Fortschritt

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KI-Kapitalismus: Die Smart City Shenzhen

Die Zukunft scheint bereits in der Gegenwart angekommen zu sein, wenn man nach China blickt. Vor 50 Jahren war Shenzhen ein völlig unbedeutender Ort, an dem sich Fischer angesiedelt hatten und in großer Armut lebten. Doch mit der Öffnung Chinas in den 1970er-Jahren und mit Dengs wirtschaftlicher Förderung der südchinesischen Provinzen schuf man ein bislang unübertroffenes Projekt: die #SmartCity Shenzhen, die inzwischen mehr als 12 Millionen Einwohner hat, Hongkong den Rang abgelaufen hat und Gäste aus aller Welt – vor allem aus dem #SiliconValley – anlockt, die Zukunftsmusik hören wollen.

Tausende Kameras sind in dieser Planstadt und #Sonderwirtschaftszone installiert, auf Hochtouren treibt man die Entwicklung der Künstlichen-Intelligenz-Technologien voran, außerdem verwandelt man die High-Tech-Stadt nach und nach in eine grüne – bereits jetzt werden im öffentlichen Verkehr keine Verbrennungsmotoren mehr eingesetzt. Doch diese schöne neue Welt hat auch große Schattenseiten: Von Montag bis Samstag wird zwölf Stunden täglich gearbeitet, und trotz des wachsenden Wohlstands gibt es furchtbare Ausbeutungsverhältnisse bei Unternehmen wie Foxconn.

Die Hexenjagd von Darth Vaders Humanisten


Evidenzbasierter Humanist 4.0  (Foto: Pixabay CCO)

Scheiterhaufen für die Pogrome der Zukunft

Der UN-Sonderberichterstatter für Folter hat vor Kurzem ein Essay über die Diffamierung unerwünschter Personen wie Julian Assange verfasst. Er spricht hierbei von einer Entwicklung, die „das Schicksal der westlichen Demokratie besiegeln“ und uns einer „ungezügelten Tyrannei“ überlassen könnte. Bemerkenswert ist, dass der UN-Sonderberichterstatter zugibt, dass er sich zunächst selbst von der medialen Kampagne gegen Julian Assange habe vereinnahmen lassen: 

“Wie die meisten Bürger war ich unterbewusst durch die unerbittliche Schmutzkampagne, die jahrelang gegen ihn geführt wurde, vergiftet worden.“

In seinen realen Wirkungen auf Psyche und Physis wäre ein solches Dirty Campagning direkt mit Folter gleichzusetzen. Existenziell bedrohlich wäre das Kesseltreiben insbesondere, wenn der Staat selbst daran beteiligt ist:

„Nachdem er [Assange] durch Isolation, Spott und Schande entmenschlicht worden war, wie die Hexen, die wir auf dem Scheiterhaufen verbrannt haben, war es leicht, ihm seine grundlegendsten Rechte zu entziehen.   (…)   Was in der öffentlichen Debatte wie bloßes „Schlammschleudern“ aussieht, wird schnell zu “Mobbing”, wenn es gegen einen Wehrlosen eingesetzt wird, und sogar zur “Verfolgung”, wenn der Staat beteiligt ist.“

Ja, man hat heute wirklich den Eindruck, dass gerade wieder Scheiterhaufen für die Pogrome der Zukunft geschlichtet werden. Und an Bütteln, die eifrig Scheitholz herbeitragen, fehlt es auch heute nicht. Nicht nur die „Leitmedien“ (siehe “Über Südtäusche Wasserleichen im Relotius-Narrenspiegel“), die mit dem Staat, seinen Geheimdiensten und special denunciation forces wie der JTRIG Hand in Hand arbeiten, treiben die Sabotage zivilgesellschaftlichen Engagements und freien Denkens systematisch voran. Auch ganze Rudel an Hobbydenunzianten sind mittlerweile regelrecht besessen davon, Andersdenkende zu beseitigen. Whistleblower, diese lästigen Störenfriede des süßen Konsumfriedens, werden für vogelfrei erklärt. Menschen, die anders denken als man selbst, werden – derzeit noch digital – geteert und gefedert bzw. bekommen einen „Aluhut“ aufgesetzt.

Und gleich allen bisherigen Anhängern absolutistischer Ideologien wie Faschismus, Bolschewismus, Maoismus, Trotzkismus, Dschihadismus etc. haben natürlich auch die neuzeitlichen Saubermacher nicht die geringsten Bedenken daran, dass sie im Recht sind und ihre eth(n)ischen Säuberungen für den „Fortschritt“ unabdingbar.

Multiplikation mit Null

Die Hobby-Inquisitoren und Hexenjäger formieren jetzt sogar als eigene politische Partei namens „Die Humanisten“. Bei der jüngsten EU-Wahl haben sie mit über 62.000 Stimmen fast den Sprung ins EU-Parlament geschafft, um uns von dort den Scihad zu erklären. Man darf sich hierbei von Worten nicht ins Bockshorn jagen lassen. Denn in Zeiten, in denen laut Frank Schirrmacher alle hehren Worte wie Freiheit, Demokratie und Humanismus „mit Null multipliziert“ und „der Menschheit geraubt“ wurden, besitzen freilich auch die Gwup-Skeptiker genügend Chuzpe, um ihren Scihad-Kreuzzug nicht unter einer Totenkopfflagge, sondern unter dem Parteinamen „Die Humanisten“ anzutreten.

