(Bilder: Jacques Prilleau, Citizen59/CC/BY/SA)
Ich weiß, es gäbe Wichtigeres zu berichten als über die neue Hipster-Kampagne von Mercedes, z.B. dass in den Kellern des Pentagon vor Kurzem ein Treffen der führenden Generäle von US Army, Marine und Air Force stattgefunden hat. Das allen Ernstes behandelte Thema: die Siegeschancen in einem großen Krieg gegen China und Russland, also in einem Dritten Weltkrieg. Das im Anschluss dem US Senat dargelegte Ergebnis: Die USA werden gewinnen, aber es wird wohl etwas länger dauern und mehr kosten als erwartet (Quelle: New Eastern Outlook). Mit anderen Worten ist der Endsieg also nur eine Frage des Businessplans. Und wenn der Businessplan stimmt bzw. der Erfolg einer Unternehmung in Aussicht steht, hat man jenseits der Atlantikbrücke bekanntlich noch nie lange gezögert, um ein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Da es, wie Noam Chomsky angemerkt hat, in den USA in Wirklichkeit nur eine einzige Partei gebe, nämlich die „Partei des Business“, dauert es in der Regel auch nicht allzu lange, bis man sich auf Geschäftsführerebene über Geschäftsfragen handelseins ist.
Aber lassen wir das Thema Armageddon wieder beiseite und widmen wir uns unterhaltsameren Dingen. Wer weiß, möglicherweise finden wir inmitten dieser Unter-Haltung auch die Masche, an der wir ziehen müssen, um die Zwangsjacke, die uns trotz überbordendem Wohlstand kaum noch Atemraum lässt, wieder aufzulösen. Trotz äußerlich unterschiedlicher Attitüde geht es in der Werbebranche ja im Kern ums Gleiche wie in der Rüstungsindustrie: ums Business. Und da Geschäft bekanntlich Geschäft ist, wird da wie dort nicht gekleckert, sondern geklotzt, und zwar auf höchst professionellem Niveau. Schauen wir uns gleich mal ein solches Klotzstück an, wie es jüngst über die Glotze rund um den Erdball geschickt wurde und nun bis in die hinterste afrikanische Buschhütte kulturprägend wirkt (siehe YouTube):
Man sieht, wie ein smarter Hipster am Smartphone mehrmals seine verflossene Freundin frägt, ob sie nicht doch wieder einmal Lust auf ein Treffen habe. Man erfährt nicht, warum die junge Dame alle Angebote des Freiers so unwirsch zurückschlägt, aber vermutlich hat sie keine Lust, sich nochmals auf einen Hedonisten einzulassen, der einfach nur seinen Spaß haben will und der sich auf Tinder sofort nach einer anderen Katze umsieht, sobald seine Partnerin einmal krank wird oder in eine Krise kommt (siehe feinschwarz: „Pizza-Sex“). Wenn man sich schon einen Mercedes-Roadster leistet, dann will man ihn ja nicht in der Garage stehen lassen, sondern schon ein paar Spritztouren machen. Wozu ackert man denn sonst hart in einer Wirtschaftskratzlei, deren Geschäftsmodell man eigentlich hasst, wenn man sich nach Feierabend sonst nichts gönnt?
Und obwohl die verflossene Dame sonst nichts mehr für ihren Ex-Lover übrig hat, so gibt sie ihm immerhin noch einen eindringlichen Rat mit auf den Weg: „Schau, dass du dein Leben voranbringst!“ – Womit wir wieder beim zentralen Imperativ „work hard“ sind (siehe dazu auch Carmen Loosmanns Doku „Work Hard,Play Hard“).
