Sonntag, 18.11.2012. Eifel. Sonntag ist ja der philosophischste Tag der Woche, hier hat sogar Gott selbst geruht und sich Gedanken über seine Schöpfung gemacht. Er fand sie gut – auch wenn er mit dieser Meinung ziemlich alleine dasteht. Sonntag ist der Tag, wo man sich mal Gedanken über ganz andere Themen machen kann – oder wildere, mutigere Perspektiven annehmen darf. Das machen Menschen schon seit Jahrtausenden – früher nannte man sie Philosophen (ein Titel, den heute hauptsächlich diejenigen tragen, die die Biographien dieser Denker auswendig aufsagen können). Plato zum Beispiel war einer jener Denker (wobei hinter ihm eigentlich eher Sokrates stand, durch den altägyptische Mystik in das griechische Denken eingeflossen ist). Er hatte das bekannte Höhlengleichnis in das westliche Denken eingebracht, welches oft und gerne zitiert wird. Die Quintessenz dieses Gleichnisses – reinste Esoterik – ist einfach: die Welt, die uns unsere Sinne repräsentiert, ist nur ein schöner Schein, die Wirklichkeit steht als oberste Macht dahinter, bringt als Licht erstmal die Schatten der Welt in die Existenz und stellt das ABSOLUT GUTE da. Vierhundert Jahre später nannten die Christen das Gott. Nun ist Esoterik ja – wie Verschwörungstheorien, Ufos, paranormale Fähigkeiten, Nahtodeserfahrungen, Geistererscheinungen und Kommunismus ja ein Begriff, der im Kapitalismus – unserer herrschenden, „alternativlosen“ Kultur – mit einem großen Tabu belegt ist: darüber spricht man nicht, wenn man nicht für vogelfrei erklärt werden möchte. Ein ähnliches Tabu hat – nebenbei bemerkt – der Begriff Krieg, dabei befinden wir uns aktuell mitten drin, siehe Spiegel:
Die Nato plant einem Bericht zufolge den Einsatz von Luftabwehrraketen an der türkisch-syrischen Grenze – mit Unterstützung der Bundeswehr. Die Grünen warnen eindringlich davor, sich in den Konflikt einzumischen. Verteidigungsminister de Maizière spricht indes von Bündnissolidarität.
Das heißt konkret: der Bündnisfall ist eingetreten, die Nato bekennt sich dazu, das der Kriegsfall eingetreten ist – denn nur dann kann man sich auf die Notwendigkeit der Bündnissolidarität berufen. Wo ist der Aufschrei der sogenannten „linken Kampfpresse“ (ein ehedem rechtes Schmähwort, das heutzutage schon wie ein Lob klingt)? Wir sind im Krieg – einem Krieg, der sich ganz schnell zu einem Weltenbrand ausweiten kann, wenn man sich die Bündnisverflechtungen ansieht. Vor allem: wir kennen das schon. 1914 jährt sich bald zum hundertsten Male – und wenn wir den Prozess nicht aufhalten, werden wir den hundertsten Geburtstag unter dem Klang von Luftschutzsirenen verbringen.
Nun ist jedoch Sonntag, und jeder hat sicher Verständnis dafür, das wir diesen Tag nicht mit politischem Einerlei verbringen wollen. Was interessiert uns schon wirklich der sich anbahnende Weltenbrand, wo wir doch ganz andere Probleme haben?
Aktuell haben wir ja hier auf die Notsituation hingewiesen, in der sich Holdger Platta befindet. Ich schätze ihn als Autor sehr, habe aber auch noch einen Artikel aus der Psychologie heute von 1997 in Erinnerung (hier aus Psiram): Das Böse ist gut. Ein sehr treffender Artikel, der äußerst bedenkliche Erscheinungen innerhalb der „esoterischen“ Bewegung des Westens beschreibt – und einen großen Denkfehler begeht. Sicher findet sich innerhalb der Esoterik faschistisches Gedankengut, ein erbärmlicher Führerkult und eine brandgefährliche fatalistische Philosophie. Im Umkehrschluss zu behaupten, deshalb sei Esoterik böse, ist aber in etwa so, als würden wir behaupten, Politik sein generell böse, weil Hitler ein böser Politiker war, Menschen seien böse, weil Haarmann aus Kindern Wurst gemacht hat, Medizin sei böse, weil Mengele ein Arzt war oder alles Geld sei falsch, weil es Falschgeld gibt.