Die ins Gewand streng wissenschaftlicher „Humanisten“ gehüllten neoliberalen Nihilisten rühren nicht nur verbissen die Trommel für die transhumanistische Robotisierung („Wir ebnen den Weg zum Körper 2.0“), Gentechnik, Glyphosat und Kernkraft (siehe unten), sondern auch zur „evidenzbasierten“ Ausmerzung aller Fortschrittsfeinde – siehe dazu auch die „Unvereinbarkeitsliste“ dieser smarten Partei auf webarchive.org: Darin versichern die „Humanisten“, dass sie in die gleiche Stoßrichtung arbeiten werden, die auch Bundespräsident Steinmeier jüngst angekündigt hat: Allen „verschwörungstheoretischen Bewegungen und Medien“ werden die (Trans-)Humanisten entgegenarbeiten, ausdrücklich genannt sind dabei unter anderen: Attac, Die Nachdenkseiten, Rubikon und KenFM. „Aufgrund der großen Vielfalt an teils gegensätzlichen Verschwörungstheorien und der unüberschaubaren Fülle an Akteuren“ sei jedoch das Aufstellen einer abschließenden Liste „schwerlich möglich … und ist daher auf die Onlineplattform PSIRAM zu verweisen“.  Na ist das nicht fabelhaft? Da haben wir sie also wieder: Die Listen … die dann demnächst von kundigen Experten abgearbeitet werden.

Aber die Liste der (Trans-)Humanisten ist endlos … man sieht daran wieder einmal, wie groß die Welt der Andersdenkenden ist. Aber dank Künstlicher Intelligenz und lückenloser Bürgerüberwachung in Gwupsmart Cities sind die Gwupper zuversichtlich, dass es erstmals in der Geschichte möglich sein wird, auch wirklich alle Andersgläubigen und Fortschrittsfeinde zu beseitigen.

 (Screenshot Twitter /Account „Partei der Humanisten“, https://twitter.com/diehumanisten/status/1114833081037459457?lang=de, 08.07.2019)

Nun ja, wenn es dann keine Andersdenkenden mehr gibt, dann wird unter den Gwupern womöglich große Ratlosigkeit ausbrechen … und sie werden sich dann selbst auffressen müssen (so wie das Dostojewskij in Raskolnikoffs Traum von der szientistischen Pest ja vorausgesehen hat).

Obwohl sich die Freunde Sheldon Coopers auf eine streng wissenschaftliche, rein naturalistische Weltsicht berufen, haben sie nicht verstanden, dass Ökosysteme einer möglichst großen Diversität und Artenreichtums bedürfen, um stabil zu bleiben. Auch dass Monokulturen nur zum Preis der totalen Erosion und Vergiftung des Bodens aufrechtzuerhalten sind, aber trotz allen gigantomanischen Technologie- und Pesizideinsatzes letztlich doch kippen (inklusive massenhafter Suizide der Landbevölkerung aufgrund der Segnungen des von der Gwup propagierten Gentechnik-Saatguts), kann man in Ländern wie Indien, die als Monsanto/Gwup-Versuchslaboratorien dienen, zwar bereits sehen, aber who cares about reality, wo der feuchte neoliberale Smart City Science Buster Traum doch so süß ist?

Auch dass es in einem mit szientistischem Urin gefüllten Biotop – selbst wenn dieser Urin von Monsanto/Bayer nach streng „evidenzbasierten“ Kriterien synthetisiert wurde –  keine Fische, keine Libellen und keine Schmetterlinge mehr geben wird, sondern sich dort allenfalls ein paar Würmer und Blutegel tummeln werden: Who cares? Dass am Todesstern die geilsten Parties abgehen und Darth Vader der unschlagbarste DJ des Universums ist, kann doch keiner, der Star Wars gesehen hat, bestreiten. Warum sollen wir uns von diesem coolen Schwarzhelm also nicht auch zum Tanz aufspielen lassen? It’s market-conform democracy, stupid!

Pink Panther goes nuclear

Der im obigen Humanisten-Tweet genannte Kernkraft-Schwärmer und „Humanisten“-Beirat @sapinker ist übrigens der Harvard-Professor Steven Pinker. Mit eloquenter akademischer Sprache, aber zugleich fast surrealer Naivität singt Pinker in seinen Büchern ein Loblied auf das System des neoliberalen Kapitalismus. Anhand von „evidenzbasierten“ Statistiken beweist er dem kleinen Mann, dass freie Märkte und Globalisierung allen zu mehr Wohlstand verholfen hätten. Nach der Lektüre seines Buches könnte man der Meinung sein, dass es den Menschen dieses kurz vorm Ökozid stehenden Globus, die gerade vermeinen die Hölle durchzumachen, in  Wirklichkeit so gut geht wie noch niemals zuvor (Pinker: Heute leben wir länger, gesünder, sicherer, glücklicher, friedlicher und wohlhabender denn je, und nicht nur in der westlichen Welt. Der Grund: … Aufklärung und Wissenschaft“).

Ich will jetzt nicht näher auf die fortschrittseuphemistische Pinkerei eingehen. Zum Glück existieren im Netz ja bereits einige Rezensionen wie z.B. im New Statesman („Unenlightened thinking“), in denen die Absurdität von Pinkers Gedankenluftschloss demaskiert wird. Zumindest Bill Gates findet Pinkers Buch weiterhin großartig: »Mein absolutes Lieblingsbuch aller Zeiten.« Auch in Kreisen der Gwup-/Psiram-/Skeptiker-Bewegung genießt Pinker quasi Guru-Status. Liefert er doch auf bestem akademischen Niveau den Stoff, an den die Freunde Sheldon Coopers ihre technizistischen Träume hängen.

