Lebenstraum
Ich mag Bier nicht nur wegen des Alkohols. Er macht mich so gleichgültig, wie ich gerne nüchtern wäre. Ich mag es auch wegen der Müdigkeit. Selbst die Apothekerrundschau preist die einschlaffördernde Wirkung des Hopfens. Obwohl ich davon ausgehe, dass in dieser Industrieplörre nur noch marginale Mengen primärer und sekundärer Pflanzenstoffe enthalten sind. Egal, es macht mich trotzdem müde. Ralfs Rausschmiss gestern beschäftigt mich. An seiner Stelle würde ich mich nicht mehr sehen lassen. Auf aggressive Arschlöcher könnte ich gerne verzichten. Nichts desto trotz hoffe ich auf sein Erscheinen. Ich möchte mich entschuldigen. Als ich die dritte leere Dose im Handschuhfach verstaue und die vierte heraushole, raschelt es draußen unter dem halb geöffneten Beifahrerfenster. Eine Schwebefliege fliegt herein, mustert kurz auf fünf Zentimetern Abstand mein gerötetes aber entspanntes Gesicht und schwebt dann, eine kleine beneidenswert elegante Kurve fliegend, uninteressiert und leicht angeekelt wieder hinaus. Das Rascheln war wahrscheinlich ein irgendein Tier. Eine Maus vielleicht oder ein Vogel.
Ein Seeotter wäre schön gewesen. Ich liebe Seeotter. Hier gibt es aber zweifellos zu wenig Wasser für Seeotter. Ich öffne die Dose, die zwischen meinen Schenkeln meine Eier kühlte und denke an Seeotter und ihr glänzendes nasses Fell, an meine Müdigkeit und habe etwas Angst. Ich habe Angst, Ralf könnte nicht mehr auftauchen. Um die Angst nicht spüren zu müssen, versuche ich darüber nachzudenken, ob ich vom Bier müde bin oder von den Anstrengungen des Lebens. Weil irgendwelche Arschlöcher, die mir egal sind, meinen, ich müsste mich für etwas anstrengen, was mir egal ist, strenge ich mich an. Die Anstrengung darüber nachzudenken macht mich noch müder.
Ich stelle die Sitzlehne ein wenig nach hinten, lehne meine beginnende Hinterkopfglatze gegen die Kopfstütze und schließe die Augen. Das Zirpen einer nahen Grille übertönt das ferne Brummen eines fleißigen Traktors auf einem Feld. Es riecht nach geschnittenem Gras und Bier und Meer, weil ein nass glänzender Seeotter im warmen Blau meines Gehirns elegante Figuren schwimmt. Ich schwimme nackt mit ihm und kann ohne Mühe folgen. Nach einer kitschigen Kür aus engen und weiten Loopings und Pirouetten geht mir die Luft aus und ich muss auftauchen.
Chlorwasser brennt in meiner Nase. Ich lege meine weißen, schlaffen, Schreibtischarbeiter-Arme auf die heißen Fliesen am Rand des Schwimmerbeckens und spüre eine gar nicht mal unangenehme Kälte an meinem zur Nichtigkeit zusammengeschrumpelten Hodensack.
Meine billige C&A-Badehose mit Ostblockanmutung schwimmt zwei Meter von mir entfernt. Ohne zu zögern bemühe ich mich zu ihr zu kommen und hoffe, niemand taucht mit Brille in meiner Nähe. Doch plötzlich scheint das Wasser wie Gelee zu sein und ich komme, trotz panischer Anstrengung, keinen Millimeter voran. Schon nach ein paar Sekunden bin ich außer Atem und schlucke Wasser. Es gerät in meine Luftröhre und zwingt mich zu husten. Todesangst breitet isch in meinem Gedärm aus und bildet schnell Metastasen in meinem Gehirn. Urlötzlich taucht, wie ein Buckelwal beim Sprung, ein riesiger Ralf auf, greift durch die mächtige Gischt meine Badehose und präsentiert sie lachend dem umstehenden Publikum. Alte Weiber mit Krampfaderbeinen und Badehauben, die wie Blumenbeete aussehen, feiste, käsige Kinder mit eisverschmierten Gesichtern, dichtbehaarte, schmerbäuchige Sonnenbrillenträger mit engen Badehosen, die ihre ebenso haarigen Hoden anatomisch ziemlich genau abzeichnen, lachen mich aus. Ich weiß, dass sie meinen bevorstehenden Tod nicht bedauern werden. Ich fühle mich so einsam wie nie zuvor und die trübblaue von gelben Schleiern durchsetzte Brühe schwappt über mir zusammen. Riesenralfs Beine strampeln unscharf, fast greifbar. Sein dunkles Gelächter tönt dumpf und unglaublich laut durch das Wasser an meine Ohren und übertönt weit in der Entfernung liegendes Kindergekreische und leise Musikfetzen. Weil ich den letzten Rest meines wachen Bewusstseins dafür brauche mich gegen den Atemreflex zu wehren, höre ich auf mich zu bewegen und sinke langsam in eine unendlich schwarze Tiefe. Ralfs Lachen wird immer leiser. Ehe es ganz schwarz um mich herum wird, sehe ich weit entfernt den verschwommenen Schatten eines Seeotters elegant seine Bahnen ziehen.
Das laute Zuschlagen einer Autotür weckt mich, ich kreische kurz wie eine schreckhafte Magd.
„Oh, verzeih‘, Penner. Dein Schnarchen hallt kilometerweit und vertreibt alles Lebendige aus diesem schönen Biotop.“
Ich bin noch nicht ganz wach:„Auch die Seeotter?“
„Was?!“
„Ähh, nichts.“
Meine Zunge klebt noch am Gaumen, die Lippen am Zahnfleisch. Es schmeckt nach vergorenem Rasenschnitt mit Marderkötteln. Ich denke an die Fishermen’s, aber momentan bin ich ja noch beim Bier.
„Hast du mir ins Maul gekackt, während ich schlief? Bekloppter Badehosenfetischist.“
„Du redest wirres Zeug, Penner. Ich tippe auf Morbus Korsakow.“
„Lass gut sein, gib mir einen kurzen Moment.“
Die Dose liegt der Länge nach auf dem Beifahrersitz, der das Bier gierig aufsaugte. Feiner Sitz. Der Geruch wird mich auf ewig begleiten. Ich greife ins Handschuhfach und prüfe die Temperatur von Dose Nummer fünf. Gerade noch trinkbar. Ach Quatsch, wieso mache ich mir was vor. Ich hätte es auch zehn Grad wärmer gesoffen. Als ich behutsam an der Lasche ziehe, sauge ich zeitgleich mit einer langen Schnute und weit aufgerissenen Augen den Schaum von der runden Blechoberfläche. Kurz muss ich an die urbane Legende mit der Rattenpisse denken. Aber nur kurz, momentan glaube ich nicht an sie. Bei Tomatenfischdosen dagegen fast immer.
Ich bin froh, dass Ralf hinter mir sitzt.
