(*) Vorwort/Fußnote zum Titel:
Barrabas … dieser im Titel genannte Name ist ja heute womöglich vielen gar nicht mehr bekannt. Bushido rappt nicht über ihn, Dieter Bohlen hat ihn noch nie erwähnt und auch auf Bento und Vice macht man lieber einen auf Fack ju Göhte. Barrabas – diesen Namen kann man ohne Fußnote also gar nicht mehr einfach so hinstellen … wäre aber womöglich doch nicht ganz uninteressant, wer denn das ist, dem man derzeit alle Türen öffnet, ihm euphorisch entgegenjubelt und ihm sogar willfährig alle seine Gegner beseitigt, sodass er freie Bahn vorfindet für den Triumphzug, den er demnächst antreten will (siehe auch „Der Führer 4.0 – Er ist schon längst da“).
Barrabas. Nun, wie heißt es im ominösen Buch rund um das Ostermysterium als Kommentar mit fünf knappen Worten, nachdem sich das Volk am Marktplatz frenetisch schreiend für den – offensichtlich über fantastische Entertainerqualitäten verfügenden – Barrabas entschieden hatte, obwohl ihnen der römische Statthalter auch einen anscheinend wenig unterhaltsamen, von Peitschenhieben zerschundenen und bluttriefenden Nazarener zur Wahl geboten hätte, der Nächstenliebe und Frieden im Programm gehabt hätte?: „Barrabas aber war ein Mörder …“
An Gründonnerstag jährt sich zum 50. Mal der Mordanschlag auf Rudi Dutschke. Der Attentäter Josef Bachmann hatte ihm drei Kugeln verpasst, die Dutschke zwar zunächst schwerverletzt überlebte, ihm jedoch Jahre später in der Badewanne einen epileptischen Anfall bescherten, sodass der ehemalige Studentenrevolutionär hilflos ertrank. Mit ihm schied auch viel zu früh eine unermüdliche, energiegeladene Impulskraft ab, die die Studenten- und Friedensbewegung in einer kritischen Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs in der Folge schmerzlich vermisste. Bei den soeben in Gründung befindlichen Grünen, wo Dutschke mit seinen Idealen für Furore sorgte und er als Bundesdelegierter kandidieren sollte, übernahmen in der Folge die „Realos“ – mit allen bekannten Folgen bzw. dem heute in seiner Endphase befindlichen Niedergang der ehemaligen Friedenspartei, deren Vorsitz inzwischen ein Mitglied des PNAC („Project for a New American Century“) innehat.
Hätte man Dutschke und andere alternative Denker nicht vorzeitig weggeräumt, wer weiß, vielleicht müssten wir dann nicht die unsägliche Depression ausbaden, die heute auf allen Ebenen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft herrscht. Dutschke hätte sich jedenfalls eher den Kopf abschneiden lassen, als dass er zugelassen hätte, dass bei den Grünen ein Mitglied des PNAC die Parteiführung übernimmt, der als „Young Leader“ eines US Thinktanks wild entschlossen ist, in den Grand Canyon zu marschieren und zur Konfrontation mit Russland und für eine „Full spectrum dominance“ von Brzezinskis „Einziger Weltmacht“ trommelt (siehe „Die Glyphosat Kanzlerin und die Große Depression“).
So aber – haben andere das Rennen gemacht.
Der Gefängnispsychologe Götz Eisenberg geht in seinem jüngsten Essay einer interessanten Frage nach: Was bringt junge Menschen, insbesondere Studenten dazu, sich dermaßen in den Strom der herrschenden Meinung einzuordnen und sogar diejenigen erbittert zu bekämpfen, die ihnen mit alternativen Denkansätzen eigentlich aus der Lage heraushelfen wollen, in der sie selbst kaum noch atmen können (siehe auch Juri Galanskow: „In eurer Hölle kann ich nicht atmen“). Immerhin wachen in unserer wissenschaftlich aufgeklärten Gesellschaft heute jede Nacht mehr Menschen schweißgebadet auf als in totalitären Regimen (Quelle: Zeit), der Soziologie-Professor Hartmut Rosa bezeichnet unsere stolzen Universitäten mittlerweile als schiere „Entfremdungszonen“, in denen schon unter Jungstudenten Burn-Out und Angsterkrankungen grassieren. Laut jüngsten Krankenkassen-Report gilt bereits jeder sechste Student als psychisch krank (Quelle: handelsblatt). Womöglich würden diese Studenten – und wir alle – augenblicklich wieder gesund und tatkräftig, wenn wir als Lebenselixier nur einen Funken vom Elan und der Inspiration in uns aufnähmen, die in den 60er/70er Jahren noch den Studentenführer Rudi Dutschke und mit ihm eine ganze Generation beseelten.