Sein Leben voranbringen … frägt sich nur, in welche Richtung? Helmut Qualtingers „Wilder auf seiner Maschin‘“ fällt mir ein, der auf die Frage, wohin er denn fahre, im Vorbeirasen antwortet: „Waaß i ned, aber dafür bin i g‘schwinder durt!“
Sein Leben voranbringen … wie auch Mercedes Vizepräsident den Inhalt der neuen Werbekampagne chrakterisierte: als „progressiv, dynamisch…“ – Ja, Hauptsache progressiv und dynamisch. Die Frage, wo uns diese Progression und Dynamik hinführt (siehe auch „Auf dem Weg zur digitalen Transformation und zum Final Handshake“), werden wir schon sehen und ist für trendige Nerds, die voll von der Gegenwart okkupiert sind, eher nebensächlich. Busy going nowhere, wie es der Vollzeitpartylöwe Hubertus von Hohenlohe schon formulierte, der inzwischen selbst meint, dass wir „in einer Welt von Schein, Rauch, Elektronik und Showbusiness leben“ und den Verlust des Kontakts zu den „Grundelementen der Natur und des Lebens“ beklagt (Quelle: kurier).
In besagtem Werbespot bekommt man schließlich unter melodramatischer Musikuntermalung zu sehen, wie der verschmähte Hipster während eines Radrennes stürzt und sich am Asphalt blutig schrammt. Mit letzter Kraft kann er sich gerade noch zu seinem Mercedes schleppen, an dem er sich dann auf den Boden gesunken anlehnt. – Wie gut, dass es zumindest einen Blechfreund gibt, der in einem existenziell erschütterten und eigentlich bodenlosen Leben einen stabilen Faktor abgibt … wo der Hipster dann seine Wunden lecken und sich wieder sammeln kann. Abends soll er ja wieder fit for fun sein, und am nächsten Morgen will der Chef Leistung und neue Kaltaquisen sehen. Wie Microsoft jüngst verkündete, wird im neuen Microsoft Office eine künstliche Intelligenz namens „Workplace Analytics“ in Zukunft akribisch analysieren, mit welcher Effizienz ein Büroangestellter E-Mails schreibt und Verkäufe abschließt. Als Messlatte setzt die künstliche Intelligenz dabei eine Verhaltensanalyse der erfolgreichsten Verkäufer in der Vertriebsabteilung an (Quelle: Telepolis). Wenn der von seiner Wochenend-Spritztour heimgekehrte Mercedes-Hipster bei diesem Leistungsmaßstab nicht mithalten kann, dann wird er schnell auch die Leasingraten nicht mehr berappen können und die Bank zieht sein Luxusspielzeug wieder ein. Damit ihm also nicht auch noch die letzte Stütze genommen wird, an die er sich bisher anlehnen konnte, wird der Hipster im Hamsterrad vermutlich alles geben. Sonst stünde er ja buchstäblich vor dem Nichts …
Das wirft wieder einmal eine unverschämt ketzerische und naive Frage auf, die einem im mammonitischen Zeitalter auch umgehend den Kopf kosten kann, wenn man sie öffentlich stellt: Aber ist es ein solch lackiertes Blechhutschpferd überhaupt wert, dass man deswegen als junger Mensch „Alles“ dafür gibt und sein Leben verheizt? Wenn man am Ende seines Lebens zurückblicken muss, so wie der in Steve Cutts Video am Dach seiner Wirtschaftskratzlei auf einer Banane ausrutschende Bürohengst (siehe YouTube), dann wird einem womöglich angst und bange werden angesichts der verronnenen Lebenszeit. Denn Lebenszeit hat im Gegensatz zu Geld eine besonders vertrackte Eigenschaft: Einmal verloren, kehrt sie nie wieder zurück. Verlorenes Geld kann man wieder verdienen, verlorene Lebenszeit ist hingegen einfach futsch.
Aber lassen wir solche ketzerischen Gedanken wieder, sie zersetzen nur die Wehrmacht, die unsere Volkswirtschaft in Zeiten des marktradikalen Wettbewerbs dringend braucht. Kehren wir stattdessen zurück in die nackte Realität. Wie schnell jedenfalls Mercedes-Karossen sogar in betuchten Wohngegenden abbrennen können, durfte man ja am diesjährigen G20-Gipfel in Hamburg beobachten (auch wenn sich die Wut der schwarzvermummten Gestalten dort seltsamerweise eher auf mickrige Kleinwägen gerichtet hat, aber das ist ein anderes Thema … zumindest bei den Unruhen in Paris – siehe Foto unten – hat sich die Demonstrantenwut noch auf die Luxuswägen der Upperclass gerichtet).