„Sorry wegen gestern, Mann. Ich bin gerade etwas gestresst.“ Ich schwindle ein wenig. In Wirklichkeit kotzt mich einfach nur fast alles an. Nur Ralf nicht.
„Schon gut.“
Ich nehme einen Schluck. Dann noch einen.
„Ich habe irres Zeug geträumt.“ Ein weiterer Schluck.
„Dass jemand wie du normales Zeug träumt, wäre mir gar nicht erst in den Sinn gekommen. Lass‘ hören, Penner!“
Während ich die Freibadgeschichte zum Besten gebe, entscheide ich mich spontan einige Details zu ändern. Den Seeotter lasse ich weg und Ralf ersetze ich durch irgendeinen Typen, den ich sehr detailliert beschreibe, um mein Flunkern glaubwürdig zu machen. Ich frage ihn, was der Traum bedeuten könnte.
„Ist doch klar. Du hast Angst die Hosen runterzulassen.“
Ich kann mir denken, wie er es meint. Dennoch spiele ich den Clown: „Na ja, ich bin ja nun wirklich kein ausgewiesener Gliedvorzeiger. Aber übertrieben schamhaft eigentlich auch nicht. Willste mal sehen?“ Ich zeige mit einer pistolenartigen Rapperhandbewegung der Rechten auf meinen Schritt. Mit der halbvollen Bier Dose in der anderen Hand komme ich mir wie ein dummer Teenageridiot vor.
Ich mag das Wort Gliedvorzeiger. Es klingt nach Sittengesetzen aus der wilhelminischen Zeit. Wenn ich um die vorletzten Jahrhundertwende herum aus einem kaiserlichen Richtermund „…wegen wiederholten Gliedvorzeigens…!“ vernäme, hätte ich lachen müssen. Auch als gleich darauf verurteilter Gliedvorzeiger.
„Du hast Angst, dich so zu zeigen wie du bist. Für mich ist das ziemlich eindeutig.“
„Das ist ganz sicher so und das weiß ich auch ohne deine Deutung. Schön blöd wär‘ ich, würde ich mich so geben wie ich bin: Ein gescheitertes Nichts, herum geworfen von ökonomischen und sozialen Zwängen, die eigentlich Zwangsneurosen einer Gesellschaft sind, die sich vormacht, in irgendeiner Weise etwas mit humanistischen Prinzipien zu tun zu haben.Wir haben doch alles, was diese Bezeichnung verdient aus den Augen verloren; vielleicht hat es das gar nie gegeben und war nur eine nette Fingerübung für Philosophen. Total bescheuert wär‘ ich, würde ich mich inmitten von Nichtsen, die sich mit Verkaufsargumenten des eigenen Egos panzern, ungeschützt bewegen. Nein, mein Lieber, das Spiel spiele ich mit, auch wenn es mir nicht gefällt. Man hat sich für den besten seines Fachs zu halten? Alles klar, Chef, kein Problem! Stopf‘ ich mir ein paar Socken in die Hose und verkünde mit dem gespielten Brustton der Überzeugung, dass alle anderen windige Ärsche sind und kleine Pimmel haben. So rechtfertige ich mein Gehalt und der Boss hat ein gutes Gewissen, weil er das Gefühl hat, er gibt es dem Richtigen. Umgeben von Idioten, die glauben, sie hätten sich irgendetwas verdient, nur weil sie bei der Spermalotterie das große Los gezogen haben, tue ich eben auch so, als gäbe es die Masse der Hungerleider und Ausgebeuteten nicht, deren Elend unseren „Wohlstand“ mit ermöglicht. Lasse ich die Hosen herunter, schnappt mich das System aus neoliberalen Vorurteilen und Managermagazinweisheiten, zerkaut mich zwischen Leistungsvorstellungen, Arbeits- und Sozialgesetzen und spuckt oder scheißt mich als gescheitertes Nichts wieder aus. Das war ich vorher, das werde ich bleiben, was nur niemand sieht, weil ich den Mimikri der deutschen Unternehmenskultur auch beherrsche. Ich unterscheide mich vielleicht insoweit, dass mein Ehrgeiz, ein schnuckeliges Eigenheim oder eine tolle Blechbüchse aus Ingolstadt, München oder Stuttgart zu besitzen, gegen null geht. Damit rutscht der Bund meiner Hose schon soweit herunter, dass man hinter meinem Rücken über das Bauarbeiterdekolleté lacht, wenn ich mich bücke.“
Ralf spricht erst, als ich nach einer kurzen Weile am Bier nippe:
„Willst du ewig so weitermachen?“
„Bis zur Rente oder Leberzirrhose.“ Ich hebe feierlich die Dose. Wir wissen beide, dass ich so nicht weitermachen werde und lachen leise. Wir wissen nur nicht, wann dieser Zeitpunkt gekommen sein wird. Heute noch nicht.
„Schätze, du musst los, Penner.“
Beim Verstauen der Dose sehe ich den den dunklen Bierfleck auf dem Beifahrersitz. Er hat die Form eines schwimmenden Seeotters. Es könnte aber auch eine durch im Meer verkippten Atommüll mutierte Meerjungfrau sein. Ralf hat die Tür schon geöffnet und steht wohl schon draußen, als er mich nochmal anspricht:
„Ich glaube, du hast vorhin ein wenig geflunkert. Weißt du, was ich denke? Ich denke, du selbst warst derjenige, der deine Badehose genommen hat. Du selbst bist dein Problem und deine Lösung.“
Ganz kurz habe ich die Absicht, seine Aussage richtig zu stellen, lasse es aber.
„Du könntest recht haben. Reden wir morgen weiter.“
Ralf schließt die Tür, ich starte den Motor.
Ich glaube, es macht keinen Unterschied.
Lebenslügen
Auf der Autobahn regnete es noch, als würde eine höhere Macht alles an die Gegenwart erinnernde hinweg schwemmen wollen. Jetzt, da ich hier stehe und hoffe, dass Ralf auch heute wieder erscheint, verziehen sich langsam die grau-orangen Wolken. Über dem Horizont, der aus kleinen filigranen Scherenschnitten von Bäumen und Büschen zusammengesetzt ist, wagt sich ein Stück blauer Himmel hervor. Es wird ein schöner Tag werden. Ich sehe Fresken von Tiepolo vor mir und rieche den leicht ranzigen Duft von Ölfarben, obwohl es wohl eher nach feuchtem Putz riechen müsste. Die Apokalypse riecht eher nach Ölfarben als nach frischem Putz. Sie ist bestimmt schön. So schön, wie dieser sich öffnende Tag, der noch hinter den barocken Wolken liegt. Fast die ganze Fahrt hierher versuchte ich mir vorzustellen, was ich wohl angesichts des sich nahenden sicheren Weltenendes denken würde. Hier kapituliert sogar meine fast ständig in irren Bahnen mäandernde Phantasie. Ich weiß nur ganz sicher, was ich NICHT denken würde: Nämlich zu wenig für andere und für Geld gearbeitet zu haben. Vielleicht hätte ich bedauert zu wenig auf dem Gebiet Zeichnerei ausprobiert zu haben; zu wenig mutig gewesen zu sein. Der Gedanke an ein Ende macht mich traurig. Ich merke, dass Dose Nummer zwo auch am Ende ist und hole die nächste aus dem Handschuhfach.