Dass Dutschke es seinerzeit schaffte, Studenten zu mobilisieren, die couragiert für Frieden und gegen den Vietnamkrieg, Medienmanipulation und gegen die Große Koalition demonstrierten, war den deutschen Qualitätsmedien ein besonderer Dorn im Auge. Umgehend setzte eine mediale Maschinerie ein, um die Friedensaktivisten mit Querfront-Attributen zu diffamieren: „verantwortungslose Störer, bösartige Krawallmacher, Rowdies, Kriminelle und Schädlinge der Gesellschaft“ wären es, die dem Fortschritt von Kommerz und Technik im Wege stünden. Im Februar 1968 rief schließlich die Bild-Zeitung ganz unverblümt zur Lynchjustiz auf: „Man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen.“(sic)
In der Tat ist zu beobachten, dass die seinerzeit von der Springer-Presse bzw. der Bild-Zeitung ausgegebene – heute stillschweigend zum common sense gewordene – Losung, in kleinbürgerlicher Selbstjustiz diejenigen Subjekte zu lynchen und von der Bildfläche verschwinden zu lassen, die dem herrschenden Narrativ (eines technokratisch-kommerzialistisch-nihilistischen Systems) widersprechen, heute nicht nur von einigen labilen Einzeltätern wie Josef Bachmann in die Tat umgesetzt wird. Nein, heute haben sich ganze Rudel an selbsternannten Säuberern zusammengerottet, die diese Drecksarbeit erledigen – ganz unblutig und rein virtuell durch konzertierte Mobbing-, Dissing- und Diffamierungskampagnen, die die Existenz anderer Menschen aber mitunter genauso vernichten können wie das Inbrandsetzen ihres Hauses.
Die Blaupause des aus der „Unterschicht“ stammenden Hilfsarbeiters Josef Bachmann, der vor Gericht zugab, dass er sich von den hetzerischen Artikeln der Bild-Zeitung zu seinem Attentat auf den Intellektuellen Rudi Dutschke hatte anregen lassen, wurde heute auf unzählige Bürger gerade auch der akademischen intellektuell gebildeten Mittelschicht übertragen. Denn wie uns auch der Jurist Milosz Matuschek in seinem nzz-Essay „Das Gastmahl der Geistlosen“ aufklärt, ist dieser gut ausgebildeten Schicht das klassische Bildungsbürgertum zwischenzeitlich abhanden gekommen, sodass man in besagter akademischer Intelligenzia heute zumeist leider im Trüben fischt: in einem „akademisch zertifizierten, aber intellektuell desinteressierten Diplom-Proletariat aus Ärzten, Juristen, Lehrern, Bankern und Ingenieuren, das sich in einen Zustand der Wohlstandsbehinderung hineinpäppelt … wobei sich das Gesprächsniveau in solcher Gesellschaft oft indirekt proportional zur Höhe des Durchschnittseinkommens verhält.“
Strampelt es gerade nicht im Hamsterrad, dann gefällt sich besagtes Diplom-Proletariat darin, ebenso wie Josef Bachmann Jagd auf Fortschrittsverweigerer zu machen. Zwar virtuell auf diversen digitalen Prangern, aber nicht minder brutal und menschenverachtend. Als sich etwa im vorigen Jahr angesichts zunehmender medialer Kriegstreiberei gegen Russland die zarten Sprosse einer neu erstandenen Friedensbewegung wieder sammeln wollten, wurden diese umgehend ebenso niedergetreten wie z.B. die geplante Friedenskonferenz „Angst essen Zukunft auf“ mit Daniele Ganser. Durch Hassblogger aus dem Dunstkreis des Psiram-/Skeptiker-Netzwerks gezielt sabotiert, musste diese in der Folge abgesagt werden (siehe Rubikon), ebenso wie sich die streng wissenschaftlichen Heckenschützen durch konzertierte mediale Aktionen mittlerweile darauf verstehen, Veranstaltungen wie das vom Vorstand der Humanistischen Friedenspartei HFP, Malte Klingauf organisierte Pax Terra-Friedensfestival zu sabotieren und potentielle Besucher abzuschrecken (siehe Rubikon).