Mercedes E350 – abgebrannt (Foto: CC/BY/SA/Citizen59)
Aber sind diese Tagesschaubilder überhaupt echt oder nur Fake? Das kann doch nicht sein, dass dermaßen glitzernde, titanisch unbesiegbar wirkende Stahlharnische samt ihren edlen, mokkafarbenen Kunstlederbezügen, den elektrischen Nackenstützen, der Klimatronic und dem WiFi-SubWoofer-System in wenigen Augenblicken zu einem übel stinkenden Gummiklumpen zusammenschmoren, den man dann als Sondermüll entsorgen muss. Stolze Besitzer, die da keine Vollkaskoversicherung samt Terrorismus-Paket abgeschlossen haben, werden also bis zum nächsten Workaholics Day noch härter arbeiten müssen.
Wenn dem Hipster, dem seine Freundin durchgebrannt ist, nun auch seine letzte Stütze abbrennt und er sich nicht einmal mehr an seinem vierrädrigen Freund anlehnen kann, dann frägt man sich schon, auf was denn ein junger Mensch heute überhaupt noch bauen kann.
Eigentlich kein Wunder, dass angesichts solcher Bodenlosigkeit immer mehr Hipster in eine Virtual Reality Cloud emigrieren …
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zum Weiterlesen:
„Grow up“- Teil 1: Jetzt weiß ich endlich, was ein Hipster ist
„Grow up“- Teil 2: MamaPapaBaby Hipster
Endzeit-Poesie 4.0: Die Entscheidung – Das Mingle-Dasein von Generation Tinder
dem hipster
hängt
der zwickel
tief
irgendwas
mit medien.
echt.
(j. l. prilleau)
Vor Kurzem hat mir ein Spenglermeister, eigentlich ein sehr beherrschter und gutmütiger Mann, erzählt, dass ihm gerade die Nerven gerissen seien und er einem seiner Lehrlinge eine heftige Ohrfeige gegeben habe. Der Grund dafür war, dass er es einfach nicht mehr fassen könne, wie die jungen Leute nur noch auf ihren Smartphones herumwischen, selbst die einfachsten Dinge quasi über Nacht vergessen und er ihnen die elementarsten Handgriffe jeden Tag aufs Neue erklären muss.
Wie soll man also in solcher Situation allgemeiner Gehirnerweichung jungen Leuten, die sich nichts mehr merken, trotzdem die Botschaft einprägen, dass sie „Dinge kaufen sollen, die sie nicht brauchen … um Geld, das sie nicht haben … um Menschen zu imponieren, die sie nicht mögen“ (R. D. Precht)?
Nun, ich versichere Ihnen – das geht! Selbst in Zeiten von Prekariat und Working Poor ist es möglich, eine ganze Generation auf Linie zu bringen, wenn man mit einem mehrstelligen Millionenbudget die hochkarätigsten Experten aus den Bereichen Marketing, Psychologie, Regie, Show, Product Placement, Sounddesign und Industrial Light&Magic zusammenspannt – dann schaffen wir das! Ein Musterbeispiel dafür ist die neue Mercedes-Kampagne „Grow up“, mit der aktuell alle Informationskanäle geflutet werden. Der Marketingchef von Mercedes-Benz spricht von einer „unkonventionellen Kampagne, die sich in ihrer digitalen Ausrichtung und ihrer Content-Mechanik nicht sofort wie Werbung anfühlt“. Mit mehr als 100 „Bewegtbildsequenzen“ und über 90 „Lifestyle- und Produktbildern“ soll bis Ende des Jahres „eine junge Generation im Spannungsfeld des Erwachsenwerdens“ dargestellt und damit „permanente Visibilität und Aufmerksamkeit“ generiert werden.
