(Foto: cc by Parkwaechter/Nachrichtenspiegel)
Noch heute steht man oft staunend vor den Resten alter Kulturen, wo die Menschen trotz aller Widrigkeiten ihrer Zeit scheinbar noch eine unglaublich treffsichere Intuition besessen haben. Nicht nur konnten sie die Heilwirkung bestimmter Pflanzen und mineralischer Substanzen ohne Laborapparaturen und Rasterelektronenmikroskope ganz instinktiv erfassen. Sie hatten auch einen unfehlbaren Sinn für Maß und Harmonie. Wie der US-ungarische Architekt György Doczi in seinem Buch „Die Kraft der Grenzen“ nachweist, waren praktisch alle Bauwerke ebenso wie die profanen Gebrauchsgegenstände wie Hüte und Keramikkrüge vergangener Kulturen nach geradezu genialen mathematischen Harmonien und Proportionen gestaltet. Dabei hatte der Mensch damals noch gar keine Taschenrechner und smarte Apps zur Hand. Mit anderen Worten: Der „Goldene Schnitt“ ist uns damals noch im Blut gelegen. Dieser Goldene Schnitt, der sich im Übrigen in fast allen Lebensprozessen und in der Geometrie des Pflanzenwachstums (Phyllotaxis) ebenso wiederfinden lässt wie in der Anatomie des Menschen, wäre eigentlich ein schönes Gleichnis dafür, dass im Leben nichts fragmentarisch und isoliert, sondern alles aufeinander bezogen ist: „Das Kleine verhält sich zum Großen so wie das Große zum Gesamten“ (a:b = b:[a+b] = 0,618)
Es wird das Verdienst kommender Historiker sein, herauszufinden, wann dieser goldene Faden durchtrennt wurde bzw. wann unsere Umpolung stattgefunden hat. Denn nicht nur unsere Wohn- und Gewerbegebäude (allesamt streng im Tankstellenklo-Kubus-Stil gehalten) künden heute vom Verlust jedweder Harmonie und erscheinen wie eine Hommage an Sigmund Freuds Todestrieb „Thanatos“. Auch unsere innere Sicherheit im Erkennen von uns Schädlichem und Hilfreichem ist uns abhanden gekommen bzw. hat sich auf den Kopf gestellt. Mit schlafwandlerischer Selbstverständlichkeit ergreifen wir in unserem Leben das Desaströse, während wir das Konstruktive versickern lassen. Die Tore, durch die wir etwas Menschlich-Substanzielles erhalten könnten, haben wir verriegelt, während die Tore, durch die wir alles verlieren können, sperrangelweit offen sind.
Obwohl wir einen intellektuellen Zenit beschritten haben wie noch keine andere Kultur vor uns, sehen wir scheinbar den Wald vor lauter virtuellen Bäumen nicht mehr. Mit jedem Mal, wo man in eine Zeitung oder in einen Flachbildschirm blickt, erhärtet sich der grausame Verdacht, dass „Aufklärung“ offensichtlich nicht im Geringsten vor Ignoranz bewahrt und dass strenge Wissenschaftlichkeit überhaupt kein Widerspruch zu vollkommener Perversion sein muss. Der ehem. New York Times-Journalist und Pulitzer-Preisträger Chris Hedges versucht dieses Paradoxon in Worte zu fassen:
„Wir leben in einer Nation,
in der die Ärzte die Gesundheit zerstören,
Anwälte die Gerechtigkeit,
Universitäten das Wissen,
Regierungen die Freiheit,
die Presse die Information,
Religion die Moral,
und unsere Banken zerstören die Wirtschaft.“
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Allgemeines zur Kolumne „Endzeitpoesie 4.0 – Brennholz gegen Robotisierung und drohenden Erfrierungstod“:
Da in unserer aus den Fugen geratenden Welt vieles nicht mehr rational verstehbar und auch kaum noch ertragbar ist, brauchen wir dringend ein Gegengewicht aus dem Reich der Poesie … mit diesem geistigen Gegengift in den Adern wird vieles Unverständliche plötzlich wieder verständlich und Unerträgliches wieder ertragbar – oder noch besser: gestaltbar!
Denn die größte Lüge, die uns heute beigebracht wird, ist: dass der Einzelne ohnehin nichts tun kann. – Das genaue Gegenteil davon ist wahr: Es kommt auf jeden einzelnen an und das mehr als jemals zuvor. Und wie uns schon Dostojewskij erklärt hat, ist im Leben auch niemals etwas umsonst, selbst wenn eine Bemühung keinen sichtbaren Erfolg zeigt: „Alles ist wie ein Ozean, alles fließt und berührt sich; rührst du an ein Ende der Welt, so zuckt es am anderen.“
Gerade unsere geistlose Zeit braucht philosophische Gedanken wie eine Wüste das Wasser. Dieses Wasser – die Gedanken der großen Geister der Menschheit – gibt es schon lange. Aber die scheinbar alten – in Wirklichkeit ewig jungen – Gedanken bleiben nicht dieselben: Jeder, der sie aufgreift und verinnerlicht, färbt sie mit seiner individuellen Persönlichkeitsnote ein und bringt dadurch wieder ganz neue Farben in die Welt, die bisher noch nicht existiert haben. Und solche Farben braucht unsere grau gewordene Welt (siehe 1000 Gestalten.de) heute dringend – sie saugt sie auf wie ein trockener Schwamm das Wasser … damit wieder Neues, Kreatives, Menschliches entstehen kann.
In diesem Sinne wollen wir der pseudopragmatischen Alternativlosigkeit (siehe „Der Führer 4.0 – Er ist schon längst da“) die Gefolgschaft in den Grand Canyon verweigern und es lieber mit Ilija Trojanow halten: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“. – Dann kann die scheinbare Endzeit zu einem neuen Anfang werden.