Doch man will nicht unter sich bleiben und drängt nun an die breite Öffentlichkeit. Nach Ansicht von Pinker und seinen nuklearen Anhängern müsse man den unaufgeklärten Menschen die noch vorhandenen Reste an „Mythen“ austreiben, sodass sie nur noch an „Fakten“ glauben … – die bekanntlich alternativlos sind. Zum Glück sind die Skeptizisten mit akademischen Institutionen, konzernwirtschaftlichen Lobbies und großen Verlagen bestens vernetzt. Pinkers Bücher erscheinen im renommierten S. Fischer Verlag, der ebenso wie Springer, Piper und die anderen großen deutschen Verlage gerade ganz begierig darauf sind, szientistisch-nihilistische Literatur wie von Dawkins, Hitchens, Schmidt-Salomon & Co.  zu publizieren. Pinkers jüngstes Buch trägt den nicht unbescheidenen Titel „Enlightenment Now“. Der Fischer Verlag transkribierte diesen Titel  für den deutschen Markt etwas bescheidener mit „Aufklärung jetzt“ (Untertitel: „Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt“). Ich meine: Wer gegen diese salbungsvollen Schlagworte etwas einzuwenden hat, der kann ja nur ein unverbesserlicher Fortschrittsfeind oder Unmensch sein.

Ein Antidot zu Dantes Eishölle

Angesichts des gerade boomenden technizistischen Traums hätte ein Schritsteller wie Hermann Hesse heute wohl kaum noch eine Chance, den Literaturnobelpreis zu erhalten. Darth Vaders Stormtrooper würden ihm stattdessen den Aluhut aufsetzen und ihn am digitalen Scheiterhaufen verbrennen – natürlich mit evidenzbasierten, rationalen Argumenten, denen jeder Touchdisplaybürger, der mit der Milchflasche des Science Edutainments (wörtl. „erziehende Unterhaltung“, so die Gwuper selbst über ihre mediale Propaganda) aufgezogen wurde, unweigerlich zustimmen muss. Die Partei der Humanisten ist ja „Die Partei der Moderne: rational, liberal und fortschrittlich“. Und die Weltanschauung, die Hermann Hesse vertritt, ist da eindeutig inkompatibel mit dem, was die rationale, evidenzbasierte Wissenschaft heute unter „Fortschritt“ versteht und daher brandgefährlich  … also ein Fall für die Inquisition und den Scheiterhaufen.

Nachfolgende Worte von Hermann Hesse, für die er noch vor wenigen Jahrzehnten – in analogen Zeiten – den Nobelpreis erhalten hat und von denen sich fast eine ganze Generation in ihrem tiefsten Inneren angesprochen fühlte, sind also nicht ganz ungefährlich. Wer sie in sein Herz hereinlässt, den machen sie zum Ketzer wider den heute herrschenden Zeitgeist – den Geist eines nach außen hin smarten Systems, das Jean Ziegler als „kannibalisch“ bezeichnet. Es ist also durchaus möglich, dass wir mit diesen Worten am digitalen Scheiterhaufen landen. Auf der anderen Seite können uns diese Worte vor demjenigen Schicksal bewahren, das bei derzeitigem Kurs ansonsten unausweichlich ist: dem Weg in Dantes Eishölle.

Hier also Hesses Worte, die sich für jeden waschechten Skeptiker wohl ebenso anfühlen müssen wie ein in den Rachen gerichteter Lanzenstoß des Ritters Georg für den Lindwurm:

„Ich habe an vielen Dingen keine Freude und glaube an viele Dinge nicht, die der Stolz der heutigen Menschheit sind: Ich glaube nicht an die Technik, ich glaube nicht an die Idee des Fortschritts, ja nicht einmal an die Demokratie, ich glaube weder an die Herrlichkeit und Unübertrefflichkeit unserer Zeit, noch an irgendeinen ihrer hochbezahlten Führer, während ich vor dem, was man so ‚Natur‘ nennt, eine unbegrenzte Hochachtung habe.“
(Hermann Hesse)

             Hermann Hesse (Foto: PD)

Vielleicht ermuntern uns diese Worte ja dazu, vom toten Pferd, auf dem wir gerade reiten, noch rechtzeitig abzusteigen … – bevor es uns digital wiehernd in den Grand Canyon befördert. Und wer so wie Hermann Hesse das Staunen über das uns umgebende Wunderwerk der Natur übt, der wird erleben, welch belebende Kraftquelle er in der Bewunderung der Natur, ihrer Fauna, Flora, Farben und Formen finden kann – einer Natur, die nicht tot ist so wie von den Skeptizisten behauptet, sondern die zutiefst lebendig und in allen ihren Aspekten nach einer unerfasslichen Genialität gegliedert ist und miteinander in Verbindung steht. Er wird dann womöglich auch zur überraschenden Erkenntnis kommen, dass die heute vielgeschmähten „Mythen“ sehr viel mehr mit der wahren Natur des Menschen und der Welt zu tun haben als die nukleare Pinkerei mit ihren „Fakten“.

 


Nachsatz:

Ein Professor an der technischen Hochschule, der entgegen der Mehrzahl seiner Kollegen zeitlebens vehement gegen Atomkraftwerke gekämpft hat, hat uns Studenten einmal erklärt, dass es relativ vergeblich sei, Kernkraftbefürworter durch gut gemeinte Erklärungen zu überzeugen. Man müsse den nuklearen Pinkey Boys die Konsequenzen der von ihnen propagierten Technologie am eigenen Leib spüren lassen – indem man sie dann, wenn gerade wieder irgendwo ein Kernkraftwerk hochgeht, wie z.B. in Tschernobyl oder Fukushima, zum „Aufräumen helfen“ hinschickt. Eventuell könnte man auch diejenigen strammen CDU-Politiker*Innen mit zum Aufräumen schicken, die seinerzeit ganze Schulklassen zum Kindergeburtstagsfeiern in unterirdische Atomülllager wie die Asse eingeladen haben, um zu demonstrieren, wie unbedenklich solche Atomüllendlager seien und wie gut und gerne es sich zwischen 102 Tonnen Uran, 87 Tonnen Thorium, 28 Kilogramm Plutonium (das bereits in Staubkorngröße tödlich ist) sowie einem Berg an sonstigen chemotoxischen Mitteln lebt und feiert. Nun droht nach massivem Wassereinbruch von täglich 13.000 Liter in der einsturzgefährdeten Asse eine Verseuchung des Grundwassers (siehe Deutschlandfunk).

