Erst kürzlich waren ja die Grünen als „Trittbrettfahrer“ ausgemacht. Trittbrettfahrer der Demonstrationen von Gorleben. Zu der Zeit, als sie an Bombenteppichen in Serbien und Sozialabbau in Deutschland sowie der Errichtung eines unwürdigen flächendeckenden und kostenintensiven Kontrollsystems für Arbeitslose (an dem sie auch in Zukunft festhalten wollen) gearbeitet haben, hatten sie sich ja aus Gorleben zurückgezogen, staatstragende Steuergeldempfänger tun so etwas nicht.
Dabei ist Trittbrettfahrerei doch bei allen Parteien ein beliebter Sport … und nicht nur bei Parteien. Man nennt es: „Themen besetzen“. Das Thema selbst, das Problem, das durch das Thema beschrieben wird, ist uninteressant, wichtig ist nur: wie bringt es die Partei, die Kirche, die Gewerkschaft, den Verein, die Organisation nach vorne … zu mehr Einnahmen, mehr Macht, mehr Einfluß.
Besonders schlimm ist dieser Effekt bei Krisen, wie zum Beispiel der momentanen Wirtschaftskrise. Wie der Kaspar aus der Schachtel tauchen dann aus allen Ecken und Enden Welterlöser und Heilande auf, deren Partei/Organisation/Kirche/Verein es immer schon gesagt hat und die Lösung der Krise im Handumdrehen bewältigen würde … wenn man sie nur ließe. Meistens schleppen sie gleichzeitig immer einen ganzen Forderungskatalog mit sich herum, der dem Bürger schon vor der Regierungsübernahme vorschreibt, was er jetzt alles zu tun hat: welche Themen noch für ihn wichtig sein müssen, welche Meinungen sich für ihn noch ergeben, wenn er sich dieser Themen annimmt, welche Demonstrationen jetzt Pflicht sind und welche Kleidung/Buttons/Transparente man jetzt dazu trägt.
Für die Problemlösung leisten diese Elemente eigentlich nichts – aber für ihr eigenes Fortkommen viel. Insgesamt sind sie deshalb enorm schädlich, weil sie Energien, die der Körper zur Problembewältigung braucht, für sich selbst in Anspruch nehmen – vergleichbar mit einem menschlichen Körper, der eine Infektion am Handgelenk hat, dessen Immunabwehr sich aber auf die Niere konzentriert.
Als Philosoph traut man sich kaum noch, Themen anzurühren, weil man vorher gar nicht weiß, wer die schon alle für sich besetzt hat und welche Folgen sich für einen ergeben, wenn man seine Meinung dazu sagt. Nehmen wir mal als Beispiel die Schlaganfalltherapie, die heute in der ZEIT von sich reden macht:
Erstmals haben Wissenschaftler einem Schlaganfall-Patienten aus einem Fötus gewonnene Stammzellen ins Gehirn eingesetzt. Ob dadurch neue Hirnzellen wachsen, ist ungewiss.
Ein enormer Fortschritt für die Wissenschaft, will man meinen. Trotzdem regt sich der Brechreiz. Frankenstein ist im Prinzip Wirklichkeit geworden … man arbeitet mit Leichenteilen, hier noch besonders brisant: man arbeitet mit Menschen, die vorher getötet wurden. Die Zellen stammen von einem abgetriebenen Menschen. Auch dieses Thema ist schon besetzt. Abtreibung ist ein schwieriges Thema, erst recht in der Philosophie – man kann kaum anders als dagegen sein … und wenn man den Einzelfall vor Augen hat und aus der Sicht der Frau schaut … dann kann man kaum anders als dafür sein.
Im Prinzip – und darum geht es der Philosophie in erster Linie – ist Abtreibung aber immer brandgefährlich, weil es das Prinzip der Vernichtung menschlichen Lebens akzeptabel werden läßt … und durch diese Lücke können andere Bewegungen stoßen, die eine spätere Abtreibung befürworten, der man dann kaum noch prinzipielle Grenzen entgegensetzen kann. Unwertes Leben in jeder Form kann vernichtet werden … und was gerade „unwertes Leben“ ist, richtet sich leicht nach der Kassenlage der Behörden.
Nach Informationen der Zeitung Independent stammen die Zellen für die Studie von einem Embryo, der in der zwölften Schwangerschaftswoche im US-Bundesstaat Kalifornien abgetrieben worden war.
Das klingt zunächst grausam, allerdings wurde der Fötus selbstverständlich nicht zu Forschungszwecken getötet, sondern lediglich nach seinem Tod dafür freigegeben.
