In der neuen Normalität geht die Empathie verloren, während zugleich Zeit und Raum aufgehoben scheinen.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Spannung, Druck, Bedrängtwerden — zunehmend haben Menschen derzeit mit solchen Empfindungen zu kämpfen. Während das Prekariat stetig wächst, entdecken viele Individuen eine neue Dimension kapitalistischen Drucks, die für die meisten bisher auf ihre Privatsphäre begrenzt war. Seit Einführung der Digitalisierung verschwimmt der Unterschied zwischen Arbeitswelt und Freizeit zunehmend. Seit der COVID-19-Krise hat sich nun ein neues Paradigma herausgebildet: eine scheinbare Aufhebung von Zeit und Raum. Viele Menschen haben sich aus den meisten gesellschaftlichen Kontakten zurückgezogen. An diesem Prozess kann man mehrere Symptome einer — seit Jahrzehnten schon im Gang befindlichen — gesellschaftlichen Desintegration beobachten.
Für das Forttreiben des Profitimperativs wurde der Versuch durchgeführt, die digitale Welt auf eine bisher beispiellose Art zu fördern und damit gleichzeitig die Einsamkeit wegen der Entgesellschaftung und die Notwendigkeit der Isolierung verschärft. Das Kapital darf für sein Fortbestehen weder gestoppt noch hinterfragt werden. Deshalb erschien die digitale Eindringung als unter den gegenwärtigen Bedingungen unentbehrlicher Imperativ zur Profitmacherei.
Das atomisierte Onlinewesen ersetzte die medizinisch empfohlene präventive Isolierung. Gemäß des neuen Imperativs konnten einige Menschen einen fortbestehenden kapitalistischen Gesellschaftsverband zelebrieren. Faktisch aber bedeutet die unaufhörliche Online-Erreichbarkeit alles andere als einen bleibenden Gesellschaftsverband.
Die digitale Verbindung hat tatsächlich ermöglicht, dass Menschen trotz der Gesundheitskrise und der dementsprechenden Sozialisolierung Kontakt miteinander halten konnten; auf der anderen Seite ist der Verlust der zwischenmenschlichen Sinnlichkeit eine neue Gesellschaftsdimension und keine Fortsetzung der bestehenden Verhältnisse.
Menschen gehören zugleich zur anorganischen und organischen Natur sowie zum gesellschaftlichen Sein. Als Lebewesen enthalten sie anorganische Materie wie Mineralien, aber jedes organische Wesen muss sowohl das einzelne Leben aufrecht erhalten als auch sich für den Fortbestand der Spezies Mensch reproduzieren. Der Tod führt hingegen zur Rückkehr in die anorganische Natur. Die Menschen aber reproduzieren ihre Leben nicht bloß aus einer genetischen Reaktion auf ihre Umwelt, wie bei manchen anderen Lebewesen, sondern im ständigen Austausch miteinander und der Umwelt. Der Grundmechanismus dieses Austausches ist die Arbeit, die die kausalen Bestimmungen der Natur beeinflusst und verändert. …