Fotos: cc by Parkwaechter
„Wozu, so fragt man sich, Reichtum, Wohlstand, Macht,
wenn alles dies den Menschen nur verflacht?“
(Christian Morgenstern)
Wohin man das Auge auch wendet, egal welchen Flatscreen man einschaltet, welches Presseblatt man aufschlägt oder welches Werbeplakat man anblickt – Helloween hat augenscheinlich übernommen. Der nackte Wahnsinn – manche mögen ihn auch Wohlstand oder Fortschritt nennen, da er sich dann leichter löffelt – steht uns nicht mehr nur bis zum Hals so wie in den 80er und 90er Jahren, sondern beginnt nach der Milleniumswende nun in Nase, Mund und Ohren einzulaufen.
Während eine von Peter Sloterdijk als „Hohlraumfigur in einer Lethargokratie“ bezeichnete Wellnesskanzlerin (Quelle: Handelsblatt) Schlaftabletten verteilt und uns in einem Lala-Land, in dem es allen gut geht, noch mehr Wohlschand schmackhaft machen will, meint der englische Grafiker Ken Garland, dass „unsere Überflussgesellschaft einen Punkt der Sättigung erreicht hat, an dem der schrille Schrei der Konsumpropaganda nichts weiter ist als bloßer Lärm.“
Die meisten bemerken zwar bereits, dass die von der Wellnesskanzlerin als alternativlos angesehene Überflussproduktion unsere Ökosysteme zum Kollabieren bringt, uns selbst den Atem raubt und in Angstzustände treibt (nach Aussage des Soziologen Hartmut Rosa wachen in unserer hochtechnisierten Welt jede der Nacht mehr Menschen schweißgebadet auf als in totalitären Regimen / Quelle: Zeit). Trotzdem ist guter Rat nun teuer. Denn obwohl Fabian Scheidler „das Ende der Megamaschine“ bereits gekommen sieht, läuft diese kurz vorm Verglühungstod stehende Molochmaschine auf Hochtouren wie noch niemals zuvor und spuckt unermüdlich einen alles erstickenwollenden Werbekommerzrattenangstpornopuddingbrei aus, der bald die letzte Seitengasse füllt.
Wie bringt man diesen immerzu aufs Neue aufgewärmten Brei, von dem uns bereits allen schlecht ist, zum Stoppen? Die Antwort auf diese schicksalsschwere Frage, die man in der politischen, ökonomischen und naturwissenschaftlichen Zunft vergeblich sucht, findet man in bündiger Form bei … – den Gebrüdern Grimm:
(Brüder Grimm)
Es war einmal ein armes, frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und begegnete ihm da eine alte Frau, die wusste seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt‘ es sagen: „Töpfchen, koche“, so kochte es guten, süßen Hirsebrei. Und wenn es sagte: „Töpfchen, steh“, so hörte es wieder auf zu kochen.
Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen süßen Brei, sooft sie wollten.
Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach die Mutter: „Töpfchen, koche“, da kocht es, und sie isst sich satt; nun will sie, dass das Töpfchen wieder aufhören soll, aber sie weiß das Wort nicht. Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll und das zweite Haus und dann die Straße, als wollt’s die ganze Welt satt machen, und ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen.
Endlich, wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: „Töpfchen, steh“, da steht es und hört auf zu kochen. Und wer wieder in die Stadt wollte, der musste sich durchessen.
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Allgemeines zur Kolumne „Endzeitpoesie 4.0 – Brennholz gegen Robotisierung und drohenden Erfrierungstod“:
Da in unserer aus den Fugen geratenden Welt vieles nicht mehr rational verstehbar und auch kaum noch ertragbar ist, brauchen wir dringend ein Gegengewicht aus dem Reich der Poesie … mit diesem geistigen Gegengift in den Adern wird vieles Unverständliche plötzlich wieder verständlich und Unerträgliches wieder ertragbar – oder noch besser: gestaltbar!
Denn die größte Lüge, die uns heute beigebracht wird, ist: dass der Einzelne ohnehin nichts tun kann. – Das genaue Gegenteil davon ist wahr: Es kommt auf jeden einzelnen an und das mehr als jemals zuvor. Und wie uns schon Dostojewskij erklärt hat, ist im Leben auch niemals etwas umsonst, selbst wenn eine Bemühung keinen sichtbaren Erfolg zeigt: „Alles ist wie ein Ozean, alles fließt und berührt sich; rührst du an ein Ende der Welt, so zuckt es am anderen.“
Gerade unsere geistlose Zeit braucht philosophische Gedanken wie eine Wüste das Wasser. Dieses Wasser – die Gedanken der großen Geister der Menschheit – gibt es schon lange. Aber die scheinbar alten – in Wirklichkeit ewig jungen – Gedanken bleiben nicht dieselben: Jeder, der sie aufgreift und verinnerlicht, färbt sie mit seiner individuellen Persönlichkeitsnote ein und bringt dadurch wieder ganz neue Farben in die Welt, die bisher noch nicht existiert haben. Und solche Farben braucht unsere grau gewordene Welt (siehe 1000 Gestalten.de) heute dringend – sie saugt sie auf wie ein trockener Schwamm das Wasser … damit wieder Neues, Kreatives, Menschliches entstehen kann.