Zusammengerottet zu schlagkräftigen digitalen Rollkommandos, diffamieren die Blogger der Psiram-, Skeptiker- und Antifa-Bewegung Friedensforscher, meucheln investigative Journalisten, homöopathische Ärzte und Heilpraktiker (inklusive Angabe ihrer Adressen im Netz, sodass jeder, der meint, dass er diesen fortschrittsfeindlichen Subjekten mal einen Besuch abstatten sollte, auch weiß, wo er mit der S-Bahn hinfahren muss, wenn er Dampf ablassen und damit gleichzeitig ein gutes Werk tun und der Wissenschaft einen Dienst erweisen möchte). Sie feiern frenetisch, wenn eine konzertierte Mobbingaktion wieder einmal erfolgreich war und es ihnen gelungen ist, einen Friedensforscher von einer Universität zu verdrängen, einer alternativmedizinischen Reha-Klinik die Fördermittel zu sabotieren oder die Lehre eines Gemeinwohlökonomen aus den Schulbüchern zu streichen, da die Bildungsministerin ihrer Argumentation gefolgt ist, dass eine solche Gemeinwohl-Lehre definitiv „unwissenschaftlich“ sei – in fortschrittlichen neoliberalen Zeiten wie unseren, in der „jeder Mensch des anderen Menschen Wolf“ zu werden droht (Hobbes): Ja, wirklich, wer braucht da schon Gemeinwohl?
In einem solchen Klima des Hasses und der Häme auf Andersdenkende ist es dann auch nichts Ungewöhnliches mehr, wenn etwa Ken Jebsen, der Betreiber der alternativen Nachrichtenplattform KenFM, mitten in Berlin auf offener Straße in bester Gegend von Schlägern attackiert wird. Auch dass ihm beim Verlassen seiner Wohnung zu Attacken mit abgebrochenen Bierflaschen aufgelauert wird, die er samt seiner Familie und Tochter bisher nur durch Glück unbeschadet überstanden hat (siehe Interview mit Rubikon/Youtube), sowie Aufrufe auf Youtube zum Mord an seiner Tochter – im Jahre 2018 scheinbar Business as usual.
Überhaupt kann man beobachten, dass das, was in den 60er und 70er Jahren noch möglich war: Ideale formulieren, Begeisterung für humanistische Ziele wecken, soziale Einrichtungen, Menschrechts- und Umweltschutzorganisationen begründen, heute kaum noch denkbar oder zumindest unendlich erschwert ist. Hingegen schießen Wettcafes, Flatratebordelle und sonstige Pissbuden allerortens wie die Pilze aus dem Asphaltboden. Beobachtet man den politischen und gesellschaftlichen Diskurs, dann kann man zusehen, wie sinnvolle und notwendige alternative Denkansätze und Reformbemühungen auf wirtschaftlichem, finanztechnischem, sozialem, pädagogischem oder gesundheitlichem Gebiet oder gar philosophisch-humanistische Gedanken umgehend im Keim erstickt werden. Kaum wagt sich jemand aus der Deckung und versucht, ein paar couragierte Gedanken zu formulieren und dem politischen Tagesgeschehen etwas entgegenzusetzen, da er den unfassbaren Niedergang, die Selbstzerfleischung des Landes und die Verödung der Menschen nicht mehr tatenlos mitansehen kann: Sofort setzt ein vehementes Hauen, Kratzen und Beißen ein, sodass derjenige gar nicht mehr weiß wie ihm geschieht: „Bäääh, weg damit ….!!“, plärrt und unkt es dann aus allen Löchern, aus denen dann neunmalkluge sieche Gestalten ihre Schreihälse herausrecken, die sich der Intelligenzia 4.0 / der bored students violence / dem Club der sklerotisierten Flachbildschirmlemuren / den Transhumanisten / den Smartphoneonanisten / den Teletubbies / Sheldon Coopers Cumpels / der Antifa / Rattifa oder den ganz besonders hellen „Brights“(sic!)/GWUPs/Skeptikern zugehörig fühlen und die vor allem eines mitbringen: einen unbändigen Hass gegenüber allen Menschen mit einem anderen Weltbild als sie selbst es haben. Wild zum streng wissenschaftlichen „Fortschritt“ und zur Ausmerzung allen Geistes entschlossen, merken die beim Gastmahl der Geistlosen sitzenden Ritter von Shledon Coopers Tafelrunde gar nicht, wie sie in Wirklichkeit Dantes Eishölle den Weg bereiten.