Werbeprofis sprechen von einem genialen Schachzug und evolutionären Schritt in der Profession des Product Placements: Luxusfahrzeuge werden nicht mehr plump direkt beworben, sondern „beiläufig eingeflochten“ und als „unverzichtbarer Luxus“ im Leben junger Hipster dargestellt, während sich der hauptsächliche Inhalt der Filmsequenzen eigentlich auf die hedonistischen Lebensgefühle einer konsumorientierten Generation Doof bezieht, wie sie der neoliberale Konzern gerne in seinem Bilderbuch stehen hätte. Marketing-Experte Matthias Meusel (Grey Berlin) zur neuen Kampagne: „Mercedes-Benz ist eben nicht nur der Begleiter in allen schönen und schwierigen Lebenslagen, sondern steht für den neuen Alltags-Luxus, für den mobilen Hedonismus der jungen Generation (…) daher ist die Kampagne aktuell eher nur als Hipster-Lifestyle-Content zu sehen.“ Auch sein Kollege Michael Reidel titelt: „Mercedes, jetzt auch für Hipster“.
Gehen wir aber gleich in medias res und tauchen wir für eine Minute in den Original-Trailer von „Grow up“ ein. Die Marketing-Experten der für die Kampagne verantwortlichen Agentur Antoni wissen, dass man in einer knappen Minute keine Zeit verlieren darf und kommen ohne Umschweife zur Sache. Die Lehranweisung beginnt mit der Erklärung: „Wenn du älter wirst, zählen im Leben ein paar einfache Regeln: …“
Dazu folgt eingangs gleich der kardinale Imperativ: „WORK HARD!“ – kombiniert mit Lifestyle-Aufnahmen aus dem Rotlicht-Milieu. Die Botschaft ist klar: Wenn du hart arbeitest, kannst du abends auch „Spaß“ haben. Die GoGo-Girl-Puff-Szenen gehen dann allerdings gleich über in die Aufforderungen „Achte auf deine Manieren!“ und „ZEIGE RESPEKT!“ (ein Chef wird eingeblendet) – der Hipster soll ja nicht auf die Idee kommen, „einfach nur“ Spaß zu haben und im rat race nichts zu leisten. Schließlich das unvermeidliche: „Get a job!“ und der beiläufige Ratschlag, sich richtig anzuziehen. Die Regisseure beweisen auch Sinn für Sarkasmus, indem sie beim Sujet „Get a real job“ ausgerechnet den ehemaligen Crack-Dealer und Rapper ASAP Rocky einblenden, wie sich dieser auf einer Mercedes-Motorhaube trollt und dabei müde die Augen darüber verdreht, wann denn diese tödlich langweiligen Dreharbeiten am Set endlich vorbei sind, bei denen er unter Scheinwerferlicht und Regieanweisungen stundenlang immerzu die gleichen nichtssagenden Posen wiederholen muss, nur damit die Filmproduktion Iconoclast unter Nachbearbeitung der Berliner nhb Studios und des digitalen Kampagenhubs der Pixelpark AG daraus dann die coolsten fünf Sekunden herausschneiden und für ihre Zwecke verwerten können (siehe wuv). Der Rap-Rocky wurde von Mercedes gleich für mehrere Videos der „Grow up“-Kampagne unter Vertrag genommen – ist er doch der lebende Beweis dafür, dass man es selbst als Underdog aus der Bronx zum Millionär bringen kann, wenn man nur bereit ist, „ein paar einfache Regeln“ zu befolgen.
Zurück aber zum „Grow up“-Video: Neben einigen gänsehauterzeugenden Lifestyle-Sujets betreffend Familiengründung, Sport und Hedonismus im „beat of your own drum“, die dem jungen, leistungsbereiten Hipster flüssig die Gurgel runtergluckern wie ein aspartamgesüßter Energydrink, dann wiederum der Chef in Großaufnahme mit der finalen, akzentuiert gesprochenen Endbotschaft: „LISTEN TO ADIVCE“ („Hör auf das, was man dir sagt!“). Wer bereit ist, dieser Anweisung des dicken Chefs zu folgen und für sein Profitbordell … – pardon, ich meine natürlich: für seine renommierte Wirtschaftskanzlei im Hamsterrad zu laufen, dem werden in einer auf das „LISTEN TO ADIVCE“ folgenden Bildersequenz auch gleich diejenigen Genüsse gezeigt, an denen der karriereaffine Hipster dann lecken darf – vorausgesetzt natürlich, er arbeitet „hart genug“: hedonistische Strand-Surf-Luxus-Katzen-Headbang-Asphaltcowboy-Szenen, untermalt mit laszivem hyper-emotional Sound, rauschen wie überschäumender Sekt in die Augen und offenen Münder der Zuseher.