Mit Verwandlungen dagegen könnte ich gut leben. Und wenn sie auch nur daraus bestehen, dass Dinge altern und sich langsam auflösen. Wieder denke ich an ein Bild von Tiepolo. Ich sah es in der Gallerie dell’Accademia in Venedig. Die „Die Geißel der Schlangen“ ist ein Fries, Öl auf Leinwand, das, so nehme ich es an, eine zeitlang nicht optimal gelagert war. Die Leinwand ist zerknittert und teilweise wirken die Farben verblasst und abgeschabt. Wenn man nah herantritt, sieht man die Pinselstriche des Malers. Sie sind rasch und schwungvoll ausgeführt. Es lebte durch den Maler, es lebt durch seine Vergänglichkeit und vielleicht wird es, wenn es nicht mehr existiert, leben, weil sich jemand daran erinnert. Wie gern würde ich jetzt über die Alpen nach Venedig, der alten Touristenlüge, fahren, nur um dieses eine Gemälde nochmal zu sehen. Der Weg ins Büro hat aber keine Abzweigung. Ich hebe die Dose und trinke auf den Tod der Neigung durch die Pflicht: „Er war ein guter Lügner und die Geschäftsführung dankt ihm dafür von ganzem Herzen, hätten wir doch sonst auf seine überaus nützliche Arbeit verzichten müssen. Amen.“
Während des langen Zuges aus der Dose hallen die Worte „überaus nützliche Arbeit“ in meinem Kopf wieder. Ein mieses Gefühl kommt in mir hoch und beginnt an den Schleimhautfalten meines Magens zu nagen. Überaus nützliche Arbeit. Nützlich. Eine der Schlangen Tiepolos hat sich wohl in meiner Körpermitte materialisiert und beginnt mich zu geißeln. Dose vier kommt wie gerufen.
Diesmal bin ich anwesend, als er ins Auto steigt und ich wundere mich zum ersten mal darüber, wie er es schafft trotz seiner Winzigkeit die Tür zu öffnen und sie, nachdem er mit einem leisen Rascheln eingestiegen ist, zu schließen, ohne ein überflüssiges Geräusch zu verursachen. Unsere Begegnung gestern war also vielleicht doch keine Wahnvorstellung eines Trinkers. Wenn doch, ereilt sie mich gerade nochmal. Dennoch macht es mir keine Angst. Angst kann ich hervorragend wegtrinken. Ich nehme den geschätzt vorletzten Zug dieses schon durch die Wärme meiner Hände unangenehm lau werdenden Bieres und stelle eine Frage in Richtung Windschutzscheibe: „Kennst du dich mit Schlangen aus?“ Er brummt dunkler und leiser werdend, bevor er antwortet:
„Das ist eine sehr ungewöhnliche Frage.“
„Oh entschuldige bitte. Wie kann ich nur in einer alltäglichen Situation wie dieser eine so ungewöhnliche Frage stellen! Ich formuliere sie anders, Señor Spitzfindig: Warum leckst du mich nicht am Arsch und verpisst dich?“
„Gemach, gemach, tut mir leid, ich hätte nur mit anderen Fragen gerechnet. Mit der, warum ich hier bin zum Beispiel.“
Ich hasse Klugscheißer. Besonders, wenn ich mich durch sie zurechtgewiesen fühle. Ich versuche so ätzend zu sein, wie ich kann:
„Wenn ich wissen will, warum du kleiner Wichser ohne meine Erlaubnis in mein Auto steigst und mich beim Saufen störst, dann frage ich dich!“
Es interessiert mich eigentlich brennend. Aber mein Stolz wird es wohl eine ganze Weile nicht zulassen, ihm diese Frage direkt zu stellen.
„Ok, ok, verzeih bitte.“ Ich unterstütze die beruhigende Wirkung seiner Entschuldigung mit einem letzten Zug aus der Dose. „Schlangen also.“ Dann hole ich mir das vorletzte Bier aus dem Handschuhfach und öffne es, während Ralf erzählt:
„Ich kannte eine Kreuzotter ganz gut, aber wir haben uns aus den Augen verloren. Ist schon eine Weile her. Früher traf man sie regelmäßig. Aber heute sind sie selten geworden. Ich habe schon Jahre keine mehr gesehen, geschweige denn gesprochen.“
„Du kannst mit ihnen sprechen?“
„Ich kann mit allem sprechen, was eine Seele hat.“
„Demnach müsste ich also auch eine Seele haben.“
„Ich dachte wir sprechen über Schlangen?“
„Du weichst aus.“
„Nein, mir war nur nicht klar, ob das eine Frage oder eine Feststellung war. Selbstverständlich hast du eine Seele. Obwohl es eigentlich so nicht ganz richtig formuliert ist. Es ist eher so, dass du auch Seele bist. Ich kann mich also mit allem unterhalten, was auch Seele ist. Wenn man sagt, man HÄTTE eine Seele, dann würde das ausdrücken, man wäre in irgendeiner Weise getrennt von ihr und könnte sie vielleicht sogar loswerden. Das ist aber nicht möglich. Man kann sie auch nicht besitzen. Sie ist da. Das ist alles.“ In meiner Vorstellung sitzt auf der hinteren Sitzbank gerade ein kleiner, alter Asiate im Schneidersitz mit langem, fusselig dünnem Bart und hat die Hände in die Ärmel seines seidenen Kimonos gesteckt. Er mag seinen grünen Tee stark und bitter, hat die 36 Kammern des Shaolin durchschritten und die Schlitze seiner Augen gehen in Fächern aus tiefen Lachfalten über.
„Hat sie einen Zweck?“
Er raschelt leise, setzt sich wohl zurecht.
„Hast du einen Zweck?“
Ich überlege kurz während ich trinke.
„Eines jeden Zweckes ist…“, die Biere wirken, ich werde unangemessen laut, und recke den Zeigefinger meiner freien Hand in die Luft, „…seine Lebenszeit zu einem höchst möglichen Preis mit allen Mitteln, die einem zur Verfügung stehen und deren Anwendung man moralisch vertreten kann zu kapitalisieren; ein angepasstes Mitglied des Heeres des zinskapitalistischen Arbeitspersonals zu sein und in deren Hierarchie eine so hohe Position zu ergattern, wie es die guten oder schlechten Charaktereigenschaften zulassen. Das nennt man dann Karriere!“
Bei „Karriere“ mache ich Gänsefüßchen in die Luft. Das Bier in der Dose schwappt bedenklich und lasst sich kurz an der Öffnung blicken. Sie ist aber glücklicherweise schon fast leer. Ich gebe mir den Rest davon und fahre fort:
„Ich versuche meine Mitgliedschaft in diesem Scheißverein so zu gestalten, dass ich am besten mit den Umständen klar komme. Angeschickert lügt es sich einfach leichter. Was glaubst du wie viele sich hemmungslos überschätzende Vollidioten mir den ganzen Tag begegnen, die ich nüchtern wahrscheinlich schwer beleidigen, wenn nicht sogar verletzen würde. Je höher die Position, desto voller der Idiot!“
„Dann müsstest du eigentlich der Oberboss des ganzen Vereins sein.“
„Korrektamundo, Muchacho! Ich trinke mich für die Arbeitswelt tauglich.“ Ich lalle.
