Ich-Werdung

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Endzeit-Poesie 4.0: Über die Evakuierung des eigenen Ich auf der sinkenden Titanic

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Als Überlebensmaßnahme Nr. 1 in einer Zeit, in der wir nonstop mit Bullshit-Entertainment bzw. Infotainment bombardiert werden und sich die politische Vernunft im Bemühen erschöpft, „Arbeitsplätze auf der Titanic zu erhalten“ (Peter Sloterdijk), empfiehlt Sloterdijk die „Evakuierung des Innenraums durch Ausräumung des Nichteigenen“:

„Von nun an soll in der Welt sein heißen suum tantum curare: Sich gegen alle Zerstreuung ins Nicht-Eigene um das Eigene kümmern und nur um dieses.“

Also sich nicht mehr passiv mit medialer Gülle abfüllen lassen, sondern selbst einen Gedanken wählen, der dann für eine Zeitlang der persönliche Leitstern sein darf und den man aktiv von mehreren Seiten betrachtet. „Einen guten Satz für die Nacht und einen für den Tagesbeginn auswählen“, lautet Sloterdijks Antidot gegen die drohende Vermassung (P. Sloterdijk in „Du musst dein Leben ändern, Frankfurt 2009).

Was sich bei der Betrachtung dieses gewählten Gedankens herausbildet, verhilft uns zu einer profunden Ich-Bildung, gibt uns ein Zentrum, um das sich in der Folge alles Weitere drehen kann, was uns im Leben begegnet. Hat man ein solches individuelles Zentrum bzw. ein echtes Ich ausgebildet, dann brauche man nicht mehr „Fahnenflucht aus der gescheiterten Ich-Bildung betreiben“, die lt. Sloterdijk „geradewegs in die Besessenheit durch den Großen Anderen führt“. Dieser Große Andere, in dessen allwissende, allmächtige, nur leider nicht allgütige Arme sich derzeit viele an der Ich-Bildung gescheiterte Zeitgenossen flüchten möchten – mitunter auch unsere scheinbar intellektuellsten Köpfe – bietet sich uns heute insbesondere als „Künstliche Intelligenz“ bzw. als „Digitale Transformation“ an.

Dazu aber ein andernmal mehr. Lassen wir die Maschinenintelligenz vorerst beiseite, bleiben wir bei der Menschenintelligenz bzw. beim inneren Zentrum des Menschen. Hat man dieses Zentrum bzw. diesen selbst gewählten Gedanken nicht (der irgendwann zur Empfindung und damit dann erst zum authentischen Teil der eigenen Persönlichkeit werden soll), dann bleibt man an der Peripherie. Und in dieser Peripherie ist man wie in einer Drehtrommel im Rummelpark: Die Fliehkraft setzt dort am stärksten an. Ist man nicht angeschnallt, schmeißt es einen hoffnungslos hin und her. Steht man hingegen im Mittelpunkt einer solchen Trommel, direkt an der Drehachse, greifen fast keine Fliehkräfte an, man kann ruhig stehen.

Da man solch einen Gedanken auch leicht falsch verstehen lann, ein kurzer Disclaimer: Eigentlich kann man einen Gedanken bzw. ein Zentrum nie „haben“. Ein wirkliches persönliches Zentrum entsteht paradoxerweise nicht dann, wenn man sich auf die persönlichen Belange und die eigene Befindlichkeit fixiert, sondern immer nur dann, wenn man zu einem Gedanken, der noch außerhalb von einem selbst liegt bzw. einem neu ist, in Beziehung tritt.

Die Wahl eines solchen Gedankens „für die Nacht und für den Tag“ ist scheinbar nichts Spektakuläres. Deswegen praktiziert es in einer Gesellschaft, die im Essen Glutamate braucht, um überhaupt noch etwas zu schmecken (wie mir eine Restaurantbesitzerin vor Kurzem erzählt hat, gibt es praktisch kein Restaurant, in dem Geschmacksverstärker nicht verwendet würden), auch kaum jemand. Man hat kein unmittelbares Erfolgserlebnis dabei, wenn man einen Gedanken aufbaut, keinen „Kick“, so wie man ihn beim Kippen eines Espresso, eines Energydrinks oder beim Gucken einer Sitcom-Soap spürt. Der Erfolg der Betrachtung eines Gedankens – oder eines Objekts – ist also, dass man zunächst keinen Erfolg hat.