Wer während des Videoclips nicht alle paar Sekunden die Pause-Taste drückt, um die rauschende Bilderflut bewusst zu verarbeiten, der bemerkt wohl kaum die Kröten, die er mitsamt diesem sprudelnden Sekt schluckt. Die Chancen, dass ein junger Mensch, der sich diesen Spot reinzieht, die darin verpackten Botschaften auch angemessen verarbeiten kann, divergieren statistisch gesehen vermutlich gegen Null. Da wundert es einen nicht länger, dass heute bei Friedensdemonstrationen trotz eskalierender globaler Situation weitgehende Flaute herrscht und aufgeklärte GWUP-Skeptiker auf ihren Science Blogs über den mickrigen Rest der Friedensbewegung, die sich zuletzt beim Pax Terra Festival neu formieren wollte (siehe Rubikon), nur höhnisch lachen können. Ihrer messerscharfen Analyse zufolge sind es nur „Querfrontler“ und Fortschrittsverweigerer, die sich dort herumtreiben – wer hingegen den Fortschritt auf seiner Seite hat, der surft heute lieber mit vollem Rückenwind der herrschenden „Wissenschaften“ auf der Welle des neoliberalen Sektstrahls und des technokratischen Szientismus Richtung Grand Canyon. Ja, wirklich: Warum sollte man sich denn bei Friedensdemonstrationen von Wasserwerfern der Exekutive nassspritzen lassen, wo man doch stattdessen mit einer gazellenbeinigen Katze in einem Cabrio-Roadster eine Spritztour machen und „einfach abhängen“ kann? Außerdem: Spätestens seit den G20-Randalen in Hamburg weiß man ja, dass nur schwarzvermummte Vandalen gegen Neoliberalismus und Ausbeutung protestieren, anständige Bürger bleiben daheim und gucken Tagesschau, bevor am nächsten Morgen wieder der Wecker läutet und das Murmeltier grüßt.
Der Hipster 4.0 von heute hat indes anderes zu tun, als gegen eine von Jean Ziegler als „kannibalisch“ bezeichnete Weltordnung aufzubegehren: „hard worken“ eben – um sich die Leasingraten für die aufgepeppten Blechkäfer aus der „Grow up“ Werbung leisten zu können. Um in diesen flotten Käfern eine flotte Biene spazierenführen zu können, spart man sich schon mal das Brot vom Mund ab und futtert Budget-Frittes und Junkfood aus dem Lidl-Gefriersortiment. Für ein paarhundert Euro monatlich ist man per Leasingvertrag sogar als Friseur- oder Mechatroniklehrling mit dabei – vorausgesetzt, dass man „hard workt“ (und noch bei den Eltern wohnen darf). Vorige Woche wurde übrigens wieder der „Workaholics Day“ gefeiert – dieser vor vier Jahren neu inaugurierte Feiertag soll uns an jene Konzernrealität erinnern, welche die Filmemacherin Carmen Loosmann mit ihrer Doku „Work Hard,Play Hard“ recht anschaulich ins Bild gebracht hat (Warnung: Lt. Filmkritik der Frankfurter Rundschau erfasst einen beim Ansehen dieser Doku „zugleich Kälte und Angst“) oder die uns der aus der Branche ausgestiegene Ex-Werbeprofi Steve Cutts in einem kurzen Cartoon vor Augen führt:
Da ich mir vorgenommen habe, über toxische Sachverhalte nicht mehr zu schreiben, ohne nicht auch ein probates Gegengift anzubieten, hier also ein kleines Medicum, mit dem die Leber die aus dem Werbevideo aufgenommenen Schadstoffe wieder ausscheiden kann:
Die langjährige Sterbebegleiterin Bronnie Ware hat ein Buch geschrieben mit Titel „Die fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ (siehe Kurzfassung in welt.de). Sie begleitete unzählige Menschen bei ihren letzten Atemzügen und hörte dabei immer dasselbe Bedauern und dieselben Vorwürfe: „Das Bedauern darüber, nicht das Leben gelebt zu haben, das sie sich gewünscht hatten. Reue angesichts der Entscheidungen, die man getroffen oder nicht getroffen hat. Vorwürfe gegenüber sich selbst, weil diese Erkenntnis erst kam, als es bereits zu spät war.“
„Wenn sie sterben, kommt eine Menge Furcht und Ärger aus den Menschen heraus … und dieses ‚Ich wünschte, ich hätte …'“, sagt Bronnie Ware.