Da in unserer Zeit nicht nur die Bienen, Schmetterlinge und Vögel verschwinden, sondern auch manches, was man in den letzten Generationen eigentlich bereits als solides zivilgesellschaftliches Bewusstsein verankert gemeint hat, hier vielleicht kurz eine Auffrischungsimpfung für die ansonsten ja so impffreudige und „evidenzbasierte“ Generation Pinker: Ein 20-minütiger Zusammenschnitt der über drei Stunden gehenden Originalversion von Holger Strohms Kernkraft-Dokumentation „Friedlich in die Katastrophe“:

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zum Weiterlesen:

Der Psiram Lehrmeister – Massentaugliches Infotainment und marktkonformer Brainfuck

 

Rette sich wer kann? – Gedenken an den Beginn eines sehr unseligen Zeitalters


Foto: cc by Parkwaechter

Trabanten des Schwarzen Lochs

„Da draußen sind Monster: GroKo – Diese Regierung ist der letzte Gruß einer untergehenden Zeit“ titelt der Freitag in seiner dieswöchigen Ausgabe.

Gestern wurden sie von Bundessteinadler Steinmeier also wieder vereidigt, die Monster. Gruppiert um die erosive Gravitationskraft eines alternativlosen schwarzen Lochs präsentieren sie sich den Kameras allen Umständen zum Trotz als Fleisch gewordenes „Wir schaffen das“ (siehe Foto). Während uns der abgesägte Außenminister Sigmar Gabriel auf der Münchner Sicherheitskonferenz „am Abgrund“ sieht (siehe nzz) und auch die Wissenschaftler und Nobelpreisträger des „Bulletin of the Atomic Scientists“ ihre Doomsday Clock gerade auf 2 Minuten vor Mitternacht gestellt haben (siehe Spiegel), so glauben die Ministranten der Rautenkönigin weiterhin unbeirrt an den Fortschritt von Technik und transatlantischer Demokratisierung – wild entschlossen, das zu tun, was Steinmeier als primäre Aufgabe der Regierung ansieht (Quelle: bilanz.ch) :

«Der Bundespräsident, vor allem die Mitglieder der Bundesregierung müssen Überzeugungsarbeit leisten, dass das transatlantische Fundament nicht infrage gestellt wird.»

Die Trabanten des schwarzen Lochs (siehe auch CDU-Gruppenfoto „Die Mitte“) werden sich nun also an ihr Werk machen und in immer enger werdenden Kreisbewegungen auf ihre gleichzeitig adipöse und nicht-existierende Mitte zusteuern, bis sie vollends im schwarzen Wurmloch verschwinden und vermutlich in den Omega 8-Quadranten jenseits unserer Milchstraße abgesaugt werden, wo sie dann weiterhin ihr Demokratie-Possenspiel betreiben können. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wird dieses Spiel zwar womöglich nur halb so viel Spaß machen, aber was soll’s: Vielleicht bekommen sie ja auf einem Raumschiff der Borgs Asyl. Auf gleicher Wellenlänge mit diesen Feinden der Menschheit können Sie womöglich neue Coups schmieden, um technisch rückständige Zivilisationen in den Weiten des Weltalls mit den Segnungen der marktkonformen Demokratie zu beglücken.

Übelkeit beim Mittagessen

Zurück aber von Raumschiff Enterprise zu unserem Gegenwartsdrama: Da ich während eines Skiurlaubs gerade Gelegenheit hatte, in österreichischen Tageszeitungen zu blättern, wurde ich Zeuge einer unheimlich-grotesken Melange: Der Angelobungstag „dieser verfluchten Merkel-Regierung“ (Florian Kirner/Rubikon) fiel zusammen mit dem 80. Gedenktag an den österreichischen Anschluss 1938. In den Tageszeitungen mischten sich daher Reportagen über die neue Merkel-Regierung mit opulenten Berichten und Bildercollagen über den Triumphzug des „Führers“ und seiner historischen Rede am Wiener Heldenplatz, in welcher er einer ihm mit Fähnchen zujubelnden Menschenmasse Fortschritt und Wohlstand versprach – und mit dieser Fortschrittsverheißung die dunkelste Epoche einleitete, die das Land jemals erlebt hat. Die Zeitungsseiten quollen über vor Bildern mit Militärgerät, Nazi-Kohorten und ihren Claqueuren von der gleichgeschalteten Reichspresse, unmittelbar daneben Kolumnen mit Bildern von Angela Merkel während ihrer Angelobungsfeierlichkeiten, mal die Raute ganz klassisch auf Gebärmutterhöhe gefaltet, mal auch beidhändig über Kopf in der Pose, wie man sie sonst nur von Fußballern beim Erhalt der Champions League-Trophäe kennt. Angesichts dieser grotesken Bildercollage während des Mittagstisches verzichtete ich jedenfalls auf die im Hotelmenü inbegriffene Sachertorte ebenso wie auf meinen Mittagsschlaf, sondern suchte stattdessen unter leichtem Drehschwindel den Gang an die frische Luft.