Die in Dostojewskijs Traum von der szientistischen Pest vorhergesagte Krankheit, sie droht also gerade mit voller Wucht um sich zu greifen und sich zur Pandemie auszuweiten. Wenn wir diesem Wahn nicht rechtzeitig den Stecker ziehen, dann könnte er uns womöglich schon demnächst alle dahinraffen.
Eigentlich wollte ich mit diesen Worten nur zu einem lesenswerten Essay von Götz Eisenberg einleiten, in welchem der Gefängnispsychologe anlässlich des Dutschke-Gedenktages zu ergründen versucht, warum mutige Aufklärer sogar von den Bürgern, denen sie helfen wollen, dermaßen gehasst werden.
Das Problem, das Götz Eisenberg dabei beleuchtet, ist eigentlich ein altbekanntes: Platon hat darüber in seinem Höhlengleichnis bereits berichtet (siehe dazu auch Eifelphilosoph). Vielleicht wäre es also heute im 21. Jahrhundert, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend an der Zeit, diesen stupiden Mechanismus, mit dem wir uns um unsere wertvollsten Köpfe und auch uns selbst stetig dem Grand Canyon näher bringen, endlich einmal zu knacken. Denn allzuviel Zeit bleibt uns womöglich nicht mehr: Die „Doomsday Clock“ wurde soeben auf zwei Minuten vor Mitternacht, d.h. der symbolischen Apokalypse vorgestellt (siehe Spiegel).
Wie bereits in meinem letzten Kommentar muss ich wieder eine Warnung anbringen: Das Lesen von Götz Eisenbergs Essay kann melancholisch machen, vor allem wenn der Autor den Esprit und die Ideale der damaligen Studentengeneration mit unserer Situation heute vergleicht (was uns aber gleichzeitig anspornen kann, diesen Elan – diesmal nicht als Gruppe, sondern individuell – wiederzugewinnen, denn er ist in Wirklichkeit nicht weg, er ist nur zugeschottert und man muss ihn freischaufeln:)
„… Die Erinnerung daran, dass eine menschliche Welt möglich ist, soll getilgt werden. Ein großes Vergessen soll sich breitmachen und jede Alternative schon im Ansatz erstickt werden. Ein Blick auf den Zustand der jüngeren Generation zeigt, dass dieses Vorhaben bereits weit vorangekommen ist. Das gilt leider auch für das Gros der heutigen Studierenden. Sie unterwerfen sich den Anforderungen einer zur Lernfabrik verkommenen Universität und lassen sich widerspruchs- und widerstandslos zu „Kopflangern“ (Brecht) des digitalisierten Kapitals herrichten. Sie begeben sich auf ein Reise-nach-Jerusalem-Spiel um gutbezahlte Jobs und verfahren nach dem altgriechischen Motto: „Glück ist, wenn der Pfeil (der Arbeitslosigkeit) den Nebenmann trifft“. Konkurrenz und Ellenbogeneinsatz statt Solidarität und gegenseitiger Hilfe. Sie pfeifen sich leistungssteigende Medikamente rein, vergöttern Markt und Effizienz, rennen wie Somnambule hinter ihren Smartphones her und trinken auf dem Weg zur Uni einen Coffee to Go. Statt sich in den Kampf zu stürzen, jagen sie Pokémons und tanzen nach der digitalen Pfeife. Insgeheim ahnen oder wissen sie, dass sie keine Perspektiven haben. Das macht sie latent wütend und gereizt. Deswegen besaufen sie sich regelmäßig und trinken oder kiffen sich weg aus einer frustrierenden Realität. Dass sie diese ändern könnten, ist ein Gedanke, der ihnen fremd ist. Von Revolution ist bloß noch die Rede, wenn es um eine neue Geschäftsidee oder die Gründung eines Start-up-Unternehmens geht. Ihr Traum, den sie leben wollen – wie ein gängiger Werbeslogan heißt – ist ganz von dieser Welt: reich sein, Karriere machen und dabei Spaß haben.