Wir akzeptieren solche Artikel aber klaglos, weil der Kult des Kapitalismus (und sein verzerrtes Spiegelbild: der Staatsmonopolkapitalismus, heute auch gerne Kommunismus genannt) dies fordert. Es ist immer leicht, auf Menschen einzudreschen, die nach der Begegnung mit der Wahrheit etwas desorientiert in der Alltagswelt herumlaufen – aber davor hatte schon Plato gewarnt:
So verhält es sich auch mit der Seele einer Person, die nach einem Übergang in einen anderen Erfahrungsbereich verwirrt ist und etwas nicht erkennen kann. Der Betreffende sollte nicht ausgelacht werden. Es kommt darauf an, ob er aus dem Licht der Wirklichkeitserkenntnis kommt und sich nun von ungewohnter Finsternis umhüllt findet oder ob er aus relativer Unwissenheit in einen Bereich größerer Klarheit, die ihn nun blendet, vorgedrungen ist. Diese beiden gegensätzlichen Ursachen können die gleiche Wirkung hervorrufen, was für die Einschätzung der jeweiligen Situation von grundlegender Bedeutung ist.
Ein Warnung, die 2500 Jahre alt ist und heute auf die Spitze getrieben wird: unsere Wahrheitssucher landen ganz schnell in der Psychiatrie – wo viele von ihnen möglicherweise gar nicht hingehören. Viele, die dort landen, haben nur einen anderen Zugang zur Wahrheit, eine andere Perspektive der Welt, ein anderes Interpretationssystem der Wahrheit – und dies ist noch viel älter als die gesamte Philosophie. Ich spreche hier vom „Schamanismus“ (auch so ein verwestliches und verwurstetes Wort), von jenen Menschen, deren Art der Welterfahrung sie früher zu Sehern, Orakeln, Schamanen, Medizinmännern, Zauberern, Philosophen, oder Mathematikern gemacht hatte. Mathematiker? Ja, anders als gerne öffentlich verbreitet galt die Mathematik als esoterische Wissenschaft, für die Pythagoreer war die Zahl der Urgrund des Seins, das Universum voller mathematisch erfassbarer Harmonie, die selbst schon den Beweis für die Existenz des Göttlichen lieferte und – nebenbei – die Unsterblichkeit der Seele bewiesen. Ähnliche Beobachtungen machen Mathematiker auch heutzutage, allerdings ist mir eine entsprechende Studie, die anfang der achtziger Jahre an der Ruhruniversität Bochum gemacht wurde, nicht mehr zugänglich.
Heute sperren wir diese Menschen fort und betäuben sie mit Medikamenten. Und auf jeden Fall werden sie ausgelacht – wie schon seit Jahrtausenden. Was dabei ausgelacht wird, ist – welch Wunder – die Wissenschaft selber. Niemand geringeres als Aristoteles selbst, der die Esoterik als streng wissenschaftlichen philosophischen Unterricht von jenen Lehren abgrenzte, die eher – weil sehr einfach geschrieben – für die Öffentlichkeit gedacht waren. Dies kann bis heute gelten – in einer Kultur, die sich auf den Satz des Pythagoras beruft, ihn jeden seiner Bürger auswendig lernen lässt, aber die damit verbundene Seelenlehre ohne jede wissenschaftliche Prüfung und ohne jeden philosophischen Diskurs mit einem Tabu belegt und somit im Sinne des platonischen Höhlengleichnisses per Diktat bestimmt, das wir uns nur noch um die wesentlich unbedeutendere Schattenwelt zu kümmern haben.
Wer waren die ersten Menschen, die sich gegen den Kult des Bohemian Grove wandten?