Trotz des milden Frühlingswetters und des Vogelgezwitschers, das mich draußen erwartete, fiel es mir nicht leicht, zu meiner gewohnten Leichtigkeit zurückzufinden. Bisher ungekannte Gedanken gingen mir durch den Kopf: Soll ich am sinkenden Schiff bleiben oder wäre es an der Zeit, es Gerard Depardieu gleichzutun und das Land zu verlassen, bevor es zu spät ist? – Moment mal, bin ich denn vollkommen bekloppt?: Aus einem Land wegziehen, in dem doch alle gut und gerne leben und mit dem gerade halb Afrika als neue Wahlheimat liebäugelt? Nun, nicht wenige Menschen in meinem Umkreis tun dies bereits oder treffen ernsthafte Vorbereitungen zum Auswandern. Was mich dabei bisher verblüffte: es sind ausnahmslos gut situierte und hochintelligente Menschen, die das wohlstandsverwöhnte Schlamerkelland verlassen, viele davon mit kleinen Kindern – ihre Gegenwart wird mir schmerzlich fehlen. Bis vor kurzem dachte ich, dass die von mir beobachteten Abwanderungsfälle wohl einer übertriebenen Furchtsamkeit entspringen und nicht repräsentativ sind. Wie ich in einem gestern veröffentlichten Report des Statistischen Bundesamts erfahren habe, sind dies allerdings ganz und gar keine Einzelfälle: Allein im Jahr 2016 verließen 281.000 Bundesbürger das Land, ein bisheriger Rekord (Quelle: welt.de). Interessant dabei ist, dass bereits seit 2005 ein negativer Wanderungssaldo verzeichnet wird – also exakt ab jenem Jahr, in dem Angela Merkel ihre Regentschaft antrat.

Marktkonformer Migrationssaldo

Angesichts solcher statistischer Daten versteht man eventuell auch, warum sich mittlerweile sogar der beharrliche CSU-Chef Horst Seehofer Merkels Politik der offenen Grenzen angeschlossen hat, obwohl er doch noch vor Kurzem beim politischen Aschermittwoch verlautet hat, dass er sich „bis zur letzten Patrone gegen eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme“ sträuben werde. Was ein Saldo ist, versteht Seehofer schließlich: Mit negativem Saldo macht man’s als Betriebswirt nicht mehr lange. Wenn bei stagnierender Geburtenrate weiterhin jährlich mehrere hunderttausend Leistungsträger – mit derzeit exponentiell steigender Tendenz – aus Deutschland abwandern, dann findet die derzeit im Dreischichtbetrieb florierende deutsche Rüstungsindustrie womöglich nicht mehr genügend willige Arbeitskräfte, um die Sprengsätze, Panzer, Drohnen und Raketen zu produzieren, die unserem Land einen satten Exportüberschuss bescheren. Wenn die in Deutschland verbleibenden jungen Menschen, allesamt im politisch korrekten Gender Madstream auf „Make love, not war“  domestiziert, womöglich keine Lust mehr haben, diese Drecksarbeit zu verrichten, dank deren in die Krisengebiete exportierten Produkten weltweit Häuser, Kinder und wehrlose Menschen zerfetzt werden?  – Schreck lass nach, dann kommt unser solide „brummender“ Wirtschaftsmotor womöglich ins Stottern.

Oder wie ist es auch um die sonstigen ehrbaren Berufe in der gerade aufstrebenden Nanotechnologie-, Gentech-, Biotech- und Robotikindustrie bestellt, die viele Jugendliche bereits als „Bullshitjobs“ ansehen? Na da ist es doch wirklich ein genialer Schachzug, junge Menschen ins Land zu holen, die zu allem bereit sind und bestimmt keine ethischen Bedenken und Motivationsprobleme haben. – Deren Anwesenheit noch dazu den angenehmen Nebeneffekt mit sich bringt, dass sich die Bundesbürger untereinander hoffnungslos zerstreiten und dadurch politisch marginalisieren – so dass die marktkonformen Machtverhältnisse, in denen zumindest das obere 1 % der Gesellschaft gut und gerne lebt, niemals ernsthaft in Frage gestellt werden können.

Die entsprechenden Humanressourcen, die zur Verwertung der noch verbliebenen Umweltressourcen notwendig sind, stehen nun bereit. Laut der bereits erwähnten neuen Bundesstatistik wanderten im Jahr 2016 rund 1.720.000 und 2015 rund 2.016.000 Ausländer in die Bundesrepublik ein. Der starken Auswanderung von Deutschen steht also eine anhaltend hohe Zuwanderung von Ausländern gegenüber. In Westdeutschland inklusive Berlin stammen bereits 42 Prozent der neu geborenen Kinder aus einer Einwandererfamilie. Dass die armen Länder, die gerade um ihre jüngsten und leistungsfähigsten Menschen ausgeblutet werden, dadurch auch ihre eigene Zukunft und Kultur verlieren – egal, es geht um uns und unsere Wirtschaftsbilanz, WIR sind der Nabel der Welt … wenn WIR nicht gerade Fußball-Weltmeister oder Papst sind.

Beileid

Es ist im Übrigen auch lohnenswert, das Stimmungsbild in den über 600 Leserkommentaren zum vorgenannten  welt.de-Artikel zu sichten: Es sind laut eigenem Bekunden hauptsächlich Unternehmer und „Leistungsträger“, die sich hier zu Wort melden und die fast unisono ihren im Inland verbliebenen Landsleuten ihr Mitgefühl und Beileid ausdrücken.