(…)
Warum will Bachmann [Anm.: der Attentäter, der auf Dutschke geschossen hat] unbedingt jemanden erschießen, der sich zeitlebens für die Erniedrigten und Beleidigten, also für Leute wie ihn, eingesetzt hat? Um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, muss man die kritische Sozialpsychologie zu Rate ziehen. Das von seinen Erziehern gezüchtigte und gequälte Kind ist dennoch auf deren Wohlwollen und Zuwendung angewiesen. Es muss seine Peiniger lieben, und diese sadomasochistische Verfilzung von Quälerei und Liebe bleibt oft ein Leben lang wirksam. Die Erziehung zu Gehorsam und Unterwerfung unter Autoritäten mündet in eine „Identifikation mit dem Angreifer“, die einen Menschentyp hervorbringt, der verbissen seine eigene Knechtschaft verteidigt. Die in einem „erbärmlichen geistigen und seelischen Zustand“ gehaltenen Menschen, schrieb der junge Max Horkheimer in seinem Buch „Dämmerung“, „sind die Affen ihrer Gefängniswärter, beten die Symbole ihres Gefängnisses an und sind bereit, nicht etwa diese ihre Wärter zu überfallen, sondern den in Stücke zu reißen, der sie von ihnen befreien will“. Diesem, wenn man so will, perversen Mechanismus fielen immer wieder Revolutionäre zum Opfer – von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Kurt Eisner, Gustav Landauer bis Rudi Dutschke.“
(ganzer Artikel: siehe Nachdenkseiten)
Foto:Rosa-Maria Rinkl/CC BY-SA 3.0/Wikimedia
Trägt Robber Williams bei seiner neuen Konzerttournee Unterhosen von Bruno Banani oder doch welche von Giorgio Armani? Über solche tiefschürfenden Fragen liefern unsere Medien täglich erschöpfende Antworten. Da soll noch jemand behaupten, der investigative Journalismus wäre tot.
Als ich vor Kurzem von einer Auslandsreise nach Hause kam, bin ich erschrocken. Das Glashaus, in das ich meine Enten vorübergehend eingesperrt hatte, war komplett versaut: der Boden mit einer dicken Schicht Enten-Dung bedeckt, die Atemluft zum Schneiden dick, im Wasserbecken nur noch eine braune Brühe, aus der die Enten trotzdem unverdrossen tranken und sich darin suhlten. Hätte der Tierschutz Wind davon bekommen – ich bekäme wohl Probleme.
Da Enten von Natur aus sehr reinliche Tiere sind und den Großteil des Tages mit Gefiederpflege verbringen, dachte ich, sie würden nun sofort wie die Raketen aus der Hütte starten, wenn ich ihnen die Tür in die Freiheit aufmache. Doch was passierte? – Die Tiere ducksten herum, erschraken richtig vor dem geöffneten Tor Richtung Freiheit. Als ich sie von hinten aus der Hütte treiben wollte, flatterten sie mir entgegen und an mir vorbei (in Richtung der Sackgasse). Nachdem ich die Gruppe schließlich zu ihrem Glück gezwungen und in die Freiheit getrieben habe, gelang es einer Ente, sich in der Hütte zu verkriechen. Ich ließ sie gewähren, um zu beobachten, wie lange es wohl dauern würde, bis Lallobeh freiwillig nach draußen kam. Die sah aber keinen Grund dazu, machte zwar manchmal einen langen Hals, den sie aus der offenen Tür hinausstreckte, aber über die Schwelle wagte sie sich nicht, sondern blieb wie magisch angewurzelt im Mist stehen. Stattdessen schrie sie kläglich nach den anderen Mitgliedern der Entenschar, dass sie zu ihr zurückkommen sollten – die anderen Enten hatten jedoch in der neuen Freiheit bereits Witterung aufgenommen und erfreuten sich an einem Bad in frischem Quellwasser, während Lallobeh noch im Morast umherwatete. Irgendwann hat sich die Nachzüglerin dann doch ein Herz genommen und die Schwelle zur Freiheit überschritten. Als sie endlich draußen war, blickte sie allerdings zaghaft und verschüchtert um sich, so als ob ihr die Sonne, der Wind und das weite Firmament, das sich nun über ihr eröffnete, Angst machten.