Als ich mich zum Handschuhfach hinüber beuge, um eine weitere Dose herauszuholen, halte ich den Bruchteil einer Sekunde inne, bevor ich die nächste Dose heraushole. Mein Pegel ist sehr arbeitstauglich mittlerweile. Ralf hat mein Zögern bemerkt:
„Was hielt dich gerade eben zurück?“
„Eine Schlange.“
Ich betrachte die ungeöffnete Dose und und wische mit dem Daumen das Kondenswasser von der kühlen Blechoberfläche.
„Jetzt verstehe ich. So etwas wie Gewissensbisse.“
„Ja, kommt hin. Weil ich spüre, dass ich das Falsche tue. Doch damit meine ich nicht das Saufen. Und ich habe auch nicht die Befürchtung mein Beitrag zum Profit der Unternehmensinhaber könnte zu klein sein. Das ist mir scheißegal.“ Diesmal mache ich Gänsefüßchen bei „Beitrag“, „Bruttosozialprodukt“, „Firma“ und „profitabel“. Mir ist mittlerweile etwas schwindlig.
„Genauso viel oder mehr wie meine Vorgesetzten leiste ich sogar noch besoffen. Locker. Weil ich keine Energie in substanzloser Wichtigtuerei verschwende.
Ich vergeude meine Lebenszeit mit Tätigkeiten in einer Organisationsstruktur, die sich irgendwelche Bosse aus dem Fundus betriebswirtschaftlicher Theorien und Traditionen herausgegriffen haben, weil sie glauben, sie machten damit den größten Reibach. Und selbst dieser Fundus ist nur die Kloake irgendwelcher Märkte, die in Wirklichkeit keine sind und nur so heißen, weil wir es alle einfach mal glauben möchten, sie wären welche.
Ich vergeude die Hälfte meiner wachen Lebenszeit in meinen besten Jahren mit Scheiß, der mich nicht interessiert und mir nur deshalb nicht völlig egal ist, weil ich mir damit Hausen und Fressen sichere!
Was ich aber mit Leidenschaft und Befriedigung tue, das,von dem ich wirklich zulasse, dass es mich definiert und meinem Leben ein Sinn gibt, muss ich in der Zeit tun, die mir der kräftezehrende Kampf um Tauschmittel übriglässt und würde nie ein halbwegs sicheres Überleben ermöglichen. Ich weiß, dass es falsch ist mich zu fügen und muss es trotzdem tun.“
„Und du bist dir wirklich sicher, dass deine Begabung nicht wirklich das Saufen ist?“
Ich spüre wie er, als er höhnisch „Begabung“ ausspricht, mit den kleinen Zeige- und Mittelfingern seiner kleinen Händchen kleine Gänsefüßchen macht. Ich bin müde und zornig:
„Verpiss‘ dich, ich muss.“
Wir verabschieden uns nicht. Auf dem Weg ins Büro höre ich kein Inforadio. Ich lege eine meiner vielen nicht beschrifteten Mix-CDs ein. Drei Hombres singen von Biertrinkern und Teufelskerlen.
Lebenssuche
Unser Treffpunkt liegt am Rande eines kleinen Industriegebietes etwa fünf Kilometer außerhalb der Stadt. Die grauen Gebäude sind seelenlos und nichtssagend wie in jeder dieser typischen Industrieansammlungen. Obwohl es zwischen zwei Schenkeln eines Autobahnkreuzes liegt, könnte man es als idyllisch bezeichnen. Es ist nicht besonders weitläufig und von Feldern, Wiesen und Brachland umgeben. Ein Hort institutionalisierter Lebenszeitverschwendung inmitten einer Kulturlandschaft.
Es war Zufall, dass ich den kleinen von Haselnuss- und Hartriegelsträuchern fast zum Hohlweg gemachten, grasbewachsenen, selten benutzten Feldweg ins Nichts fand, der von einem geteerten Wirtschaftsweg abzweigte und direkt neben einem Maschendrahtzaun, der irgendein Zentrallager umgab, etwa dreißig Meter auf eine Schneedornhecke zulief.
Zuvor parkte ich auf einem Mitfahrerparkplatz einige Kilometer entfernt, aber nach einer Weile ging mir das ständige Kommen und Gehen von „Beschäftigten“ auf die Nerven. Hätten sie mit mir gesoffen, wären wir eine Bruder- und Schwesternschaft gewesen, ein Orden der feigen Möchtegernanarchisten. Das hätte ich akzeptieren können. Dann wäre ich vielleicht geblieben.
Aber sie wollten lieber nüchtern Geschirrkörbe für Spülmaschinen entwickeln, sachzubearbeitende Vorgänge auf Wiedervorlage legen oder neue Kunden für den allerneuesten Scheiß aus irgendeiner Wedesign- oder Softwareklitsche kaltaquirieren. Wenn es sie glücklich gemacht hätte, wäre ich ausgestiegen und hätte ihnen zugeprostet: „Ich freue mich, dass ihr eure Erfüllung gefunden habt! Genießt den Tag!“ Ich hätte einen sehr langen Zug genommen und sie mit einem herzhaften Rülpser auf die Straße zum Glück entlassen. Ich wäre wieder ins Auto gestiegen und tränke weiter, nachdem ich mich vergewissert hätte, dass das Inforadio immer noch nicht die Ankunft der Apokalypse meldete, um den Neid auf ein sinnvoll gestaltetes Leben etwas zu dämpfen.
An einem Morgen, der zu einem warmen Sommertag zu werden versprach, holte ich mir ausnahmsweise ein zweites Gedeck. Ich brauchte es, weil ich noch keinen Standplatz abseits der typischen, erzwungenen Geschäftigkeit gefunden hatte. Ich bin sehr pflichtbewusst. Was angegangen werden muss, wird angegangen und erledigt.
Ich testete verschiedene Stellen, doch wie bei Wohnungsbesichtigungen gab es immer etwas, das mich störte. Mal war es ein Gesinnungsbruder, der diesen Platz offensichtlich für sein eigenes individuelles Morgenprogramm beanspruchte, mal war es das unangenehme Gefühl so gut versteckt zu sein, dass es auffiel. Am Rand einer Fichtenschonung mit Blick auf die Straße fühlte ich mich aus dem Dunkel des Waldes beobachtet, ein Wirtschaftsweg, der mit seiner wilden Hagebuttenhecke einen geeigneten Platz bot, wurde regelmäßig von Fahrradfahrern und Bauern mit ihren Traktoren benutzt.