Beileid? Beileid wozu? – Immerhin leben wir im Land, in dem sich die Tafeln vor abgelaufenem Essen biegen, doch so gut und gerne in einem nie gekanntem Wohlstand, der es möglich macht, selbst mit einfachst gestrickten Wahlkampfslogans unsere Stimme für ein „Weiter so!“ zu gewinnen. Wenn es also wahr ist, dass wirklich so viele Unternehmer und Leistungsträger unser Land verlassen – also Menschen, die den vielzitierten „brummenden Motor“ von innen kennen –, muss man dann daraus schließen, dass dieser brummende Motor womöglich eine Macke hat? Steht dieser Motor etwa kurz vorm Kolbenreiber, obwohl das hochglanzpolierte Gefährt, das er unter der Motorhaube antreibt, derzeit noch mit Höchstgeschwindigkeit am Highway über die Atlantikbrücke unterwegs ist?

Scheinbar ist der bereits eingangs erwähnte Gerard Depardieu nicht der einzige, der derzeit für Europa schwarz sieht und sich in Melancholie ergeht. In einem Interview mit dem Figaro spricht er davon, dass in seinem Land die Menschen und die Kultur „verloren gehen“ und er inzwischen Russland als seine neue Wahlheimat erkoren habe, da er „die Katastrophe nicht sehen“ wolle:

„… Wenn ich in Frankreich bin, bleibe ich hier zu Hause mit meinen Büchern: Ich möchte nicht rausgehen und das Desaster sehen. Wir haben Orwell bereits hinter uns und sind nun in Van Vogts ‚Space Wildlife‘ angekommen, wo niemand mehr etwas versteht. Das allgemeine Wahlrecht ist vorbei: Wir werden von Apple und Zuckerberg geführt.

… Deshalb nervt mich dieses Land, es ist zu sehen, dass die Franzosen so traurig sind wie der Tod. Sie wagen es nicht einmal mehr auf ihr Land zu schauen, da sie sich dafür schämen.“

Auch für den vom ihm geliebten Film empfindet Depardieu bloß noch Abscheu. Sehenswert findet er nur noch solche Produktionen, die „von der öffentlichen Kritik vernichtet“ würden.

Am neoliberalen Altar

Aber wir schweifen ab und vergraulen uns womöglich die Lust am strahlenden Fortschritt, der uns doch heute erwartet (siehe auch „Pig Business Monkey Events, Global Playboys und bezaubernde Jeannies – Auf dem Weg zur digitalen Transformation und zum Final Handshake“). Damit der zur Staatsreligion erhobene Fortschrittsglaube nicht kurz vor seinem Endsieg womöglich unerwartet zum Erliegen kommt, wurden in den letzten Wochen auch alle Register gezogen, um auf Biegen und Brechen und unter Ächzen und Stöhnen wiederum das zusammenzuschweißen, was nicht zusammen passt. Was hinter den Kulissen vor sich gegangen ist, um diese unsägliche Zwangsehe zu arrangieren, vor der nicht nur allen Schaulustigen, sondern auch den Brautsleuten selbst graut, hat der langjährige Leiter des ZDF-Parlamentsstudios Wolfgang Herles vor Kurzem ausgesprochen: „Das Chaos in der SPD ist zum Großteil Bundespräsident Steinmeier zu verdanken, der die Große Koalition erzwingen wollte“ (Quelle: focus).

Dem mittlerweile wieder in Würselen verschwundenen Martin Schulz war es dabei natürlich vollkommen klar, dass er sich und seine Partei vollkommen verheizt, wenn er wieder in die Arme der schwarzen Rautenkönigin geht. Um das zu erkennen, ist er als altgedienter EU-Berufspolitiker schlau genug – weshalb er ja nach der Wahl auch sofort in Opposition wollte … hätte nicht Bundespräsident Steinmeier interveniert und ihn in einem Vier-Augen Gespräch mit nicht in den Medien veröffentlichten, aber offensichtlich zwingenden Argumenten zum Fortsetzen des Projekts Merkel gezwungen. Indem Schulz sich und die ganze SPD-Mannschaft dazu als Opferstiere an den Schlachtaltar geführt hat, sind die zornigen Götter auf dem unantatstbaren Olymp der Atlantikbrücke nun hoffentlich befriedet und die transatlantisch-neoliberale Agenda kann in Europa ihrem Endsieg entgegenschreiten.

Aber wer weiß: Vielleicht taucht ja noch Perseus auf und schlägt der Hydra unerwartet das Schlangenhaupt ab.

 


Nachsatz:

So, nach all den demoralisierenden Regierungs-Gruppenfotos und dem schwer verdaulichen Gescholze und Gemerkel auf unserer marktkonform gewordenen Demokratiebühne möchte ich den Leserinnen und Lesern des Nachrichtenspiegel auch ein paar Sätze eines denkwürdigen Zeitgenossen mitgeben, der in unserer postmoderen Touchdisplay-Gesellschaft leider in Vergessenheit zu geraten droht – vermutlich aufgrund seiner nicht mehr ganz fortschrittskompatiblen Gesinnung. Immerhin hat er für diese Gedanken in analogen Zeiten noch den Literaturnobelpreis erhalten:

„Ich habe an vielen Dingen keine Freude und glaube an viele Dinge nicht, die der Stolz der heutigen Menschheit sind: Ich glaube nicht an die Technik, ich glaube nicht an die Idee des Fortschritts, ja nicht einmal an die Demokratie, ich glaube weder an die Herrlichkeit und Unübertrefflichkeit unserer Zeit, noch an irgendeinen ihrer hochbezahlten Führer, während ich vor dem, was man so ‚Natur‘ nennt, eine unbegrenzte Hochachtung habe.“  (Hermann Hesse)

  Hermann Hesse (Foto: PD)

Vielleicht ermuntern uns diese Worte ja dazu, vom toten Pferd, auf dem wir gerade reiten, noch rechtzeitig abzusteigen … – bevor es uns digital wiehernd in den Grand Canyon befördert.

