Mittwoch, 1.10.2014. Eifel. Man kommt um dieses Thema nicht herum – und es ärgert mich etwas, das ich nicht einfach drum herum komme. Das hat auch einen Grund: ich halte mich nämlich für den Erfinder des Begriffes „Gutmensch“. Ich kann das auch Belegen, denn mir sind die leibhaftig begegnet, ich habe sie wachsen und groß werden sehen, mich haben sie vom ersten Augenblick angeekelt und ich kannte sie schon von früher: in Kirche und staatlicher Philosophie gibt es sie zu Hauf – mit riesigen Schäden für die „frohe Botschaft“ (man schaue sich mal die Herren im Vatikan genauer an, dann sieht man, wie froh die Botschaft macht) oder auch die Kunst des Denkens (die in alten Zeiten die Menschen so fasziniert hatte, das sie gerne ihre Freizeit damit verbrachten).
Uns war nämlich klar, dass sich etwas ändern musste in der Welt. 1975 sah es noch übel aus: Terroristen zerbombten das Land, die Wirtschaft begann ihre endlos lange Talfahrt, Atomraketen aller Art zielten auf Deutschland (ja – zum Beispiel die 120 atomaren französischen Gefechtsfeldraketen, die nur bis Deutschland reichten), das Atom erwies sich als zunehmend unbeherrschbar und vor allem merkte man an allen Ecken, dass die Umwelt starb: langsam, aber unaufhaltsam. Allein die Dunstglocke über dem Ruhrgebiet hätte zu den sieben Weltwundern zählen sollen – und den Rhein hätte man so wie er war zur Sondermülldeponie umleiten können.
Es gab also einiges zu tun – und wir haben getan, was zu tun war: Krach auf den Straßen machen, damit auch die Pennbrüder aus der Nachbarschaft merkten, dass hier was nicht in Ordnung war. Versammlungen veranstalten, auf denen man sich informieren konnte, Flugblätter und Zeitungen drucken, um den Meinungsbildungsprozess anzustoßen. Zudem wurden gemeinschaftliche Pläne für gewaltslosen Widerstand entworfen und Utopien entwickelt, die den Menschen Kraft zum anreizlosen Arbeiten gaben und Sinn stifteten, der zu außerordenlichen Arbeitsleistungen verführte.
Es gab auch Sympathien bei der politischen Konkurrenz für den Aktionismus – auch bei Sozialdemokraten und Unionspolitikern war das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer demokratischen Kultur noch da, die Erinnerung an andere Zeiten noch frisch. Man mochte sich politisch zwar nicht – aber das gelebte Unternehmertum forderte auch konservativen Menschen Respekt ab … und klammheimlich freuten die sich auch über die Freiheiten, die die Bewegung ins bürgerliche Leben brachte.
Dann jedoch – kamen die Gutmenschen. Sie waren anders – sahen auch anders aus. Erst kamen Lehrer mit Karottenhosen und ordentlicher Kurzhaarfrisur, 1979 schon voll aufs Parlament gepolt. Garniert wurden sie mit einer Prise Rechtsanwälten, die ebenfalls eine gute Chance auf leistungsloses Einkommen sahen, das sich auf dem Rücken der Arbeit einer Million unbezahlter Aktivisten gut abgreifen lassen konnte. In ihrem Gefolge kamen dann die ersten Voll-Gutmenschen: ihre Ehefrauen. Ganz undemokratisches Gesochse, das vor allem eins wollte: Vorschriften machen. Das richtige Essen, die richtige Kleidung, die richtige Meinung, das richtige Benehmen, der richtige sprachliche Ausdruck, die richtigen Urlaubsziele, die richtige Musik – sie waren groß im Ansagen von dem was angesagt war.
Mein kleiner Einwurf, ob man denn zur Rettung der Welt eigentlich auch mal etwas persönliche Einschränkungen in Kauf nehmen würde – immerhin schien doch der überbordene Verbrauch der westlichen Zivilisation ein klein bischen für einige Probleme verantwortlich zu sein – wurde, gönnerhaft zur Kenntnis genommen: solange man Vorschriften daraus machen konnte, waren solche Einwürfe gerne gesehen – aber klar war: die Vorschriften galten auf JEDEN FALL nur für die anderen. Man selbst war nämlich … anders. Besser. Für einen selbst galten andere Regeln, weil man ja ein Vorschriftenmacher und Ansager war – und ich merkte: der alte Herrenmensch war wieder zurück – in aller Pracht und Herrlichkeit.
Ich nannte sie „Gutmenschen“ – und zwar das erste Mal 1984. Das jetzt dass strohdoofe rechtsradikale Gesochs diesen Begriff für sich vereinnahmt, ist mir zutiefst zuwieder – und megapeinlich. Ich bestehe aber darauf, dass es MEIN Begriff ist – und lasse ihn mir nicht nehmen.