Zauberer. Leider funktioniert der Link in jenem alten Artikel nicht mehr, was sehr bedauerlich ist, da hier eine Fassung bzw. ein Zusammenschnitt der Erfahrungen des Alex Jones im Zusammenhang mit dem Bohemian Grove zu sehen war, die ich heute in der Art nicht mehr finde – vielleicht auch, weil Jones die dort zu sehenden Menschen als „Spinner“ abtat. Kundiges Auge erkannte ihre Symbole, Rituale, Segenssprüche und Gesänge gleich – es war eine sehr große Gruppe aus dem Bereich des westliche Wicca/Paganismusspektrum (von denen einige sich danach aufmachten, gegen den nächsten G 8 Gipfel zu demonstrieren). Schon lange vor Alex Jones haben gerade sie sich aufgemacht, mit aller ihnen zu Gebote stehenden Macht (wie real die wirklich ist, sei dahingestellt) gegen einen Ort anzugehen, der ihnen als einer der düstersten Orte der Menschheitsgeschichte vorkommt.
Vielleicht haben sie Alfred Schütze gelesen, einen Anthroposophen, der 1951 das Werk „Das Rätsel des Bösen und die Erscheinung des Antichristen“ veröffentlicht hat und dort zu erkennen gab, das er mit einem Tempel des Antichristen auf Erden im Reich der falschen Christen aus dem Westen rechnete. Meine Ausgabe ist von 1982, Fischer Verlag – und ich möchte mal ein paar Sätze dieses „Esoterikers“ zitieren, geschrieben frisch aus den Erlebnissen des letzten großen Krieges heraus:
Was wir erlebt haben – die Blutorgien, den kalt-zynischen Zerstörungswahnsinn und menschenmordenen Geschehnisse und Folgen des Krieges – ist in seiner Furchtbarkeit überhaupt nur zu begreifen als Ergebnis von solch zeitweiligen Eingriffen ahrimanischen Wesens in dafür vorbereitete Menschen. Und doch kann das alles nur als Artefakt zu noch stärkeren dämonischen Attacken gewertet werden, deren Kulminationspunkt die Erscheinung des Antichrist werden wird.
Schütze bezieht sich auf biblische Bilder von dem „Greuel der Verwüstung“ … unter dem er „wirkliche schwarze Magie“ versteht, die weit entfernt ist von dem, was wir heute darunter von der bunten Presse serviert bekommen.
Wirkliche schwarze Magie, die es auf der Erde vorläufig wohl nur in geringem Umfang gibt, hat das Ziel, die unmittelbare Anwendung ahrimanischer Mächte durch kultusartige Verrichtungen herbeizuführen.
Im Jahre 2012 erleben wir das, was Schütze 1951 „ahrimanisch“ nannte, als dominante Philosophie, jener kalte und zynische Geisteszustand, den unsere Kultur als höchstes Gut feiert und der als Qualitätsmerkmal einer „aufgeklärten Leistungselite“ gilt, begegnet uns in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft jeden Tag – mit entsprechenden Folgen – und im Bohemian Grove haben wir (aus der Sicht eines Anthroposophen, jener Denkrichtung, der wir die von uns hochgeschätzten Walldorfschulen zu verdanken haben) jenen Ort der „kultusartigen Verrichtung“, vor dem Schütze gewarnt hat.
Deshalb wenden sich Schamanen, Geistheiler, Zauberer, Medizinmänner aller Kulturen gegen diesen Ort, während die „ahrimanische“ Kultur ihn völlig ignoriert – oder gibt es jetzt nach vielen Jahren der unbeantworteten Fragen über diesen Ort jetzt vielleicht endlich unabhängige Untersuchungen über den Kult, der dort betrieben wird? Nein – er wird von der Presse weiträumig gemieden … in etwas ebenso weiträumig wie aktuell die Tatsache, das sich Deutschland in einem heißen Krieg mit Syrien befindet.