Wir brauch’n kaane Meier mehr – Abgesang auf ein Auslaufmodell (Lied des Wochenendes)

Die Veröffentlichung dieses Songs war vor 20 Jahren noch ein handfester Skandal. Die Zunft der ‚Meiers‘ erwirkte per gerichtlicher Verfügung sogar ein vorläufiges Verbot, das Lied im öffentlichen Rundfunk zu spielen. In der Tat geht der Bluessänger Heli Deinboek in seinem Opus Magnum mit der Spezies der Meiers schonungslos ins Gericht. Im Rhythmus von Randy Newmans „Don’t wanna short people“ plärrt bzw. plädiert er: „Mia brauch’n kaane Meier mehr“. Und setzt gleich noch eine deftige handgreifliche Empfehlung dazu: „Wer Maier heisst, gheat g‘haut am 1. Mai“.

Warum diese ungestüme Empörung über die Meier? Nun, Deinboek muss wissen, wovon er redet. Dank seinem Beruf als Sozialarbeiter hat er ein geschärftes Auge für die Ursache, warum unsere Gesellschaft heute immer mehr in Schieflage gerät und wir womöglich schon demnächst zu kentern drohen. „Wenn wir weiterleben wollen“, so nannte der Architekt Richard Neutra seinerzeit seinen in Buchform erschienenen flammenden Appell an die menschliche Vernunft. Ähnliche, durchaus lesens-/hörenswerte Appelle erklingen auch heute noch (siehe z.B. ein aktuelles Interview mit Noam Chomsky oder mit Stephen Hawking, in welchen uns beide Grandseigneurs bereits mit einem Fuß im Abgrund sehen) und eigentlich wollte ich als Wochenendlektüre auch diese beiden vorgenannten Interviews verlinken, nur irgendwie ist mein Vertrauen in die Resonanzfähigkeit des menschlichen Intellekts momentan im Sinken begriffen. Da ich aber heute trotz Regenwetters und chronisch trüber Tagesnachrichten gut aufgelegt bin, lassen wir die akademischen Analysen von Hawking&Co. ausnahmsweise einmal kurz beiseite und hören wir uns stattdessen an, wo ein bodenständiger Streetworker wie Heli Deinboek die Wurzel unserer gesellschaftlichen Misere verortet.

Alle Meiers/Mayrs/Meyers mögen ihm seine Wortwahl verzeihen. Natürlich ging es Deinboek nicht um die Verunglimpfung des vermutlich gängigsten deutschen Familiennamens. Auch ich zähle zu meinem Bekanntenkreis viele Meiers, die ich als außerordentlich wertvolle und herzliche Menschen schätze und an die Deinboek seinen Song wohl keineswegs adressiert hat. Er hat „Meier“ vielmehr nur als plakatives Synonym gewählt – für jene immer größer werdende Anzahl an Menschen, die der Gefahr der Vermassung zu unterliegen drohen und sich damit nicht nur zu Handlangern des marktradikalen („neoliberalen“) Wahn-Sinns machen, sondern diesen auch zur alternativlosen Normalität erklären und wählen. Menschen, die sich Rückschritt als Fortschritt, Unsinn als Sinn, Krankes als Gesundes, Hässliches als Schönes, Bullshitjobs als Berufe, Grausamkeit als Spaß und Müll als Essen verkaufen lassen. Axolotl-Bürger und GWUP-Nerds, die fast schon ersticken am technisch-kommerziellen Vielzuviel und trotzdem noch mehr wollen.

„Sie verstopfen die U-Bahn meierweis – dann foans haam zu eanara Meierspeis …“

Wenn also bei Heli Deinboeks Refrain das Wort „Meier“ erklingt, dann möge der Leser mit Namen Meier stattdessen Huber oder den Namen seines Lieblingspolitikers einsetzen (siehe auch „Was wir heute brauchen wie ein Loch im Knie: „Bodenständige“ Politiker im Maulwurfspelz und AFX-Parteien“)

Deinboeks Song aus 1995 ist heute aktueller denn je. Man sollte ihn wieder ins Bewusstsein heben, bevor nichts mehr geht und unsere U-Bahnen wirklich komplett mit der Spezies verstopft sind  (hier von Steve Cutts ins Bild gebracht), auf die Heli Deinboek schon seinerzeit einen deftigen Abgesang geleistet hat.

Vielleicht mag auch jemand ein Crowdfunding ins Rollen bringen, um Deinboeks „Meier“ im Werbeblock kurz vor der Tagesschau zu bringen oder in den Adventeinkaufsmeilen anstelle von „Jingle Bells“ oder Whams unsäglichem „Last Christmas“. Man stelle sich nur vor: Die einkaufenden Bürger flanieren in gewohnter Jahresendzeitfest-Stimmung mit Glühwein und Geschenksackbündeln durch die Fußgängerzonen, und auf einmal ertönt es durch die Lautsprecher:

„Wir brauchn kane Meier
Wir brauchn kane Meier
Wir brauchn kane Meier mehr

(…)

Olle Meier san so gierig
Olle Meier san so schmierig
Olle Meier san doch kaum zum ertrogn

(…)

Sie verstopfen die U-Bahn meierweis
dann foans haam zu eanara Meierspeis

(…)

Sie trogn Meier-Jeans und Meier-Koppn
sie haub‘m ziemlich schiache Meier-Gschroppn
kennst an, kennst olle,
s’is wie beim Bauer

ois Meier mocht da kana die Mauer

Den Bergers nehmens jede Hetz
Den Hubers dafür de Arbeitsplätz
A Prohaskas losst da Meier olle hängen
mia wa am liabsten, wenns olle meier gengan

(…)

Wer Maier heisst gheat ghaut am 1. Mai …“

Das Jahresendzeitfest – wenn der Endzeitmann kommt und sich die Endflügelpuppen vom Himmel senken

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(c) Parkwaechter 2015

Nachdem wir Fasching, Valentinstag und Oktoberfest hinter uns gebracht haben und nur wenige Atemzüge nach dem bedeutendsten Fest unseres mammonistischen Jahresfestkreises – Helloween, ist es nun so weit: auch „Weihnachten“ steht am Kalender.