Kurz davor, die Suche zu beenden und endlich bereit, ins Büro zu fahren, verstaute ich gerade Dose Nummer fünf im Handschuhfach, als mich sprunghaft erhöhter Blasendruck zwang, meine Aufmerksamkeit für eine geeignete Gelegenheit zum Anhalten auf panischen Maximalpegel zu steigern. Der allgütige Gott richtete es ein, dass ich mich gerade an der Stelle befand, an der ein Feldweg abging. Haha, nein, sorry, ein Witz, es war der beschissene Zufall, mehr nicht. Ich musste schlicht dringend pissen und aus diesem Grund traf ich ihn. Der gebotenen Eile wegen fuhr ich beim ersten Mal vorwärts hinein, stieg aus und erledigte, was zu erledigen war.
Erleichtert wieder im Auto sitzend, entschied ich mich, den Ort noch eine Dosenlänge zu testen und griff zum Handschuhfach.
„Dreh dich nicht um, Penner. Das ist besser für uns beide!“
Ich erstarre in der Bewegung, zum Glück war ich gerade pinkeln. Sofort denke ich an einen Überfall. War ich wirklich dermaßen angeschickert, dass ich nicht merkte, wie jemand hinten ins Auto stieg? Von wegen Gewöhnung.
„Willste n’Bier? Oder die Scheißkarre hier? Oder soll ich dich irgendwohin fahren? Zu einer Bank, vielleicht? Ich muss dich aber warnen, in diesem Zustand bin ich ein lausiger Fluchtwagenfahrer. Schnell zwar, aber auch zu risikobereit! Fahr besser selbst!“
Den Finger der rechten Hand zum Zeichen der Entspannung gehoben, öffne ich mit der linken das Handschuhfach und greife langsam nach der Dose. Wieder in aufrechter Position sitzend, blicke ich in den Innenspiegel, sehe aber niemanden. Ich öffne die Dose mit der Präzision eines eidgenössischen Feinmechanikers gerade soweit, dass die Kohlensäure ohne Flüssigkeits- oder Schaumanteil aus dem kleinen Loch erst mit einem kurzen Zischen und dann einem langgezogenen Blasgeräusch entweicht. Ich liebe diese Geräusche. Der Reptilienteil meines Gehirns wird sie solange ich lebe mit etwas Positivem verbinden. Mit in Kürze erfolgender Befriedigung.
„Darf ich einfach nur hier sitzen?“
Instinktiv will ich mich umsehen, um auf die gleichzeitig so unerwartete wie unangebrachtes Vertrauen schaffende Frage angemessen, mit einem Blick in die Augen meines Gegenübers oder besser Hintermanns, reagieren zu können. Entweder sieht er es voraus oder er kennt die Situation schon: „Bappbappbapp! Schau nach vorne!“
„Ist ja gut.“ Ich drehe mich zum Bier zurück.
„Ähh… ja. Klar kannst du hier sitzen.“
Die Selbstverständlichkeit in meiner Antwort überrascht mich selbst und verwirrt mich vollends. Mein Kopf ist mit einem mal so leer, dass es sich gleichzeitig anfühlt, als würde mein Gehirn alles auf einmal denken. Aber nur kurz, nach ein paar Schlucken dominiert in meinem Kopf wieder die gewohnte und gewünschte Deckungskraft der Schicht um Schicht, Schluck um Schluck opaker werdenden Bernsteinfarbe. Geliebter Firniss der Gleichgültigkeit.
Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir schweigend dasitzen. Nach vielleicht eineinhalb Dosenlängen in gemütlicher Trinkgeschwindigkeit streift mein Blick die Digitaluhr hinter dem speckigen Lenkrad. Der Arbeitsvertrag verlangt, eingehalten zu werden. Zumindest pro forma. Da ich ihn vor etwa einem Jahr nicht durchlas, weiß ich nicht, ob in einer Klausel explizit vermerkt ist, dass man nicht alkoholisiert am Arbeitsplatz erscheinen darf. Selbst wenn, würde ich darauf scheißen und mich wie ein Held fühlen. Kurz lasse ich die Vorstellung zu, wie ich, voll wie eine Haubitze, ins Büro wanke, mit dem Arbeitsvertrag wedle und ob der Gesetzeslücke, die ich entdeckt habe vor dem Arbeitsgericht gewinne und der Gegenseite meinen nackten Arsch zeige und die Beugehaft, die mir wegen meiner mit übelsten Schimpfwörtern begleiteten Verweigerung ein Ordnungsgeld zu zahlen, aufgebrummt wird, mit Zeichnen auf in die Zelle geschmuggeltem Papier locker absitze und danach ein gefeierter Künstler bin, der die Gegenseite daraufhin ungestraft über öffentliche Medien beleidigen und ruinieren kann. Tagträume dieser Art habe ich ständig während der Arbeitszeit. Ich brauche sie für meine Psychohygiene. Langsam komme ich wohl in den Büromodus.
„Willste irgendwas verkaufen? Das einzige, was du loswerden könntest, wären ein paar Döschen Bier! “
„Etwas verkaufen? Wie kommst du denn darauf?“
„Weil jeder etwas zu verkaufen hat!“ Ich werde laut. Es tut gut. „Jeder will mir irgendetwas andrehen. Jeder verschissene Vollwichser will mir seinen Scheißdreck unterjubeln! Ständig soll ich bestätigen, dass ich anderen ihre vermeintliche Intelligenz, ihre Virilität und ihre Exzeptionalität anerkenne und akzeptiere, in dem ich mich so verhalte, dass ich diese ganzen verlogenen, heruntergekommen Drecksfassaden ja nicht beschädige! Dabei sind es sozial und geistig behinderte Vollidioten, die haarscharf an der Klassifizierung als stoffwechselnde Eiweißhaufen vorbeischrammen!“ Ich schreie. Es tut immer noch gut.
„Wer?“
„Alle, verdammt nochmal!“
„Also, ich bin der ich bin.“ Scheiße, ein Spinner, der sich für Gott hält.
„Jahwe?“
„Ralf. Ich heiße Ralf. Ich habe mich wohl ungeschickt ausgedrückt….“. Gott in Gestalt eines brennenden Dornbuschs kommt mir in den Sinn; wie er sich bei Moses dafür entschuldigt, er habe sich wohl ungeschickt ausgedrückt. Ich nehme mir vor, diese Idee zeichnerisch zu bearbeiten, weiß aber im selben Augenblick, dass ich es schnell vergessen haben werde.
„…ich meinte: Es ist nicht nötig auf Gefühle meinerseits Rücksicht zu nehmen. Ich tat das bei anderen nie und habe auch nicht vor, es jemals zu tun. Ich habe keinen Grund vorzugeben anders zu sein, als ich bin. Außerdem kann mich ein angetrunkener Penner nicht beleidigen.“
Mir fallen eine Reihe bösartiger Beleidigungen ein, aber ich behalte sie für mich. Jetzt wünsche ich mir nichts so sehr, als hier bleiben zu können. Meine Körpermitte schmerzt. Es ist meine Kinderseele, die hier bleiben möchte, im Paradies. Im Licht. Doch der Teil von mir, der ein zwar pflichtbewusster, aber auch angsterfüllter Rettungsanitäter von staatsbürgerlichen Gnaden ist, holt mich mit einem saftigen Stoß seines Defibrillators in die Welt der Pflichten zurück. Wäre ich besoffen genug, wäre er ausgenockt. Der Retter verträgt nicht viel und ist angesichts der vielen Einsätze meinetwegen ziemlich müde. Aber stark ist er, dieser Scheißkerl.