Ich musste schmunzeln über das, was man sprichwörtlich „Gewohnheitstiere“ nennt. Wobei mir die erlebte Szenerie durchaus wie eine Analogie zur heutigen Situation unserer humanoiden Spezies anmutete. Denn im Gegensatz zu den Tieren besitzen wir Menschen zwar kein horizontales, sondern ein vertikal aufgerichtetes Rückgrat, aber auch wir haben ein Gewohnheitstier in uns, das sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit an herrschende Umstände gewöhnen kann, selbst wenn diese zum Himmel stinken und kaum noch erträglich sind.
Inmitten unserer alternativlosen politischen Tristesse wird dabei vielfach vergessen, dass es nicht nur – wie von Karl Marx behauptet – das Umfeld ist, das den Menschen bestimmt, sondern dass vielmehr der Mensch selbst in der Lage ist, das Umfeld bzw. die soziale Realität zu gestalten. Vereinfacht gesagt: Der Mensch selbst ist der primäre Ausgangspunkt aller Entwicklungen und nicht, wie uns im tagespolitischen Diskurs von Merkels Flachmannschaft ständig glauben gemacht wird, die inzwischen unüberschaubaren Sachzwänge und katastrophalen ökologischen, ökonomischen, militärischen und technologischen Entwicklungen, denen wir anscheinend nur noch hoffnungslos hinterherhinken können und eventuell da und dort ein bisschen herumdoktoren und notdürftig einige Löcher flicken dürfen, damit der zur Normalität erklärte Wahnsinn dann wie gewohnt weitergehen kann. Stattdessen wäre der Mensch fähig, ganz unabhängig von den in Wirklichkeit morschen und unhaltbaren Strukturen des vorigen Jahrhunderts neue, menschengerechtere Verhältnisse zu erschaffen. Um sie in die Realität umzusetzen, muss er solche Möglichkeiten nicht nur denken, sondern sie auch, beseelt durch ein inneres Ideal, bis zu einer fast schon greifbaren Empfindung bringen. Empfindung ist hierbei nicht zu verwechseln mit Emotion, die das glatte Gegenteil einer aufbauenden, verbindenden Empfindung ist: Während menschliche Empfindungen, die von humanen Idealen ausgehen, eine große verbindende Kraft haben, so wirken schnell hochgekochte Emotionen in der Regel spaltend (was im Übrigen auch der Grund ist, warum Beziehungen, die hauptsächlich auf Emotionen beruhen, so schnell wieder auseinanderbrechen).
Ebenso fundamental unterschiedlich wie in ihrer Auswirkung ist auch der Ursprung von Emotion und Empfindung: Während die Emotion quasi tief in unseren Körper- und Persönlichkeitsstrukturen abgespeichert, also etwas Altes ist, so ist die Empfindung etwas Neu zum jeweiligen Erb- und Erfahrungsgut Hinzugebildetes. Schafft man es, solcherart Neues / gesunde Empfindungen zu seinem bisherigen Gefühlsrepertoire hinzuzubilden, dann kann Altes / Verkrustetes / längst nicht mehr Brauchbares abfallen. Auch gegen Depressionen wird man solcherart weitgehend immun. – Mit neu errungenen Empfindungen fühlt man sich dann in etwa so wie die Enten, die endlich aus dem Morast ihres total verdreckten Stalles wieder hinaus in die sonnendurchflutete, frische Luft gehen können.