In diesem Sinne wollen wir der pseudopragmatischen Alternativlosigkeit (siehe „Der Führer 4.0 – Er ist schon längst da“) die Gefolgschaft in den Grand Canyon verweigern und es lieber mit Ilija Trojanow halten: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“. – Dann kann die scheinbare Endzeit zu einem neuen Anfang werden.
Autor: U. Gellermann
Datum: 06. März 2012
Kann ich hexen? Es ist die sprachgebräuchliche Hexerei, die in unserem Wortschatz angelagert ist, wie viele andere Märchenfiguren auch: Der Dornröschschlaf existiert immer noch, obwohl unsere Kindheit längst hinter uns liegt, wenn wir ein verschnarchtes Projekt kennzeichnen wollen, auch das Aschenputtel steht zur Verfügung, um einen hässlichen Start zu markieren, der sich dann aber in prinzessliche Höhen aufschwingt und die böse Schwiegermutter lebt sogar dann fort, wenn jemand betont, er habe aber eine wirklich gute Schwiegermutter. Und wenn jemand behauptet, ein anderer habe Kreide gefressen, dann wissen wir: Der sollte besser nicht gewählt werden. In Michael Maars Buch „Hexengewisper“ sind sie fast alle versammelt: Die Märchen, die wir kennen. Er fragt nach ihrer Herkunft und Bedeutung, um uns mit einer Reihe von überraschenden, manchmal fantastischen Antworten zu beehren.
Maar ist ein Illusionszerstörer: Hatten wir doch alle gedacht, die Märchen seien dem deutschen Volksgut entsprungen und so etwas wie ein nationaler Schatz, weist der unerbittliche Autor nach, dass die Brüder Grimm ihre Märchen abgeschrieben haben: Bei Charles Perrault letztlich, einem französischen Schriftsteller und Beamten, finden sich bereits 1697 das Rotkäppchen, der gestiefelte Kater, das Aschenputtel und eine Reihe anderer Motive, die von den Grimms erst 1812 herausgegeben wurde. Maar glaubt, die Brüder hätten sie in ihrer französischen Fassung auf den Nachttischen höherer Töchter gefunden. Eine delikate Variante, die leider ohne nähere Erklärung bleibt. Dass Ludwig Thieck den Perrault bereits 15 Jahre zuvor in einer deutschen Fassung bei Nicolai herausbrachte, ist dem Autor entgangen.
Nicht entgehen lässt sich der Autor die mögliche Herkunft der Märchen aus der Vorzeit: Ist der Frosch – der mal geküsst, mal an die Wand geworfen wird – nicht in vielen Mythen der Welt ein Fruchtbarkeits-Symbol? Findet sich nicht das zentrale Motiv des Brutalo-Märchens vom „Machandelbaum“ schon in der Zerstückelung des ägyptischen Gottes Osiris? Ist die abenteuerliche Reise, von einem, der auszog das Fürchten zu lernen oder von dem, der einen Goldklumpen so lange tauscht bis er ihm als Stein vom Herzen fällt, nicht bereits in den Erzählungen der Höhlenmenschen angelegt, wenn sie denn von der anstrengenden Mammutjagd zurück kommen und die Beute durch ihre Erzählungen vergrößern? In vorzüglichem Deutsch reiht Maar eine Vermutung an die andere, bleibt beweisbare Verbindungen gern schuldig und mag uns nicht sagen, wann und wo er denn die Gespräche der Höhlenmenschen mitgeschnitten hat.
Was wissen wir von Michael Maar? Dass er der sprachmächtige Sohn von Paul Maar ist, der sich Mitte der 60er Jahren eine Reihe von Märchen ausgedacht hat. Darunter auch eine Neufassung von Hänsel und Gretel, in der die Rollen umgeschrieben sind: Die Hexe ist gut und die Kinder sind böse. Und wir wissen auch, dass wenige Jahre zuvor Hans Traxler eine Wissenschaftssatire geschrieben hat, in der Hänsel und Gretel der Hexe das Lebkuchenrezept entwenden wollen und sie später ermorden. Es gab damals nicht wenige, die Traxlers Fassung für die wirkliche Wahrheit hielten. Liegt hier die Spur, die Michael Maar aufgenommen hat, wenn er diverse Sexsymbole in die Märchen hineindeutet und eine homoerotische Verwandtschaft von Andersens Meerjungfrau-Motiven mit Thomas Manns Zauberberg-Themen behauptet? Das wäre dann ein wundervolles, fröhliches Fake. Wenn nicht, bleibt immer noch ein Essay, dessen Unterhaltungswert weit über dem halbwegs wahren Märchen vom bösen Wulff liegt, der keine Geisslein gefressen hat aber doch vom Springer-Konzern versenkt wurde.
Buchtitel: Hexengewisper
Autor: Michael Maar
Verlag: Berenberg
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Mit Dank Herrn Gellermann und die Rationalgalerie
Ehe ich es vergesse: Amazon ist Böse, kauft bei den kleinen Buchhändlern.