„Ich muss.“
Die rechte Fondtür öffnet und schließt sich sanft, begleitet von einem leisen Rascheln. Ich bin wieder alleine. Morgen komme ich wieder.
Lebenkunst
„Ein Bierchen?“
„Nein, Danke.“
Es ist immer das gleiche Spiel und wir wiederholen es an jedem Werktag, um uns zu versichern wie vertraut wir uns sind, weil wir bereits wissen wie es ausgeht. Es ist Freitag und ich habe eine Überraschung für ihn, an der ich die letzten Feierabende gearbeitet hatte: „Schau mal!“ Ohne mich umzusehen reiche ich ein Blatt billigen, zu dünnen Aquarellkarton nach hinten. „Ich habe dich gezeichnet. Bin ich der Realität wenigstens ein bisschen nahegekommen?“ Ich bemerke die Ironie in meiner Frage und fühle mich plötzlich, als wäre ich ein daueralkoholilisierter Penner, der zufällig vorbeikommenden Passanten krakelige Bilder von rosa Elefanten anzudrehen versucht. Ich vernehme ein Grunzen und bin mir nicht sicher, ob Abscheu oder Überraschung mitschwingt.
„Mann, du daueralkohilisierter Penner! Was soll der lange Pimmel?! Bist du in der Pubertät stecken geblieben, oder was?“
„Ahaaahh! Dieser Anflug von Verärgerung sagt mir, dass du dich zumindest ein bisschen wiedererkennst?“
„Außerdem bin ich nicht nackt!“
„Ach ja? Was trägst du denn? Hosen aus zusammengenähten Blättern oder einen Lendenschurz aus Mäusefell?“
„Polyethylen.“ Jede Silbe betont er in einer Weise, als müsste er es einem Idioten buchstabieren. Es klingt, als würde Lagerfeld einer jungen, dummen Vogue-Voluntärin den Clou seiner neuen Frühjahrskollektion ins Diktiergerät herablassen. Ich verschlucke mich und huste ein wenig Bier in die schon ziemlich leere Dose zurück.
„Plastik? Du trägst Plastik?“ frage ich amüsiert und etwas zu laut, so dass man, wenn man so drauf wäre, einen Vorwurf heraushören könnte. Ralf ist nicht so drauf.
„Klar, das ist unheimlich praktisch. Es ist wasserdicht, schmutzabweisend und hervorragend abwaschbar. Im Sommer wird es allerdings manchmal ungemütlich, weil das Material nicht besonders atmungsaktiv ist.“
„Da riechste bestimmt wie ein Iltis.“
„Wenigstens stinke ich nicht wie eine Bahnhofskneipe.“
„Touché.“ Ich leere die Dose und öffne die nächste.
„Außerdem gibt es das Zeug hier in der Natur in Hülle und Fülle in den verschiedensten Mustern. Ich muss nicht jeden Tag die selben langweiligen Klamotten anziehen. Es ist auch ein Statement. Wobei dein Kleidungsstil, wenn man von „Stil“ überhaupt sprechen kann, sagt ‚Seht weg, ich habe keine Persönlichkeit, ich bin nur hier, weil ich muss, aber ich bin auch gleich wieder weg. Entschuldigen sie bitte meine kurze, aber unabdingbare Anwesenheit!“ Ralf ist ein intuitiver und scharfer Beobachter.
Tatsächlich beschäftigt mich momentan die Frage des Sinns meiner Existenz. Was für Flachhirne klingen mag, als wäre ich ein scharfer Denker, der die Tiefen des puren Seins auslotet, heißt eigentlich, dass ich ganz simpel mit dem Leben und seinen Umständen und Zwängen hadere und mich in diesem dunklen, zähen Hader suhle. Er manifestierte sich in einer von einem veritablem Rausch unterstützten Weltschmerzattacke am Wochenende.
Ich schäme mich ein wenig, als ich mich daran erinnere, wie ich „Habe ich darum gebeten, ans Leben gebracht worden zu sein?!“ Samstag abends mit gereckter Faust gegen die Wohnzimmerdecke schrie. Ich stand da wie ein Laienschauspieler, der das Äußerste an Pathos, dass er sich vorstellen kann, in seine Rolle als verzweifelter Säufer legt. Wenn ich getankt habe, werde ich oft pathetisch. Von einer Episode wie dieser würde ich Ralf nie erzählen. Ich weiß zwar, dass er mich oft erbärmlich findet, hasse es aber trotzdem, wenn er es ausspricht. Stattdessen beglücke ich ihn mit einer meiner Trinkerweisheiten:
„Das Leben ist tatsächlich ein Geschenk. Man hat nicht darum gebeten und es zurückzugeben, wird nicht leicht akzeptiert.“
„Da ist was wahres dran. Aber hast du das Geschenk überhaupt schon mal genauer betrachtet? Ich meine, hast mal reingesehen oder es, nachdem dich das hässliche Geschenkpapier davon überzeugt hat, dass es nur Scheiße ist, in die Ecke gestellt?“
„Es ist in ein alte Aldi-Tüte verpackt, wie du.“
„Falsch geraten. Heute trage ich einen Lidl-Zweiteiler.“ Ich stelle mir vor, wie er da sitzt mit einem großen gelben Kreis auf der Brust, in dem Lidl steht. Das schräge „i“ würde passen. Zu mir auch.
„Ich glaube nicht, dass unser Leben ein Discount-Artikel ist. Es ist der pure Luxus.“
Ein Möglichkeit zu kontern:
„Das Universum ist 16 Milliarden Jahre alt, ungefähr. Zumindest ist das die einhellige Meinung der Wissenschaft zur Zeit. Ein Menschenleben schaftt gerade mal 80 Jahre, wenn es gut läuft…“
„Und wenn man mit Alkohol vernünftig umgeht…“
„…jaja! …dann ist das ein Etwas nahe Nichts. Es ist Nichts! Warum sollte man es dann nicht einfach auslöschen können? Es wäre etwas weg, was vorher fast nicht da war.“ Ich versuche mit den Fingern zu schnippen, aber meine Hände sind feucht vom Kondenswasser der Bierdose. Es sieht aus, als hätte ich einen Spasmus.
„Du betrachtest es aus der Warte des Universums. Das nenne ich ein Ego! Gottgleich! Typisch Künstler.“
„Verarsch‘ mich nicht!“
„Du verarscht dich selbst.“ Es raschelt. Ich nehme an, er setzt sich zurecht, um den entscheidenden Punkt mit einer professoralen Gestik begleiten zu können.