Was zeichnet solche Gutmenschen aus? Schon Arthur Schopenhauer hatte sie unter den staatliche alimentierten Philosophen ausfindig gemacht: sie leben VON der Philosophie, nicht FÜR sie … ebenso wie die Kirchen VON der Religion leben, und nicht für sie.
Sie greifen sich Themen, die Macht, Einfluss und freien Griff in die Staatskasse versprechen und machen sie zu den ihrigen – haben aber nicht im Ansatz begriffen, WARUM man eigentlich diese Themen vertritt. Wozu auch? Wichtig ist, dass die Themen im Sinne der eigenen Machtergreifung funktionieren. Wer sich etwas Mühe gegeben hätte, hätte 1984 schon sehen können, wo die Grünen dreissig Jahre später stehen: eine Partei der Neureichen dank Staatsgeldern, die üppig verteilt und üppig ausgegeben werden.
Die andere Seite ist jedoch nicht besser, das sei gleich gesagt.
Der humanistische Pöbel, der heute in Wirtschaftskreisen verkehrt und sich über „Gutmenschen“ echauffiert, hat vor allem eins im Sinn: die letzten Spuren des ethischen Formates des christlichen Abendlandes zu verwischen, um die dekadente (und wirtschaftlich erfolglose) Form der spätrömischen Sklavenhaltergesellschaft im Namen einer Maximierung der Rendite für Kapitalanleger erst schleichend und dann gallopierend wieder einzuführen. Menschen ohne Charakter, Menschen ohne Verantwortungsgefühl und Gemeinschaftssinn, Menschen, die aus dem ehrbaren Kaufmannstum eine Abart der Straßenräuberei gemacht haben und die bürgerliche Gemeinschaft samt ihrer lebensnotwendigen Umwelt zugunsten perverser Neureichenphantasien in ihrer Substanz zerstören wollen, regen sich über „Sozialromantiker“ und „Gutmenschen“ auf, ohne zu merken, was sie mit dieser Begrifflichkeit preisgeben:
ihre eigene Offenbarung als degenerierte Raubmenschen, als asoziale „Bösmenschen“, als Barbaren, Lügner, Blender, Heuchler, Schwindler, als Schlitzohren erste Güte und kriminelle Soziopathen der Sonderklasse, die man in anständigen Gemeinschaften umgehend geteert und gefedert zum Stadttor herausgejagt hätte … falle ihnen der Galgen erspart worden wäre.
Ein Beispiel? Denken Sie mal an die Finanzkrise. Ich hätte da ein Zitat, dass sie interessieren wird – aus dem damaligen Nr. 1 – Bestseller in den USA „The BIG SHORT“ von Michael Lewis (Goldmann, Dezember 2011, Fussnote Seite 276):
„Das Geschick von Wallstreet-Händlern, Erfolge für sich zu verbuchen und für Misserfolge ihr Management verantwortlich zu machen, spiegelt sich später bei ihren Firmen wider, die in guten Zeiten die Notwendigkeit der staatlichen Regulierung verächtlich ablehnen, in schlechten Zeiten aber darauf bestanden, dass der Staat sie rettete. Erfolg war eine individuelle Leistung, Scheitern ein gesellschaftliches Problem“.
Wir haben es hier mit einer ganz besonderen Abart menschlicher Schmeißfliegen zu tun, die den bequemsten aller Wege gehen: Geschäfte machen auf Kosten anderer. Es geht hier nicht um kreative, leistungsstarke Unternehmertypen, der aus dem Nichts heraus ein kräftiges Unternehmen aufbaut, sondern um den Kapitalsöldner (den es auch als Journalisten, Nachrichtenmoderator, Anwalt, Lehrer, Professor und in sonstigen, vielfältigen Erscheinungsformen als Schmarotzer einer zuvor gesunden Volkswirtschaft gibt), dessen größte Leistung darin besteht, andere zu übervorteilen. Gelingt es – spielt der den Held. Misslingt es, ist er schnell das arme Opfer böser Umstände, jammert in seinem 10000 Dollar-Anzug über die Schlechtigkeit der Welt, die Bösartigkeit der Gutmenschen, denen sauberes Trinkwasser lieber war als sein Profit.
Natürlich sind ihm die „Gutmenschen“ ein Dorn im Auge – und zwar beide Typen, die einen, die so tun als ob, weil Klima gerade Fördergelder bringt – und die anderen, die aus einem urmenschlichen Gefühl heraus handeln – einem Gefühl, dass uns geholfen hat, die Welt jenseits der Baumwipfel zu erobern: Mitleid.