Natürlich ist es leicht, sich über diese „Esoteriker“ lustig zu machen, jene Menschen, die nach Aristoteles nichts anderes tun, als „streng wissenschaftlichen philosophischen Unterricht zu praktizieren“. Das Lachen bleibt einem am Vorabend des neuen Weltkrieges jedoch schnell im Halse stecken – und es ist nicht nur der Krieg, der für die im Grove versammelte männliche Machtelite des Westens steht. Nebenbei – fernab von Schützes Alltagserfahrungen – steht die Kultur des Westens für eine Kultur des Todes, wenn man eine nüchterne Bilanz ihrer Wirkungen auf die Menschheit zieht. Keine Kultur zuvor hat so sehr in die Bedingungen menschlichen Überlebens eingegriffen, keine Kultur zuvor hat soviel Gift in die Welt gebracht wie unsere, den Krieg so sehr perfektioniert wie unsere oder eine Wirtschaft ins Leben gerufen, die unser gesamtes Überleben in Frage stellt, wenn wir nicht schnell neue Planeten erhalten, die uns die verbrauchten Ressourcen nachliefern.
Urteilen wir aus der Sicht eines griechischen Philosophen, eines jenen Menschen, der von sich behauptet, das Licht des absolut Guten wahrgenommen zu haben, so kann man nur zu dem Urteil kommen, das jene Kultur, die ihre „Esoteriker“ gnadenlos verfolgt, einfach nur teuflisch zu nennen ist – wobei wir die reale Existenz eines Teufels gar nicht zu behaupten brauchen … es reicht eine nüchternde Betrachtung der gelebten Werte, Werte, die umso zerstörerischer in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft wirken, je intensiver sie gelebt werden.
Provokant könnte man sagen: unsere Gesellschaft glaubt zwar nicht an den Antichristen … aber sie dient ihm auf allen Ebenen perfekt und mit Inbrunst, was entsprechende historische Realitäten nach sich ziehen wird.
Aus dieser Perspektive heraus ist es überhaupt nicht verwunderlich, das sich ein John Perkins dem Schamanismus zuwendet. Er, der die Installation des neuen Imperiums persönlich vorangetrieben hat, bevor er vom Saulus zum Paulus wurde, ist nicht Kommunist geworden, nicht Sozialist oder Sozialdemokrat – in vorderster Front kümmert er sich um das Überleben der indigenen Völker des Amazonas … und ihrer schamanischen Kultur. Unter der Webseite „Dreamchange.org“ findet man reinsten esoterischen Zauberkram – und unter seiner Liste der „wakeful Organisations“ zentrale Akteure jener Wicca-Kultur, die schon gegen den Bohemian Grove demonstrierte, als er für Alex Jones noch nur ein Mythos war.
Da schließt sich der Kreis wieder – und offenbart uns die viel gescholtene „Esoterik“ als letzten Widerstand gegen eine Kultur des Todes, die für unsere Gesellschaft „alternativlos“ geworden ist – selbst am Vorabend eines globalen Weltenbrandes, nach einer nicht enden wollenden Wirtschafts- und Umweltkrise und zunehmender Verarmung der westlichen Bevölkerung inmitten eines nie dagewesenen Reichtums.
Nun versteht man vielleicht auch eher, warum all jene Themen von unserer Gesellschaft tabuisiert werden, die über den Kreis der Kultur des Todes hinausreichen – obwohl wir Pythagoras in seiner Mathematik kritiklos folgen und den Waldorfschulen gedankenlos unsere Kinder anvertrauen. Ob nun die Existenz außerirdischer Intelligenzen oder die Existenz einer unsterblichen menschlichen Seele: alles, was die Macht einer Kultur des Todes in Frage stellen könnte, ist verboten.
Und so wird sie alternativlos – doch so weit denken nur wenige, die gegen die „Esoterik“ argumentieren, ohne zu vergegenwärtigen, aus welcher Perspektive sie dies tun: es ist die Perspektive jener kalten und zynischen Kultur, die von Nächstenliebe nichts hält – aber ungebremsten Egoismus vergöttert.
Wahrscheinlich brauchen wir wieder die Erfahrung des globalen Weltenbrandes um zu verstehen, warum im Schützengraben keine Atheisten existieren – und vielleicht werden wir dann wieder zu urchristlichen Vorstellungen zurückkehren, Vorstellungen, die für uns völlig esoterisch sind: das der Begriff „Gott“ für das Leben selbst steht, für alles Lebendige und seine Ausdrucksformen, für jene Kraft, die der toten Materie Lebendigkeit verleiht – jene Lebendigkeit, die sie im Tode wieder verliert
Und ich persönlich hoffe sehr, das jene breite Front von Esoterikern, Sehern und Weltreligionen irren, die einen „zweiten Tod“ für jene Seelen prognostizieren, die mit ihrer nachtodlichen Existenz nicht klarkommen und jede Hilfe von außen verweigern: ihnen droht als Seele die endgültige Auslöschung als Folge eines festen, ideologisch zementierten materialistischen Glaubens.