„Dieser Moment, in dem wir beide hier zusammensitzen, ist sogar noch viel kürzer, als selbst dein lächerlich schnell dahingehendes Leben. Aber: Er ist einzigartig. Diese Erfahrung machen wir nur jetzt. Das geht uns in jeder Sekunde so. Wir sind eine ununterbrochene Aneinanderreihung von einzigartigen Erfahrungen. Vielleicht ist dein Leben das seltenste Ereignis, das überhaupt stattfinden kann!“
Ich lasse das Gesagte eine lange Minute, in der ich einen ordentlichen Zug aus aus der Dose nehme, sacken. Ich sitze hier am Freitag morgen in einem, ziemlich verbeulten Auto italienischen Fabrikats – untere Mittelklasse – mit einem nach den Läuften der Natur lebenden, abstinenten Mini-Paulo-Celho mit in einem Lidltüten-Anzug, also einem Plastikfetischisten, auf der Rückbank, drei Dosen Bier im Kopf, eine in Arbeit und beruhigende sechs weitere für mittags oder abends im Kofferraum. Eine melancholisch gefärbte Freude steigt in mir auf. Nicht wegen des Biers, sondern weil er recht hat. Im Moment hat er einfach recht. Zuerst versuche ich dieses Gefühl zu verdrängen, dann lasse ich es zu. Die Wirkung des Alkohols hilft dabei.
„Weinst du?!“
„Näh! Mir ist etwas ins Auge geflogen. Eine Mücke wahrscheinlich.“ Beim Phrasenschrank für die abgeschmacktesten Ausreden entscheide ich mich natürlich für die unterste Schublade. Aber selbst das kann meine momentane Freude nicht trüben. Bevor es peinlich wird, wechsle ich das Thema.
„Hängst du das Bild in deiner Erdhöhle auf?“
„Wie kommt du darauf, dass ich in einer Erdhöhle wohne. Dir ist kein Klischee fremd, was?“
„Ach stimmt, ein einzigartiges Wesen wie du wohnt bestimmt in einem nach bionischen Regeln gebauten, architektonisch einmaligen noch nie gesehenem, zeltartigen Palast in Leichtbauweise aus Einkaufstüten und anderem Müll.“ Mit beiden Händen forme ich eine imaginäre Kugel. Das schwappende Gewicht der Dose in meiner Linken sagt mir, dass ich noch nicht ins Büro fahren muss, es gibt noch zu tun.
„Nicht ganz. Aber ich habe Platz genug, es aufzuhängen.“
„Du kannst den Schwanz ja überkleben, wenn du möchtest.“
„Warum? Damit meine imaginäre Freundin es nicht sieht? Haha! Du bist hier der mit einer lebhaften Phantasie gesegnete Connoisseur international führender Braukunst!“
Ich mag es nicht, wenn seine Sätze mit einem abfälligen „Du“ beginnen, das mich mit einem zu langen Zeigefinger zu fest piekt. Meine gute Laune löst sich in Gedanken auf, die sich um den heutigen Arbeitstag, die noch zu leerende Dose in meiner Hand und eine noch unerfüllte Erwartung drehen. Ich wage es:
„Gefällt dir das Bild überhaupt?“ Mein gottgleiches Ego beschließt von seiner Antwort abhängig zu machen, wie beschissen der Tag laufen wird. Im schlimmsten Fall würde ich mich hassen, nicht ihn.
„Ja, das tut es.“
„Danke.“
Ich leere das Bier in einem Zug, wobei einer der letzten Schlucke zu groß ist und schmerzhaft langsam meine Speiseröhre überdehnend Richtung Magen wandert. Ich denke kurz an eine Anakonda, die ein Wasserschwein herunterwürgt und muss mich mich zusammenreißen, damit ich mich nicht übergebe. Ich kenne mich mittlerweile damit aus und bin trainiert. In einer oft praktizierten Übung verlasse ich meinen Körper, denke absolut nichts, und kehre wieder zurück, als der Brechreiz soweit nachgelassen hat, dass ich gefahrlos für Klamotten und Interieur sprechen kann:
„Ich muss. Bis Montag.“
Ralf raschelt sich aus dem Auto. Statt der sich schließenden Tür höre ich ein „Hey Penner…!“
„Ja?“
„Bist’n guter Zeichner.“
Wir beide wissen, dass ich genau das hören wollte. Ich beschließe ihm zu glauben und meine Stimmung hellt sich wieder etwas auf. Während der Fahrt ins Büro und fast den ganzen Vormittag denke ich darüber nach, an welchen Stellen ich eine Lidl-Tüte einschneiden müsste, um sie als Hemd tragen zu können und stelle mir das Gefühl von Polyethylen auf der nackten Haut vor. Abends wird es mir als das einzig Sinnvolle vorkommen, das ich an diesem Tag tat.
Lebenswert
Bierschaum spritzt auf meinen Handrücken. Ich versuche ihn hektisch abzulecken, bevor er auf meine Hose und auf den Autositz tropft und gleichzeitig die Dose gerade zuhalten, die noch beruhigend voll ist. Und kalt. Ich liebe kaltes Bier am Morgen. Mir ist völlig klar, dass ich es liebe, weil es mir sagt, dass ich es liebe. Aber das ist mir egal. Zumindest die ersten 3 Dosen, dann wird mir meistens schlecht. An machen Tagen schaffe ich vier. Oder besser gesagt, „brauche“ ich vier, bis der mit geeignete Level erreicht ist, mit dem die erste Hälfte des Tages durchstehen zu können glaube.
Ich spreche von Halbliterdosen, vermarktet von einem weltumspannenden Brauereikonzern, der mir mit dem „Genuss“ dieser seiner Marke das Leben eines schönen Mannes an der Seite schöner Frauen auf einem Schiff mit grotesk grünen Segeln verheißt.
Meistens mitten im zweiten Bier steigt Ralf ein. Wieder klingt es, wie das Rascheln von welken Blättern nur irgendwie künstlicher, lauter. Er klettert auf die Rückbank und begrüßt mich mit einem vertrauten „Na, was geht, Penner?“ Ich biete ihm jeden Tag ein Bier an, aber er lehnt es immer ab. Ralf trinkt nicht. Wie immer schaue ich durch den Innenspiegel, um ihn zu sehen, doch er ist immer noch zu klein. Direkt ansehen darf ich ihn nicht. Er erwähnte irgendwas von einem ralfschen Paradox, eine Art Zauber. Wir würden es beide bereuen, wenn ich das täte, sagte er mit einer übertrieben dramatischen Zaubermeisterstimme. Ich glaube, dass er in Wirklichkeit hässlich ist und sich dessen schämt. Was er aber nicht müsste. Menschen mit äußerlichen Ecken und Kanten ziehen mich an, ich mag sie. Da mache ich bei einem Gnom, oder was er auch immer ist, keine Ausnahmen.
Ich drehe das Radio leiser. Es läuft, solange ich im Auto sitze. Inforadio ohne Musik. Die wiederholen sich zwar auch ständig, aber ich kann den sich in Dauerrotation totlaufenden Massenpop nicht ertragen. Ein paar „Oldies aus den 60ern und 70gern“ gehen ja noch, aber das Beste aus den 80ern, 90ern habe ich noch nicht entdeckt. Das von heute erst recht nicht.