Aber wie wir aus den Neurowissenschaften wissen, findet die Bildung neuer Strukturen bzw. Verknüpfung von Synapsen, also der eigentliche Erkenntniszuwachs erst in der Nacht statt, d.h. tagsüber kapieren wir eigentlich noch recht wenig von dem, womit wir uns beschäftigen. Tagsüber berühren wir den Gegenstand unserer Betrachtung nur an seiner alleräußersten Oberfläche. Obwohl es für das Geschehen in der Nacht bzw. für den Zustand, in dem wir wieder aufwachen, entscheidend ist, womit wir uns tagsüber beschäftigt haben. Dass wir zumeist im Trüben fischen und nur an der Oberfläche bleiben, ist  auch ein wesentlicher Grund, warum wir so unzufrieden sind und uns „unrund“ fühlen. Denn wir gehen bei dem, was wir im Job als „Multi-Tasker“ und ebenso in der Freizeit zur Unterhaltung tun, weitgehend leer aus. Die unendliche Fülle und Tiefe, die sich hinter jedem Ding, jeder Pflanze, jedem Tier, jedem Menschen … auch hinter jedem Farb- oder Klangeindruck verbirgt, bleibt uns verborgen.

Wir fühlen uns daher getrieben, diese Leere zu kompensieren, indem wir ständig zu neuen Eindrücken hasten, die Dinge und Partner um uns in immer kürzeren Zeitabständen auswechseln, unbedingt das neue Woop-Babalooba-Ajax konsumieren müssen, das uns diese weißgezahnten Strahlemänner und Strahlefrauen im Werbeblock vor der Tagesschau präsentieren. Das ist gut für das Kommerzleben des Neoliberalismus, aber schlecht für uns als Menschen. In Wirklichkeit höhlen wir uns dabei nur noch mehr aus, denn wir sind Beziehungswesen, deren Beziehungen auf diese Weise immer oberflächlicher, dürftiger und wurzelloser werden. Ein solcher oberflächlicher, dürftiger und wurzelloser Zustand spielt natürlich dem Neoliberalismus in die Hände und ist sogar geradewegs die Grundbedingung für seine Existenzfähigkeit, genauso wie Schwarzschimmel zu seiner Ausbreitung ein feuchtes, warmes und dunkles Milieu braucht. In der Sonne hätte er keine Chance, zu wachsen und Sporen auszubilden.

Die politisch-mediale-konzernwirtschaftliche Megamaschine des Neoliberalismus tut daher alles, um uns zu oberflächlichen, dürftigen und wurzellosen Menschen zu machen. Wie Mathias Burchardt schon festgestellt hat, „geht es dem Neoliberalismus und seiner Ideologie um die Atomisierung sozialer Zusammenhänge und des Kampfes Jeder gegen Jeden. Alles soll „Markt“ werden, nichts mehr so bleiben, wie es einst war“, um uns „zu Insassen einer apolitischen, technokratisch-ökonomistischen Untertanenfabrik“ zu machen (Quelle: Burchardt,  “Terror und Technokratie”).

Gleichzeitig liegt darin aber auch der Lösungsweg aus dem derzeitigen Dilemma: Je mehr ein Mensch es verhindert, zu einem oberflächlichen, dürftigen und wurzellosen Menschen gemacht zu werden und stattdessen tiefgründiger, substanzieller und wurzelreicher wird, umsomehr trocknet er auch den Neoliberalismus aus.

Die größte Ketzerei, die man dem Moloch des Neoliberalismus in heutiger Zeit entgegensetzen kann – und die daher von diesem Moloch bzw. seinen Schergen der Inquisition auf allen Ebenen des Bildungswesens wütend bekämpft wird – ist es also, an die reale Existenz des Gedankens zu glauben. Und zwar nicht des Gedankens als Produkt des Gehirns, sondern so wie ihn Plato, Heraklit und alle echten Philosophen verstanden haben: Als frei verfügbare Entität, die sich im Gehirn des Menschen bloß widerspiegelt so wie die Sonne am Mond, aber nicht Produkt des Gehirns selbst ist.

Behalten Sie diesen Gedanken über die Natur des Gedankens ruhig eine Zeit für sich im Geheimen. Sprechen Sie nicht darüber. Die Inquisition schläft nicht und würde Sie umgehend auf die Streckbank spannen, wenn sie Menschen mit solch einem ketzerischen Gedankenverständnis in die Finger bekäme. Denn die „digitale Transformation“ und die Smart City Gesellschaft 4.0 wären dann abgesagt – kein gesunder Mensch, der ganz bei Trost ist, würde sich und seine Lebensumwelt einer solchen Transformation unterziehen. Würde er doch erkennen, dass dem Menschen damit das Wertvollste geraubt wird, was er besitzt. Die neoliberale Inquisition setzt daher alles daran, den Menschen so früh wie möglich in die Zweidimensionalität plattzuhämmern und ihm das Credo des Nihilismus einzupläuen („Mensch und Welt sind nur geistlose Kohlenstoffzusammenballungen. Ergo ist alles wurst. Ergo können die verbliebenen Umwelt- und Humanressourcen nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien ausgeschlachtet werden.“)