Sollten die nämlich Recht behalten, dann wird unsere Kultur des Todes zum größten Holocaust der Weltgeschichte … mit Folgen, die man nur außerordentlich teuflisch nennen kann: die völlige Vernichtung von Milliarden bewußter Seelen: Themen, wie wir nur noch als Horrorroman begreifen können, obwohl sie aus der Sicht der Religionswissenschaft für die absolute Mehrheit der Menschheit erlebbare „Wahrheit“ darstellen.
PS: zwei Worte noch zum Abschluss.
1. Den Aufruf für Holdger haben wir auf ausdrücklichem Wunsch von ihm selbst gelöscht. Er selbst hatte da große Bedenken.
2. Ein dringender Rat: Finger weg von „Esoterik“. Was unsere kalte und zynische Leistungselite dort in die Bücherregale hinstellt, ist größter, gemeingefährlicher Mumpitz (oder auch: finsterste, schwarze Magie, wenn man das so sehen will) den ich hier auf keinen Fall verteidigen möchte. Aristoteles konnte aber damals auch noch nicht wissen, das man das Wort mal als Aufkleber für exoterischen Unsinn verwenden würde – aber dem Teufel, dem großen Lügner und Blender, ist ja alles zuzutrauen, oder?
Ostermontag 2011. Zeit, einige Reflexionen abzuschließen. Im Managementtraining nennt man das „Refraiming“ – den Dingen einfach mal einen neuen Rahmen geben – für eine gewisse Zeit. Um neue Perspektiven zu entdecken, alte Denkgewohnheiten in Frage zu stellen, die eigene Position kritisch zu überprüfen. Ostern, das zentrale Fest der „Christenheit“, ist ein guter Tag, denke ich, um mal alles aus der Perspektive von Christen zu betrachten, die ja politisch und kulturell unsere Staatsgemeinschaft prägen sollen. Ich gestehe – ich habe zu diesem Zweck das erste Mal im Leben das Evangelium des Matthäus gelesen. Sehr fremd … aber gerade das ist ein guter Ausgangspunkt für Refraiming. Je fremder der Rahmen ist, den man der eigenen Wirklichkeit zum Abgleich überstülpt, umso deutlicher fallen die Ecken und Kanten der eigenen Weltsicht auf. Refraiming hat Nebenwirkungen. Eine wichtige Nebenwirkung ist, das „Alternativlosigkeit“ aus der eigenen Weltsicht verschwindet, Dogmatismus sich in Luft auflöst und moralische Engstirnigkeit kaum noch Platz zum Überleben hat – vielleicht ein Grund, weshalb diese Kunst kaum noch angewendet wird. Es wäre schwer zu erklären, warum wir den fortschrittlichsten Sozialstaat in Afrika angreifen, siehe Welt:
Auch die Familienförderung ist in Libyen vorbildlich. Brautpaare erhalten 64.000 Dollar, um eine Wohnung erwerben zu können, und für ein Neugeborenes bezahlt der Staat 7000 Dollar. Wer ein Unternehmen gründet oder ein Geschäft eröffnet, erhält ein einmaliges Startkapital von 20.000 Dollar. Die Ausbildung und die medizinische Versorgung sind im libyschen Staatssozialismus kostenlos, Frauen werden wie nirgendwo in der arabischen Welt gefördert.
Schon deshalb würden die Rebellen scheitern, die nur ein Viertel der libyschen Bevölkerung repräsentierten. Gaddafi habe sein Volk seit den Nato-Angriffen bewaffnet, achtzig Prozent der Bevölkerung im Westen Libyens stehen hinter dem Regime.