Auf Platz 1 der am meisten bereuten Dinge:
„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben“
folgt sogleich Platz 2:
„Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet“
„Alle Männer, die ich gepflegt habe, haben das gesagt“, erzählt Bronnie Ware. „Fast alle haben zu viel gearbeitet und zu wenig gelebt – weil sie Angst hatten, nicht genug Geld zu verdienen, oder ihrer Karriere wegen.“ Sie schildert weiters, dass viele Menschen ihre wahren Gefühle um des scheinbaren Friedens willen unterdrücken. „Das führt dazu, dass sich viele in einer mittelmäßigen Existenz einrichten und nie zu dem werden, was sie hätten sein können.“ Viele Krankheiten, die ihre Patienten über die Jahre entwickelten, rührten daher, glaubt sie. Für sich selbst hat Bronnie Ware entschieden, dass sie nur noch das macht, was sie in ihrem Leben von ihrem Innersten aus tun wolle. „Ich weiß ja, was ich sonst auf meinem Sterbebett bereue“, sagt sie.
Damit spricht die Sterbebegleiterin etwas an, was einem in unserer vermeintlich alternativ- und trostlosen Zeit am meisten abgesprochen wird: Das eigenverantwortliche Gestalten des Lebens auf Basis individuell formulierter Ideale – die, das wage ich aus voller Überzeugung zu sagen, bei ausnahmslos jedem Menschen in Wirklichkeit, d.h. im oftmals zugeschütteten Inneren, diametral entgegengesetzt sind zu dem marktradikalen (’neoliberalen‘) Wahn-Sinn, der uns heute von Kindesbeinen an in Schule, Uni und Medien als Normalität verkauft wird. Von Medien, die uns laut Noam Chomsky „ideologisch zum Gehorsam, zur Passivität, Konformität, Habsucht und Unterwerfung erziehen“, uns „mithilfe bedeutungsloser Slogans und des Fernsehens zu apathischen, autoritätsgläubigen, kaufsüchtigen wie desinteressierten Konsumidioten formieren“ und solcherart die Bevölkerung „sozial atomisieren, fragmentieren und dadurch politisch marginalisieren.“ (siehe „Die Wachhunde der Machtelite“)
Dass man den Gegenwind nicht zu scheuen braucht, der einem entgegenweht, sobald man von dieser Fähigkeit zum Schwimmen gegen den Strom Gebrauch macht, hat uns schon Dorothee Sölle gezeigt mit ihrem Lebensmotto:
„Grenzenlos glücklich,
absolut furchtlos,
immer in Schwierigkeiten.«
oder mit Goethes ermutigenden Worten:
„In dem Augenblick,
in dem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt,
bewegt sich die Vorsehung auch.
Alle möglichen Dinge,
die sonst nie geschehen wären, geschehen
um einem zu helfen.
Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt
durch diese Entscheidung
und sie sorgt zu den eigenen Gunsten
für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle,
Begegnungen und materielle Hilfen,
die sich kein Mensch vorher je erträumt haben könnte.
Was immer du kannst oder Dir vorstellst,
dass Du es kannst,
beginne es.
Kühnheit trägt Genie,
Macht und Magie in sich.
Beginne jetzt!“
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zum Weiterlesen:
„Grow up“- Teil 2: MamaPapaBaby Hipster
„Grow up“- Teil 3: Dem Hipster hängt der Zwickel tief
Endzeit-Poesie 4.0: Die Entscheidung – Das Mingle-Dasein von Generation Tinder