Ja – ist heute schon fast ein Fremdwort, oder?
Die Existenz von Mitleid sicherte dem mutigen Jäger den geschützen Stammeshafen, in dem er sich von seiner Jagd ausruhen konnte (und lieb bekocht wurde, bevor alle Beute vergammelte), es sicherte der Mutter die Versorgung des Kindes auch im Falle des Todes des Kindsvaters, es gab alten und kranken Menschen die Sicherheit, Geborgenheit auch in Zeiten der Not zu erhalten: aus dieser gemeinschaftlichen Basis, aus dieser humanen Sicherheit heraus konnten starke Charaktere hervorgehen, die Enormes zu leisten in der Lage waren, was über die Kräfte normaler Menschen weit hinaus ging: Albert Schweizer, Ganhdi oder Mutter Theresa sind nur ein paar bekanntere Beispiele, die sogar in unseren modernen Zeiten überleben konnten – im Prinzip brauchen aber alle Forscher, Händler, Entdecker und Erfinder solche Häfen, weil sie sonst vor lauter Beeren und Bären sammeln zu nichts kommen würden.
Ja – auch diese bekannten guten Menschen sind den Bösmenschen ein Dorn im Auge – weil sie durch ihre TAT demonstrieren, dass ein Leben im Guten Sinn macht und Freude verbreitet – vor allem Freude bei den Mitmenschen, und dadurch auch bei einem selbst – sofern man überhaupt noch empfindungsfähig für die Freude anderer Menschen ist.
Was unterscheidet nun die beiden Arten von Gutmenschen voneinander?
Gott sei dank ein einfaches Faktum: Liebe.
Ein Leben im Guten ergibt sich allein aus der Liebe heraus, sie läßt uns aufmerksam werden, sie sorgt dafür, dass wir faire Preise anbieten, volkswirtschaftliche gesunde Löhne zahlen, die Produkte so solide und zuverlässig wie möglich gestalten (anstatt Müll mit vorprogrammiertem Verfallsdatum zu konstruieren), hier hat die gute Kaufmannsehre ihren Platz: für die Raubritter der ungezügelten Marktwirtschaft ein Fremdwort – und ein Beutehemmnis.
Am meisten Gewinn macht man halt immer noch, wenn man für Arbeit nichts zahlt und die Produkte so minderwertig wir möglich gestaltet, aber die Preise anstronomisch in die Höhe treibt – oder?
Das ist äußerst asozial, wird aber von Sozio- und Psychopathen als geil empfunden.
Liebe bringt uns dazu, mit Kunden und Mitarbeitern ein optimales Kommunikationsverhältnis zu gestalten, unser Bestes bei der Produktion und Perfektion der produzierten Güter und der geleisteten Arbeit zu geben – und selbstverständlich immer ein Auge auf den ökologischen und ökonomischen Gesamtrahmen zu werfen, in denen wir uns perfekt zum Wohle des Ganzen einfügen.
Der Soziopath handelt anders (siehe DiePresse):
An der Stelle ihrer Seele klafft ein Loch: „Was Soziopathen fehlt, das ist etwas, das ihr Leben mit Sinn und Herzenswärme erfüllt“, schreibt die amerikanische Psychologin Martha Stout in ihrem Buch „Der Soziopath von nebenan“.
Soziopathen sind Menschen, die ihr Spiel mit anderen Menschen treiben. Als Kinder quälen sie Tiere und als Erwachsene schrecken sie vor sexuellen Übergriffen nicht zurück. So berichtet Stout etwa über einen skrupellosen Geschäftsmann, der Familie wie Geschäftspartner gleichermaßen hintergeht und ausnützt
Und wer ist heutzutage ein Soziopath?
Jemand, der einen Gutmenschen für ein Geschäftshemmnis hält – und einen liebenden Menschen für krank.
Und was war das, was uns damals auf die Straße getrieben hat?
Liebe.
Die Liebe zur demokratischen Gesellschaft, die Liebe zur gesunden, unverdorbenen, blühenden Natur, zu klarem, sauberem Wasser, zum konstruktiven Miteinander, die Liebe zum Menschen und zur Menschheit, zur Kultur und Kunst, die Liebe zu Wohlstand, Sicherheit, Freiheit und Gerechtigkeit … und zum Frieden.
Ganz normale menschliche Werte, ohne die wir den ersten strengen Winter der Eiszeit nicht überlebt hätten.
Ohne Nächstenliebe würden wir noch als Schimpansen auf dem Baum sitzen und uns gegenseitig mit Kot bewerfen … und wenn ich mich so umschaue, dann fürchte ich: wir nähern uns diesem Zustand wieder an..