Die Versicherung, das man Gaddafi nicht töten wolle, ist auch nicht mehr das Papier wert, auf dem sie geschrieben wurde, siehe Spiegel:
Sollte diese Attacke den Diktator töten? Die Nato hat in der Nacht schwere Luftangriffe auf Tripolis geflogen und dabei auch Anlagen des Machthabers Gaddafi unter Feuer genommen. Ob er sich in dem Komplex befand, ist aber unklar.
Ich frage mich: was erwartet die Bevölkerung eigentlich unter neuem Management? Welche Pläne hat die Nato, die Stellung der lybischen Frau zu sichern? Von tunesischen Frauen hörte ich schon, sie würden nicht vor der Armut sondern vor den tunesischen Männern fliehen. Wieviel werden wir den jungen Brautpaaren, den Arbeitslosen und den Unternehmensgründern bezahlen? Ersetzen wir die zerbombten Zivilgebäude … oder demonstrieren wir, das wir einer anderen Ethik folgen, einer Ethik, die aus Werbegründen noch einen christlichen Aufkleber auf dem Jagdbomber plaziert hat? Die Frage, ob unsere Waffen auch wieder mal vom Militärbischof gesegnet worden sind, will ich gar nicht mehr stellen – ich fürchte die Antwort.
Arthur Schopenhauer war in der Beantwortung der Ethik seiner Mitmenschen ähnlich gnadenlos wie er urchristliche Wanderprediger: an ihren Taten sollt ihr sie erkennen, meinte der, was ein Mensch will, ist das, was er tut, nicht das was er wünscht, meinte Schopenhauer.
Wir wünschen, ein christlicher, demokratischer, dem Frieden verpflichteter Rechtsstaat zu sein. Als solcher sehen wir uns gerne – und wenn der Islam an unsere Tür klopft, hängen wir auch gerne das christliche Schild vor die Tür: „geschlossene Gesellschaft“. Wenn man aber sieht, was wir tun – auch wir Deutsche – so würde das ethische Urteil der zuvor genannten Herren wohl anders ausfallen, siehe Spiegel:
Rund 1,5 Billionen Dollar haben die Staaten der Welt im Jahr 2009 zusammen für ihr Militär ausgegeben, hat das anerkannte Stockholmer Institut für Friedensforschung (SIPRI) berechnet. Im Vergleich zu vor zehn Jahren sind die Militärsausgaben damit um fast 50 Prozent gestiegen. Nahezu drei Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung sind direkt auf Investitionen ins Militär zurückzuführen.
Am meisten Geld investieren nach wie vor die USA in ihre Armee. Mit einem Militäretat in Höhe von 661 Milliarden Dollar waren sie 2009 für 43 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben verantwortlich. Doch die Schwellenländer holen auf. Bereits auf Platz zwei der Liste der größten Militäretats der Welt folgt China, das laut Sipri geschätzte 100 Milliarden Dollar für seine Verteidigung ausgibt. Auch Russland (53 Milliarden Dollar, Platz fünf), Saudi-Arabien (41,3 Milliarden, Platz acht) und Indien (36,3 Milliarden, Platz neun) schaffen den Einzug in die Top Ten.
Wir Deutschen verdienen ganz gut an diesem Geschäft -und damit es weiter läuft, wird es wohl den einen oder anderen Krieg geben müssen. Wir pflegen eine Kultur des Todes, die eben ab und zu auch von uns verlangt, das Bomben geworfen werden. Ohne Einsatz kein Umsatz. Wir haben damit kein Problem mehr, weil wir ein „Gewissen“ abgeschafft haben. Sich mit „Gewissen“ auseinanderzusetzen, ist in der Kultur des Todes nicht mehr leicht: es gibt eine Herrschar von Psychologen, Soziologen und Philosophen, die es im Dienste der Rendite fortgeredet haben: Moral schadet der Rendite – überall. Würden wir überall gerechte Löhne zahlen, faire Preise bieten, Menschenrechte über Renditeansprüche stellen, wäre die Welt ein wunderbare Ort, aber es gäbe kaum noch Superreiche.