Emotion und Empfindung sind also in Wirklichkeit regelrechte Antagonisten, wobei die Emotion ein sehr lauter und polternder Weggenosse ist, während sich die Empfindung vergleichsweise leise und bescheiden gebärdet. Andererseits ist die Empfindung fähig, tief zu dringen und im Inneren Wurzeln zu schlagen, während die Emotion an der Oberfläche bleiben muss und schnell wieder verpufft, also etwas sehr Kurzlebiges ist.
Die besondere Krux: Emotion ist bereits fertig im Körper bzw. in unserem Unterbewussten abgespeichert und kann durch simple Knopfdrücke in Form einschlägiger Reize oder vorurteilsbeladener Schlagwörter jederzeit aufgerufen und hochgekocht werden (Werbe- und Marketingexperten beherrschen diese Klaviatur inzwischen perfekt). Die neue Empfindung ist hingegen noch ungeboren und muss durch bewusste Bemühung herangebildet und kultiviert werden wie ein zartes junges Pflänzchen. Um eine gute Empfindung heranzubilden, braucht es einen substanziellen Gedanken bzw. ein Ideal. Ein Ideal bzw. ein Gedanke ist dann substanziell, wenn er objektiv gültig, d.h. aus dem Fundus universeller humaner Werte geschöpft ist und nicht nur aus dem Requisitenkasten subjektiver Wertvorstellungen oder Gruppenzugehörigkeiten. Nicht umsonst haben auch die Verfasser der Allgemeinen Menschenrechtscharta wie Stephane Hessel die in der Charta verankerten Rechte als „universell“ bezeichnet. Das Grundaxiom bildete dabei die Würde des Menschen bzw. das Bestreben, diese zu wahren, und zwar unabhängig von der Zugehörigkeit des Menschen zu Parteien, Ländern und Weltanschauungen.
Leider sind uns Ideale heute etwas unheimlich geworden, wir verwechseln sie zu schnell mit Ideologie, mit der wir ja bekanntlich in der Geschichte sehr schmerzvolle Erfahrungen gemacht haben. Dabei wird etwas nur dann zur Ideologie, wenn es rein intellektuell ist und wenn wirkliche humane Ideale und Empfindungen abwesend sind. In Wirklichkeit haben wir es daher heute ohnehin bereits überall mit Ideologien zu tun: Der Neoliberalismus, unser wachstums- und profitorientiertes Wirtschaftsmodell, unsere naive Technikgläubigkeit, die Industrie 4.0 / Schule 4.0-Propaganda, der Ost- West Konflikt mit seinem mittlerweile wieder brandgefährlich gewordenen Säbelrasseln (siehe „Wenn der russische Bär eine Anakonda am Hals und der Hund die Hausaufgaben gefressen hat“) – alles dies basiert auf einseitigen, verhärteten Sichtweisen und unnötigen Polarisierungen, die mit etwas gutem Willen längst überwunden sein könnten.
Damit ein wirkliches Ideal die Kraft hat, Polaritäten, soziale und weltpolitische Gräben zu überwinden, muss es einen über jeweilige Partikularinteressen der Konfliktparteien hinausgehenden Inhalt haben. Und nun der springende Punkt: Der große Irrtum ist es, zu glauben, dass man solche Inhalte aus der technokratisch-materiellen Ebene, also aus der Welt der Polaritäten schöpfen könnte. Nein, besagte polare Erscheinungen der Welt brauchen ihrerseits stets einen Zustrom von neuen, gesunden Gedanken aus der Welt des menschlichen Geistes, sonst geht alles den Bach runter und in die Degeneration über. Selbst der verschlafenste Fernsehbürger kann dies heute beobachten: Egal, welche noch so intellektuellen Politköpfe scheinbar noch so vernünftige und effiziente Strukturmaßnahmen in die Wege leiten (siehe „Bodenständige Politiker im Maulwurfspelz und AFX-Parteien“) – es kommt mit jeder Maßnahme, die nur auf technokratischen und ökonomischen Erwägungen basiert, zu noch mehr ausuferndem Chaos und Niedergang, so wie in einem Treibsand, der einen mit jeder zusätzlichen Körperbewegung nur noch schneller erbarmungslos nach unten zieht.