Das hört sich im ersten Moment beruhigend an … aber was ist, wenn ein Lieferengpass eintritt? Wenn die Frau des Klinikdirektors mit Schlaganfall auf der Intensivstation liegt, aber aktuell nichts Abgetriebenes zur Verfügung steht? Wo ein Bedarf ist, entwickelt sich ein Markt. Das ist schon bei Nieren und anderen transplantationsfähigen Organen so – und das wird auch bei Stammzellen so sein.
Das ist die Welt, in die wir uns bewegen, wenn wir das Frankensteinprinzip der Vermarktung von Leichenteilen ausbauen – ab einer gewissen Größe entwickelt sich das Prinzip von ganz alleine und ist dann nur noch ähnlich schwer aufzuhalten wie internationale Kapitalmärkte, die sicher auch schon ein Auge auf die Renditemöglichkeiten der Fötenvermarktung geworfen haben – wird eine Welt sein, in der der Mensch als solcher mit all seinen Zellen Ware wird.
Wollen wir das? Können wir uns das als Gesellschaft leisten? Überhaupt nicht. Es ist die Geburtsstunde eines menschenfressenden Molochs, der unser aller Leben verändern wird.
Und trotzdem bekommt man Bauchschmerzen, wenn man sich zu dem Thema äußert, weil man nicht weiß, wer jetzt gerade mit ins Boot steigt. In erster Linie Kirchen und rechtsradikale Abtreibungsgegner, weil die das Thema Abtreibung für sich besetzt haben. Wenn man Pech hat, wittern auch Marxisten wieder Morgenluft und hängen sich wegen der Kapitalismuskritik dran. Grüne würde ich hier auch erwarten – immerhin geht es um das Thema Leben – aber da erwarte ich wohl zu viel. Es geht immerhin nur um Menschen, nicht um Frösche, und was Grüne von Menschen halten erlebt jeder Hartz IV-Abhängige deutlich Tag für Tag.
Warum man Pech hat, wenn Marxisten mit ins Boot steigen? Weil dann Breitseiten an Fachbegriffen abgeschossen werden mit denen außer Marxisten keiner was anfangen kann, wie hier in der Medienkritik der „jungen Welt“:
Die Medienapparate könnten ihre Manipulationswirkungen jedoch nicht erzielen, wenn ihre »Realitätsbearbeitung« nicht mit desorientierenden Strukturen des Alltagsbewußtseins korrespondieren würde. Faktisch schließen sie an parzellierte und zertrennende Denkmuster an, die von den herrschenden Praxisformen geprägt werden. Damit die Menschen sich im kapitalistischen Alltag reproduzieren können, müssen sie sich solcher Orientierungsschablonen bedienen, die nur einen Wirklichkeitsausschnitt erfassen; sie nehmen die Realität selektiv wahr, um erfolgversprechend agieren zu können.
Der Autor dieser Zeilen hat ein Buch geschrieben über „Arbeiterinnen und Arbeiterklasse heute“. Mit diesen Worthülsen sollte er mal zu den Jungs vom Bauhof der Gemeinde gehen – Niedriglöhner allesamt – und ihnen klarmachen, was Medien mit ihnen anstellen.
Die Autoren des Internetlexikons Wikipedia und die Programmierer des freien Betriebssystems Linux arbeiten unentgeltlich »nach ihren Fähigkeiten«, damit die Nutzer »nach ihren Bedürfnissen« sich bedienen können. Dies entspricht der Marxschen Definition des Kommunismus, dessen Prinzipien in den Randzonen eines übermächtig erscheinenden kapitalistischen Systems Realität geworden sind.
Es ist gerade diese Fähnchenschwenkerei zusammen mit den pseudointellektuellen Argumentationsduschen aus der Steinzeit der Kommunikation, die mich Marxisten meiden läßt … und die das Anliegen von Karl Marx verraten haben.
Wie auch beim Thema „Stammzellentherapie“ bleibt auch bei dem Thema Medienkritik (hier vermengt mit dem Hinweis auf den unerbittlichen Siegeszug des Marxismus) der Mensch auf der Strecke. Für das Opfer selbst interessiert sich kaum jemand, aber was man mit dem Opfer alles anstellen kann … das erinnert auch schon an eine Form von Ausschlachtung.
Wahrscheinlich stoßen Marxisten deshalb so unangenehm auf, weil sie mit Gewalt ihre historische Niederlage zu einem Sieg umdeuten wollen und dabei gerne auch Wirklichkeiten, die nicht ins System passen, ignorieren … immerhin wurde Lobbypedia gegründet, weil Wikipedia eben nicht so frei ist und viele Lobbyisten dort ganz offen ihre Propaganda ablegen. Allerdings schreiben die Autoren wirklich oft nach ihre Fähigkeiten … und ich wünschte mir, sie würden es lassen.