Eine Schwelle, die bei der Abschaltung des Gewissens zu überwinden ist, ist die Religion – weltweit. Nicht, das sich Religion nicht missbrauchen ließe, das steht wohl völlig außer Frage. Religionen werden nun mal von Menschen gemacht … und deren Mangelhaftigkeit steht nicht nur im Fokus christlicher, jüdischer oder muslimischer Religionen, sondern auch im Fokus der anderen Weltreligionen. Das der Mensch heilig wird, in dem er sich ein Symbol auf die Jacke näht, ist ein Gerücht. Aber hinter „Religion“ steht möglicherweise noch etwas anderes. Möglicherweise gibt es ein Feuer der Realität, das zum Rauch der Legenden paßt. Das wäre schlimm fürs Geschäft, denn dann hätten wir: die Stimme Gottes im Menschen. Die muß unbedingt ausgeschaltet werden, weshalb wir ja auch mehr und mehr eine Werterelativität predigen.
Diese – materialistische – Werterelativität endet natürlich an gewissen Grenzen. So ist es in Ordnung, wenn man Bomben auf einen bösen Diktator wirft, es ist aber böse, wenn man Manager kritisiert, wie unser Bundespräsident, Rotarier und „Pro Christ“ Christian Wulff ausführt, siehe Spiegel:
Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff hat in der Talkshow „Studio Friedman“ einen gefährlichen Vergleich gewagt: Der CDU-Politiker verglich die Debatte über Managergehälter in Deutschland mit einer „Pogromstimmung“.
Manager … sind die Priester jener neuen Religion, deren Götter die Konzerne darstellen, deren Tempel in den heiligen Räumen der Banken zu finden sind, und deren Religion … eine Religion des Todes ist, der die Kultur des Todes auf dem Fuß folgt. Legt man diesen Glaubenssatz zugrunde, lösen sich die vielen Fragezeichen angesichts der moralischen Piroutten unserer Kultur auf. Es ist – wie Religion an sich – eine Frage des „Glaubens“, was in religiösem Sinne bedeutet, das man einer Weltanschauung kritiklos vertraut … und wer würde hierzulande „Wachstum“, „Aufschwung“ oder „Rendite“ ernsthaft in Zweifel ziehen?
Zweifelt man aber nicht, ist man schnell in der beliebten weil verantwortungsfreien Welt der „Alternativlosigkeit“. Gerade moderne Politiker fühlen sich dort sehr wohl. So ist der moderne Politiker eher ausführendes Organ einer alternativlosen Wirklichkeit. Wer die letztlich denn dann gestaltet, wird nicht mehr hinterfragt.
Hierzu ist es hilfreich, wenn man die unangenehmen Gefühle, die durch Bomben zerfetzte Kinderleiber in einem erzeugen, unterdrücken kann. Weltweit in allen Kulturen sieht man das nicht so gerne. Hier wird gerne nach Vernunft gerufen – und nach „Desensibilisierung“. Die US-Armee hat hier ihre Erfahrungen gesammelt, siehe Süddeutsche Zeitung:
Es ist gar nicht so einfach, jemanden dazu zu bringen, Menschen zu töten. Das zeigen beispielsweise Erfahrungen aus dem zweiten Weltkrieg, als Brigadegeneral S.L.A. Marshall das Verhalten der Soldaten in der Schlacht untersuchen ließ.
Lediglich 15 bis 20 Prozent der Soldaten brachten es über sich, auf einen sichtbaren Gegner zu schießen. Als das Militär sich dieses „Problems“ bewusst wurde, haben sie es beseitigt. Im Korea Krieg waren schon 55 Prozent der Soldaten bereit, zu schießen, in Vietnam waren es dann neun von zehn. Um dieses Ziel zu erreichen, hat das Militär effektive Methoden eingeführt. Unter anderem Desensibilisierung, Operante Konditionierung und Rollenmodelle.
Die Kultur des Todes muß gezüchtet werden – weil sie nicht der Natur des Menschen entspricht. Es gibt ein Problem mit … dem „Gewissen“. Sogar bei professionellen Killern, siehe Welt:
Es gibt Mafiosi in mystischen Krisen. Zum Beispiel Leonardo Vitale. Das war ein Mafioso, der noch vor der Zeit der Abtrünnigen zur Polizei ging und sagte, er könne das nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren. Dem hat keiner geglaubt. Der wurde in die Psychiatrie eingeliefert. Da war er über 10 Jahre. Die einzigen, die ihm glaubten, waren Mafiosi. Die haben ihn sofort umgebracht, als er aus dem Hospital raus kam.