Schaffte man es hingegen, einen universell gültigen Gedanken in das Polit- und Wirtschaftsgeschehen zu führen, der nicht bloß auf die materielle Ebene fokussiert ist – obwohl er sich auch auf diese günstig auswirken wird -, sondern auf die seelische (=die persönlich menschliche) und auf die geistige (=die individuelle, eigentlich überpersönliche und unwägbare, von Viktor Frankl als „spezifisch-humane“ bezeichnete) Ebene des menschlichen Daseins bezieht, dann würde man sich wundern, wie schnell sich die derzeit abgründig erscheinenden Dinge um uns herum plötzlich wieder zum Besseren wenden und eine Aufwärtsentwicklung sichtbar wird.
Die Gretchenfrage dabei ist natürlich: Wo schöpft man substanzielle, universell gültige Gedanken?
Aus dem akademischen Betrieb unserer Universitäten scheinbar nur schwer. Nach Aussage des Jenaer Soziologie-Professor Hartmut Rosa sind die Universitäten heute zu „Entfremdungszonen“ geworden, in denen schon unter Jungstudenten Burn-Out und Angsterkrankungen grassieren und in unserer hochtechnisierten Welt jede der Nacht mehr Menschen schweißgebadet aufwachen als in totalitären Regimen (Quelle: Zeit).
Doch lassen wir uns von diesen Zeiterscheinungen nicht allzu sehr ablenken. Bei all den schwarzen Rauchschwaden, die heute unsere Sicht vernebeln, übersehen wir nämlich leicht die großen Möglichkeiten, die jeder einzelne von uns hat bzw. individuell entwickeln kann. Denn wir werden vergeblich warten, dass eine neue Partei, ein neuer Kennedy oder ein neuer Schulz unseren Karren aus dem Dreck zieht. Der substanzielle Inhalt kommt heute nicht mehr von äußeren Autoritäten und Institutionen – diese sind in unserem Zeitalter zu leeren Hüllen, bloßen Vehikeln des schnöden Erwerbs und Kahlfraßes geworden. Heute ist jeder einzelne Mensch selbst für die inhaltliche Bereicherung des Lebens verantwortlich – auf ganz individuelle Weise entsprechend seinem Arbeits-, Freundes-, Familien- und Interessensumfeld.
Es ist natürlich grotesk: Einerseits sind die Zeiten heute so verrückt wie noch nie (unser geschätzter Leser Firefox sprach unlängst von einem „Kopfstand der Realität“), andererseits stehen uns trotz aller äußeren Bedrückung individuelle Möglichkeiten offen, die es noch niemals zuvor gegeben hat. Zum Beispiel philosophisches Wissen zu erwerben bzw. in eine Philosophenschule wie die von Platon oder Pythagoras einzutreten – diese Möglichkeit wurde früher nur einer Handvoll Menschen gewährt, und das auch nur unter extrem schwierigen Auflagen, Todeseiden und tödlichen Prüfungen. Heute steht es theoretisch jedem von uns offen, sich tiefstes philosophisches Wissen, Verständnis über Mensch, Welt und den Sinn des Daseins und damit substanzielle universelle Werte anzueignen. Die Literatur des Abendlandes ist voll davon. Nur liegt es eben in jedermanns freier Wahl, womit er seine Zeit verbringt – viele entscheiden sich, lieber einen toxischen Illustriertenpudding über Robbie Williams und Paris Hilton zu löffeln (siehe Steve Cutts: „Are You Lost In The World Like Me?“) oder ihre Eingeweide mit einer fetttriefenden Dschungelcamp-Pizza zu füllen. Dabei gäbe es klares Gebirgswasser, wunderbare Früchte und für den, der sich die Mühe macht, sich als Eisbergsteiger durch die neoliberal-szientistisch vergletscherten Regionen bis über die Nebel-/Blendgranatenwolken durchzuarbeiten sogar: … strahlenden Sonnenschein!
In diesem Sinne: Nur Mut und vor allem keine falsche Bescheidenheit. Wenn sich sogar Lallobeh, die lahmste Ente in meinem Stall, schließlich durchgerungen hat, die Schwelle des verdreckten alten Stalls zu überschreiten und hinaus an die Sonne und in frisches Wasser zu wackeln, dann bin ich zuversichtlich, dass auch wir das noch schaffen werden …