynapsen ist in einer solchen Atmosphäre von Argwohn, Hass und Nichtwissenwollenschaft schlichtweg nicht möglich. Man weiß es aus der Umweltmedizin: Das Einatmen von Lösemitteldämpfen (VOCs) wirkt nicht nur betäubend, sondern zersetzt langsam das Zentralnervensystem.
Da es gar nicht so wenige sind, die diese Lösemitteldämpfe der Konsens- und Dissensmanufakturen lustvoll inhalieren und sich von der Cancel Culture willfährig instrumentalisieren lassen, sehe ich leider Massen an Frühdementen auf unsere Gesellschaft zukommen. Das, und nicht der Coronavirus, könnte unser Gesundheits- und Sozialsystem dann wirklich wie befürchtet sprengen.
(*) Zu Havels „Lebenslüge“:
Ein großes Missverständnis ist es wohl, wenn wir Wahrheit und Lüge als etwas Statisches ansehen. Damit soll Wahrheit nicht in die Beliebigkeit relativiert werden, was ein noch viel größerer Irrweg wäre, der heute auch eifrig beschritten wird. Was ich meine ist vielmehr, dass eine Einsicht, die gestern noch frisch und echt war, schon morgen ebenfalls zur Lebenslüge verholzt sein kann, wenn ich sie heute nicht neu erringe und weiterdenke. Wer sich gerade darüber wundert, warum so viele Künstler und kluge Menschen, die einstmals gute und brauchbare Gedanken formuliert haben und die man dafür zurecht geschätzt hat, heute ebenfalls verholzen, nur noch Abziehbilder ihrer selbst sind und sich als Multiplikatoren des zur Normalität erklärten Wahnsinns hergeben – das ist der schlichte Grund: sie haben sich auf ihren Lorbeeren bzw. auf ihrem kleinen Bauchladen an Liedern und Erkenntnissen ausgeruht, dachten, dass sie schon den Bogen `raus hätten und die Dinge checken. Sokrates, dessen Wahlspruch zeitlebens „Scio, nescio“ (Ich weiß, dass ich nicht weiß) war, hätte absehen können, wozu eine solche Haltung führt.
Doch man musste nicht einmal Philosoph sein, um das Schlammassel vorauszusehen, in dem wir jetzt stecken. Sogar ein verschlagener Fuchs wie der US Präsidentenberater Brzeziski hat lächend gemeint, dass die herrschenden Mächte von den Bürgern einer Demokratie nicht viel zu befürchten hätten und man die „aufgeklärten“ Bürger ruhig schwätzen lassen könne. Denn sie würden sich nach Ansicht Brzezinskis mit der Zeit schon selbst zerschwätzen.
Rechts: Zbignew Brzezinski (Public domain / U.S. Federal Government)
Brzezinskis Vorhersage ist nun auf breiter Front eingetroffen. Er wusste, dass die intellektuelle Eitelkeit den meisten Bürgeraktivisten zum Verhängnis werden wird, da diese im eigenen Wertekanon meist über allem anderen steht. Nicht wenige Intellektuelle und Panikrocker würden sich ja insgeheim wünschen, dass diese Coronapandemie nun in Form einer „zweiten Welle“ wirklich wahr wird, einfach, damit die Welt sieht, dass sie Recht gehabt haben, als sie auf dem Gaul der Drostologie mit der Papaya(„PCR“)-Testlanze als prechtige Ritter der Neuen Normalität davongaloppiert sind.
Doch das Zurückschauen auf diesen gordischen Koronaknoten soll nicht dazu führen, dass wir uns gegenseitig noch mehr Vorwürfe an den Kopf werfen. Das ist fruchtlos. Fruchtbar ist es einzig, wenn man das, was man einsieht, als erstes auf sich selbst anwendet. Und das besagte Verholzen kann man genausogut bei sich selbst beobachten und muss sich hüten, in diese Falle reinzutappen. Wie oft hat man nicht selbst schon eine Sache oder einen Menschen bloß aus seinem abgespeicherten Fundus an Erfahrungen und (Vor-)Urteilen beurteilt anstatt mit unbefangenem Interesse und Aufmerksamkeit? Machen wir es nicht sogar jeden Tag so? Und verpassen auf diese Weise nicht hundert wertvolle Gelegenheiten? Anstatt über eine kaum noch erträgliche gesellschaftliche Ignoranz zu klagen (und dafür wütende Reaktionen einzukassieren), steht einem diese Möglichkeit immer frei und niemand kann einen davon abhalten: Sich selbst an der Nase zu nehmen und sich aus der Ignoranz, die, wenn man ehrlich zu sich ist, auch im eigenen Keller nicht zu knapp gestapelt ist, jeden Tag ein Stück weit mehr zu befreien. – Gleichzeitig mit diesem Auftauchen aus dem Keller kann im übrigen auch der individuelle Immunstatus um einige Etagen nach oben fahren und braucht man sich vor allwinterlichem Virengewimmel nicht mehr zu fürchten.
Denjenigen, die das nicht machen, sollte man nicht zürnen. Man darf sie bedauern, sie werden sich von nun an selbst erledigen. Denn die Zeit, wo man mit einem Dosenbier vor der Umnachtungsschau („Tagesschau“) vor sich hindämmern und mit dem Round-up-ready Brei mitschwimmen konnte, sind vorbei. Die Investoren wollen Return of Investment, ihre Metzger wetzen bereits die Messer bzw. machen die Injektionsnadeln scharf. Nichtwissenwollen hat begonnen, tödlich zu werden. – Nicht mehr nur für die Menschen auf der anderen Seite des neoliberal vergewaltigten Globus.