In der Kultur des Todes gibt es für Menschen die aus Gewissensgründen keine Morde begehen können nur einen Platz: die Psychiatrie. Das Massenmord keine normale menschliche Freizeitgestaltung ist, ist uns fremd geworden. Das es ein Gewissen gibt, auch. Dabei stellt sich auch für die biologische Anthropologie die Frage: was bringt eigentlich einen Menschen dazu, zu seinem eigenen Nachteil sein Leben für andere einzusetzen, siehe Hassenstein bei Wikipedia:
Es stellt sich die Frage, was aus verhaltensbiologischer Sicht Menschen die Kraft gibt,[22] ihre „Gewissensentscheidung“ auch gegen massive Nachteile oder Gefährdungen zu vertreten. Nach Hassenstein brauchenWahrnehmungen und gedankliche Einstellungen einen gefühlsmäßigen Faktor (dieser gehört zu einer ursprünglicheren Ebene der Verhaltenssteuerung), um zum Imperativ zu werden. Erst dann setzen sie sich im Höchstwertdurchlass gegen andere Verhaltenstendenzen durch.
Fragt man Kant, so ist klar, was Moral vernünftigerweise lebenswert macht: die Aussicht auf Belohnung. Vernunft an sich – ist nicht moralisch. Sie kann ein Waisenhaus leiten oder ein Konzentrationslager, sie kann eine Moralphilosophie entwerfen oder Lampenschirme aus Menschenhaut fabrizieren – ihr ist es egal. Vernunft ist nur ein Werkzeug. Der gefühlsmäßige Faktor ist es erst, der ein belastbares Gewissen schafft – jenes Gewissen, dessen Heldentaten wir gerne in unseren Legenden feiern, wenn wieder mal jemand gegen den allgemeinen Wahnsinn Menschenleben gerettet hat, ohne auf seinen eigenen Vorteil zu schauen.
Noch Fragen, warum eine Kultur des Todes keine lebendige, ernst gemeinte Religon in ihren Kreisen dulden darf? Es wäre eine mächtige Kraftquelle für Gewissensentscheidungen, die beim Töten stört – beim direkten Töten durch Waffen oder beim indirekten Töten durch Wirtschaften. Das ist zwar nicht das, was wir wünschen würden, aber das was wir tun … und deshalb auch das, was wir wollen.
Das ist es, was man merken kann, wenn man für einen Moment einen urchristlichen Rahmen über die Welt hängt – jenseits der Anpassungsprozesse der Kirchen, Theologen und Philosophen, die das Christentum beständig umbauen, damit es in die Kultur des Todes passt. Und in dem Moment – bevor Ostern vorbei ist und der Alltagsterror der Todeskultur das Denken wieder umgestaltet – kann man sich mal fragen, was denn eigentlich so schlecht daran wäre, eine christliche Ethik zu leben – erst recht, wenn sie durch den „allmächtigen Schöpfer des Universums“ abgesegnet wird? Eine höhere Legitimation ist gedanklich nicht mehr möglich – auch wenn es wunderlich ist, das selbst die meisten Tiere so etwas nicht brauchen, um ihre eigenen Artgenossen am Leben zu lassen.
Was wäre denn wirklich, wenn morgen früh alle anfangen, die beiden höchsten Gebote zu leben: ihren Nächsten zu lieben und den Schöpfer der Welt, der – nach alttestamentarischer Sicht – das Leben selbst ist?
Schon morgen früh steht die erste Gewissensentscheidung an: Autofahren gefährdet Menschenleben. Es sterben tausende Menschen jedes Jahr durch diese Beförderungsmethode. Die Kultur des Todes nimmt das billigend in Kauf.
Das wäre eine sehr unheimliche Welt, diese christliche, oder? Gut, das Ostern heute vorbei ist. Aber für einen Moment … durften wir die Hoffnung haben, das es zur Kultur des Todes vielleicht Alternativen geben könnte.
Morgen leben wir sie wieder.