Dabei ist Medienkritik wichtig, denn … sie steuern unser politisches und gesellschaftliches Bewußtsein durch Informationsselektion. Wenn ein Peter Scholl-Latour sagt, das die Anschläge vom 11.9.2001 unmöglich von Afghanistan aus organisiert werden konnten, so wäre das eine Information, die das politische Bewußtsein der Bundesbürger nachhaltig beeinflußen könnte – deshalb bleibt sie zwischen Buchdeckeln verborgen. Wenn es denn nicht Bin Laden und die Taliban waren … wer war es denn dann? Einer muß es gewesen sein, die Türme sind weg, die Menschen tot. Viele Kriege werden wegen dieser Verschwörungstheorie geführt, nach der ein dialysepflichtiger Patient, der mit seinem Troß von Blutwäschegeräten unerkannt durch Afghanistan reist, die Anschläge von dort aus organisiert haben soll. Viele Menschen sterben wegen dieser Theorie.
Aber auch hier zeigt sich die Lähmung, die Trittbrettfahrer hervorrufen. Kritik an der Verschwörungstheorie der Bush-Administration wird ja auch von Rechtsradikalen geübt, die haben dieses Thema schnell besetzt (weil es auch so schön zu ihrem Judenhaß paßt), weshalb alle Menschen, die die US-Version anzweifeln, insgeheim NPD-Sympathisanten sind. Und deshalb werden weiterhin Afghanen erschossen, womit dann aber wieder keiner ein Problem hat. Nach der gleichen Logik müßte man übrigens auch Hundehalter der NPD zuordnen … der Führer liebte Hunde. Kinder auch, wie man hört.
Medien schlachten Menschen nicht weniger aus als Stammzellenforscher, allerdings begnügen sie sich mit der Software … und Soldaten schlachten Menschen gleich völlig ab. Ob da dann auch „Kollateralschäden“ für die Stammzellforschung verarbeitet werden dürfen, weiß ich nicht, erwarte es aber jeden Tag. Dann – so wird man argumentieren – sind die wenigstens nicht umsonst gestorben.
Bei all dem Kampf um die Themenhoheit ist es erstaunlich, das der Mensch auf der Strecke bleibt – besser gesagt, das es kaum einen interessiert, das der Mensch auf der Strecke bleibt. Ist wie bei den Abtreibungsgegnern – ist das Kind erstmal geboren, kehren sie Mutter und Baby sofort den Rücken zu, hat der Arbeiter dem Marxisten zur Macht verholfen, gibt es gleich Sonderschichten um die Überlegenheit des Systems zu beweisen, während der Revolutionsführer sich die dicken Zigarren des Unternehmers in seiner Villa gönnt.
Und darum wenden sich die Menschen vom System ab … und vom Widerstand gegen das System.
Und gerade das kann Hoffnung machen – vielleicht wird das Volk endlich erwachsen und verzichtet auf seine „Führer“. Die Unverschämtheiten der Korporatokratie erreichen immerhin ein Ausmaß, das sogar deutsche Manager-Magazine erschüttert, weil es der sinnbildliche „Stinkefinger“ für die Volkswirtschaft und den Steuerzahler ist:
Die Wall Street ist im GM-Fieber. Mit stehenden Ovationen begrüßen Händler und Investoren den US-Autobauer zurück auf dem Parkett. Der Aktienkurs steigt. Doch die Konkurrenz von Volkswagen und Co. beißt sich auf die Lippen. Einmal mehr wird klar: Wer miserabel wirtschaftet, wird dafür auch noch belohnt.
Noch einen dieser Finger hat die Deutsche Bank jetzt laut FAZ in las Vegas errichtet, ein eigenes Spielcasino:
Das mit der Kasino-Mentalität der Banker haben die bei der Deutschen Bank sehr ernst genommen. In welche Schublade kommt man jetzt eigentlich, wenn man diese Stinkefinger kritisiert? Oder hat das Thema noch keiner für sich besetzt? Muß ich den Artikel eigentlich löschen, wenn FDP oder Merkel demnächst auch Kritik an dem Gebaren der Konzerne üben?
Sicher ist das, denn … der Hass der Trittbrettfahrer erreicht einen immer. Es ist dann ja IHR Trittbrett, auf dem sie reisen wollen. Und das sie auf irgendeinem Trittbrett irgendwohin mitgenommen werden ist deutlich wichtiger, als das reale Leben der Menschen selbst zu verbessern, die grundsätzlich auf der Strecke bleiben.