„Was steht heute an, Kumpel?“ Er möchte neue schlechte Nachrichten aus meinem Leben.
Das kann ich ihm nicht übel nehmen. Wir führen eine symbiotische Beziehung. Dass sie, wie Psychologen sagen würden, „gesund“ ist, glaube ich nicht. Sie ist ausgewogen. Für Ralf bin ich ein Exemplar einer verlorenen Kreatur in einem System von Abhängigkeiten und Zwängen, die zu blöd ist, sich daraus zu befreien und sich deshalb immer tiefer in die Scheiße säuft. Ich stehe stellvertretend für das Scheitern einer hochentwickelten Zivilisation, die auf einen Abgrund zurast und vergessen hat, wo die Bremse ist. Er bekommt eine Bestätigung für seinen Zivilisationshass und seine an den „Läuften der Natur ausgerichteten Lebensweise“ (O-Ton Ralf) und ich einen seelischen Mülleimer für mein Geflenne von der ungerechten Welt.
Apropos: Letzten Freitag glaubte ich ein Argument zu haben, das mich einmal nicht als Idioten dastehen lassen sollte: „Deine verschissene Natur zwingt dich also auch zu deiner Lebensweise!“
Er triumphierte wieder: „Jahaaa… allerdings sind die Zwänge, in denen ihr euch bewegt, auch von euch gemacht. Selbst wenn ich ein Idiot wie du wäre, das zu beweisen du mit deiner hilflosen Argumentation versuchst, dann bin ich einer in einem System aus unabänderlichen kosmischen Gegebenheiten. Ihr habt euch durch eine Ordnung, die ihr euch gabt, erst zu Idioten gemacht und jetzt wisst nicht, wie ihr wieder rauskommt!“ Das ganze Wochenende ärgerte ich mich über meine affektive Blödheit. Ich brauchte viel Bier.
Was steht an? „Was ist ein Menschenleben wert?“ frage ich.
„Oh, gleich eine der ganz großen Fragen. Deines nicht mehr viel wenn du so weiter trinkst. Es sank bereits schon beträchtlich im Wert, will ich meinen.“
„Ich meine nicht mich, sondern generell die ganze Menschheit betreffend. Im Durchschnitt sozusagen. Für wie wertvoll ich meines halte, weißt du schon.“
„Komm, sei nicht schon wieder kindisch!“
„Bin ich halt kindisch! Na und? Soll man nicht sein wie die Kinder? Ich bin ein Säugling! Momentan brauche ich nur eins, um zufrieden zu ein und um zu überleben. Eine Titte mit Lebenssaft. Bei mir ist sie halt aus Blech!“ Schon während ich die letzten Worte fast auspeie, hasse ich mich für meine infantile Bockigkeit.
„Wenn du schon die, wie ich anmerken möchte, ziemlich abseitige, Rechnung aufstellst, einen globalen Durchschnitt festzulegen, dann fürchte ich kommt kein besonders hoher Wert heraus. Er dürfte ungefähr bei dem liegen, was du für dein Leben veranschlagst. Haha!“
Ich sehe ein, dass ich mit dieser Frage nicht weiterkomme. Nehme einen langen Zug aus der Dose und setze nochmal an: „Anders gefragt: Müsste das Leben eines Menschen, denn nicht das wertvollste und schützenswerteste sein, das wir auf diesem Planeten haben?“
„Ja.“
Ich warte eine halbe Minute, in der ich mit einem amtlichen Zug die Dose leere, auf weitere Klugscheißereien.
„Wie, ja?! Ist das alles?“
„Ja. Aus der Sicht eines Menschen ist es zweifellos so. Zumindest sollte es das in der Theorie so sein. Aus meiner Sicht wäre es, gäbe es noch andere als mich, das Leben einer Spezies meiner Art. Das Leben, das mir am wertvollsten ist, ist meines. Und bin ich der Ansicht, dass mein, wir ihr es ausdrückt, „Nächster“, wenn es denn einen gäbe, gleich Ralf ist wie ich, dann kann es nur eine Konsequenz geben.“
„Schon zwei von euch, wären nicht auszuhalten. Sieben Milliarden wären die Hölle!“
Ich lache und rülpse gleichzeitig. Ralf ignoriert meinen, wie ich finde, gelungenen Witz.
„Sieben Komma drei Milliarden Menschen leben auf einer begrenzten immer enger werdenden Kugeloberfläche und sind damit beschäftigt auf Kosten des Wertes des Lebens anderer zu leben, damit niemand den Wert ihres Lebens mindert, weil sie diesen beziffern, wie du es tun willst. Als Grundlage ihrer Berechnungen nehmen sie ihr Alter, ihr Gehalt, ihre Schönheit, oder das Blechmonster, das sie jeden Tag zur Arbeit kutschieren, wie du. Nur dass sie dabei nüchtern sind.“
Das Stichwort. Ich öffne die dritte Dose, die bei der Fahrt von der Tanke hierher herunter gefallen ist. Ich halte sie durchs offene Fenster, als ich sie öffne. Habe keinen Bock auf Bierschaum-Bukkake im Auto.
„Von wegen. Die verschieben ihren saturnalischen Drang nach dem Rausch doch nur auf den Abend oder auf Wochenende. Ich bin bin wenigstens immer ehrlich angeschickert.“
„Und auch ziemlich deutlich, will ich meinen.“
„Jepp, Prost!“ Das Bier ist warm, ich schlucke fast nur Schaum.
„Musst du nicht in Büro?“
„Müssen, müssen! Ich sag dir, was ich muss; der Dringlichkeit nach in dieser Reihenfolge: Atmen, Trinken, Scheißen, Essen!“
„Du hast pinkeln vergessen.“
Kleiner weiser Mistkerl. Ich verlasse das Auto und gehe unsicher ein Stück hinter einen Busch, um auszutreten.
Eine leichter Morgenwind bläst ein wenig Nebel aus meinem Hirn und die charakteristische Tonfolge des Zeitzeichens aus dem Autoradio an mein Ohr. Acht. Ralf hat recht. Wenn ich mir noch ein Döschen genehmige, muss ich länger in diesem Affenstall bleiben, als mir lieb ist. Schließlich bin ich am ehesten morgens fit. Bei dem Gedanken muss ich kichern.
Ich setzte mich wieder ins Auto, stecke mir ein Fisherman’s in den Mund und verstaue Dose Nummer vier im Handschuhfach. Fisherman’s auf Bier schmeckt wie Orangensaft nach Zähneputzen.
Wir versichern uns unseres morgigen Wiedersehens und verabschieden uns. Ich höre, wie eine der hinteren Türen geöffnet und überraschend sanft zugemacht wird. Ich versuche mir die Kraft vorzustellen, die dieser kleine Kerl aufwenden muss, um das zu schaffen. Dann sehe ich mich beim Versuch mit hochrotem Kopf eine 30 Meter hohe tonnenschwere Autotür zuzumachen. Aus dem hallengroßen Fond des Autos dringt der Geruch einer Brauerei. Die Realität hat mich wieder, als ich merke, dass ich aufgestoßen hatte.
Zeit, ins Büro zu fahren.