Ein Ketzer, der den Gedanken als etwas Freies, Lebendiges, sich ständig metamorphosierendes im Sinne einer platonischen Urbildekraft ansieht, wird die tatsächliche Ketzerei bzw. das kapitale Verbrechen unserer Zeit ganz anderswo verorten. So wie Sloterdijk, für den „die abscheulichste Ketzerei“ nichts anderes ist als „die Trivialität des rein äußerlichen Lebens“ (a.a.O.). Um aus dieser Abscheulichkeit zu entkommen, brauche es eine Abkehr von der Massenkultur und „anspruchsvolle Rückzugsformen“, die allerdings nichts mit Flucht vor der Realität zu tun haben, sondern die den Menschen geradewegs die Kraft geben, sich sozial wirksam mit ebendieser ansonsten fast schon unerträglichen Realität auseinanderzusetzen.

Zu seiner inneren Kernung bzw. Ich-Werdung führt allerdings nur der enge Weg und nicht der breite. Und diesen finde der Mensch nur  „durch die Abkehr von der Massenkultur, weil die alles infiltrierende Massenkultur aufgrund ihrer siegreichen Mischung aus Simplifikation, Respektlosigkeit und Unduldsamkeit jeder normalen Vorstellung von Höhe abgeneigt ist, erst recht von Höhen, an denen sie sich messen sollte“. Voraussetzung dieser Abkehr von der Massenkultur sei „der zeitweise kürzere oder längere Rückzug in eine selbst gewählte Einsamkeit. Dieser Rückzug allein bewirkt schon Wunder … Es gilt, einen guten Satz für die Nacht und einen für den Tagesbeginn auszuwählen, Gedanken und Ereignisse, die es wert sind, mögen notiert werden, das Nachsinnen über ein Gedicht oder die ruhige Betrachtung eines schönen Gegenstandes, eines Edelsteines, einer Blüte, einer Figur, schließen die innere Welt auf. Aber auch die Arbeit in Haus und Garten, wenn sie nicht als lästig empfunden, sondern als sinnvolle Ausformung der Lebenszeit angesehen wird, erzeugt einen spirituellen Mehrwert.“ (Sloterdijk, P., „Du musst dein Leben ändern“, Frankfurt a.M. 2009).

Foto:pw/nachrichtenspiegel.de


Allgemeines zur Kolumne „Endzeitpoesie 4.0 – Brennholz gegen Robotisierung und drohenden Erfrierungstod“:

Da in unserer aus den Fugen geratenden Welt vieles nicht mehr rational verstehbar und auch kaum noch ertragbar ist, brauchen wir dringend ein Gegengewicht aus dem Reich der Poesie … mit diesem geistigen Gegengift in den Adern wird vieles Unverständliche plötzlich wieder verständlich und Unerträgliches wieder ertragbar – oder noch besser: gestaltbar!

Denn die größte Lüge, die uns heute beigebracht wird, ist: dass der Einzelne ohnehin nichts tun kann. – Das genaue Gegenteil davon ist wahr: Es kommt auf jeden einzelnen an und das mehr als jemals zuvor. Und wie uns schon Dostojewskij erklärt hat, ist im Leben auch niemals etwas umsonst, selbst wenn eine Bemühung keinen sichtbaren Erfolg zeigt: „Alles ist wie ein Ozean, alles fließt und berührt sich; rührst du an ein Ende der Welt, so zuckt es am anderen.“

Gerade unsere geistlose Zeit braucht philosophische Gedanken wie eine Wüste das Wasser. Dieses Wasser – die Gedanken der großen Geister der Menschheit – gibt es schon lange. Aber die scheinbar alten – in Wirklichkeit ewig jungen – Gedanken bleiben nicht dieselben: Jeder, der sie aufgreift und verinnerlicht, färbt sie mit seiner individuellen Persönlichkeitsnote ein und bringt dadurch wieder ganz neue Farben in die Welt, die bisher noch nicht existiert haben. Und solche Farben braucht unsere grau gewordene Welt (siehe 1000 Gestalten.de) heute dringend – sie saugt sie auf wie ein trockener Schwamm das Wasser … damit wieder Neues, Kreatives, Menschliches entstehen kann.

In diesem Sinne wollen wir der pseudopragmatischen Alternativlosigkeit (siehe „Der Führer 4.0 – Er ist schon längst da“) die Gefolgschaft in den Grand Canyon verweigern und es lieber mit Ilija Trojanow halten: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“. – Dann kann die scheinbare Endzeit zu einem neuen Anfang werden.

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