Jene Zeit also, in welcher die Gewerkschaften darum kämpfen müssen, dass in den großen Shopping Malls nicht öfter als 30 mal pro Tag „Jingle Bells“ oder das unsägliche „Last Christmas“ von Wham durch die Lautsprecher geschickt wird, um so die Verkäufer vor abendlichem Drehschwindel und Schlaflosigkeit zu bewahren.

Jene Zeit, in der wir uns auf unsere „westlichen Werte“ besinnen, die wir sogar am Kunduz in Afghanistan und im Syrischen Hinterland verteidigen müssen.

Vor einiger Zeit habe ich mich mit einer Frau unterhalten, die in der DDR unter dem strengen Auge der Blockwarte und der Stasi aufgewachsen ist und dort von einem alternativlosen Schulsystem indoktriniert wurde. – Nein, nicht mit Angela Merkel, unter der die Alternativlosigkeit und die schnöde Blockwart-Mentalität heute wieder eine ungeahnte Renaissance erfahren hat und uns auch lückenlose Bürgerüberwachung wieder achselzuckend als das Normalste auf der Welt verkauft wird. Meine Gesprächspartnerin war keine Frau, die sich mit diesem alternativlosen System arrangiert und dort als Physikerin Karriere gemacht hat, sondern eine Künstlerin, die den technokratischen Wahnsinn schon als junge Frau durchschaut und daher unter Lebensgefahr die Seiten gewechselt hat. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass sie im „freien Westen“ nun wieder von ihrer dunklen Vergangenheit eingeholt werde.

Eine besonders groteske Episode weiß sie über die Weihnachtszeit zu erzählen. Kurz vor Zusammenbruch der DDR, als Überwachung, Willkür und Absolutheitsanspruch gegenüber dem „Pack“ bereits fast unerträglich geworden waren und die Systemfunktionäre und Blockwarte schon das ungute Gefühl in der Magengrube hatten, dass dieses „Pack“ sie demnächst abservieren wird, zog man nochmals alle Register, um das gemeine Volk im Zaum zu halten.

Bemerkenswert war, dass kurz vor besagtem Zusammenbruch des Systems mit regelrecht hysterischer Akribie versucht wurde, den Bürgern alles auszulöschen, was irgendwie eine Ahnung von einer Dimension hervorgerufen hätte, die über dem unseligen materialistisch-technokratischen Planwirtschafts-Alltag wartete. Worte wie Weih-Nachten waren daher an den Schulen, an denen meine Bekannte arbeitete, verboten – man musste sagen: Jahresendzeitfest. Auch durften keine Geschichten über das Christkind, nicht einmal über den Weihnachtsmann erzählt werden, sondern nur über den Jahresendzeitmann.

Vom Schuldirektor streng verboten war insbesondere das Wort Weihnachts-Engel. Da sich die Tradition, zu Weihnachten Engel zu basteln, trotzdem nicht ausrotten ließ, so galt die Vorschrift, dass man diese Bastelwaren jedenfalls unter keiner anderen Bezeichnung handeln durfte als unter „Endflügelpuppen“.

Meine Bekannte, die dies erzählte, kann heute keineswegs über diese grotesken Auswüchse der DDR Politik lachen. Sie erzählt, wenn sie heute so den politischen Diskurs beobachte, dann fühle sie sich frappant an die damalige Zeit erinnert, in der das alte System kurz vorm Zusammenbrechen war und daher nochmals alle Verbocktheit aufbot und alle retardierenden Kräfte aus dem Keller holte, um kritisches und alternatives Denken zu verhindern.

Diese retardierende Funktion übernehmen heute allerdings nicht mehr Stasi-Agenten im grauen Mantel wie damals, nein, die Drecksarbeit zur Sabotage zivilgesellschaftlichen und basisdemokratischen Engagements übernehmen heute Personen, die vom Förderband eines alternativlosen Schul- und Universitätssystems gelaufen sind, nachdem sie dort ethisch-moralisch kahlgeschoren und intellektuell zugespitzt, geteert, gefedert, geformt, genormt, verschweißt und elektronisch verkabelt wurden. Was sie nun tun, entspringt scheinbar ihrem eigenen Willen zum „Fortschritt“, ihnen bewusste „Verschwörung“ anlasten zu wollen, ginge daneben – was sie jedoch nicht minder gefährlich macht.  Der Auftrag der vom Förderband gelaufenen Terminatoren: Endlich Schluss machen mit allem, was der reinen technokratisch-mechanistischen Effizienz, also dem Ideal des Borg-Kubus (siehe Wiki-Eintrag) widerspricht.

Denn ein solches technokratisches Ideal kann unmöglich verwirklich werden, solange die Menschen noch an diejenige tiefere Ebene des Daseins glauben, die Hermann Hesse als „Welt Mozarts“, Platon als „Reich der Ideen und lebendigen Urbilder“ oder Viktor Frankl als „noetische Ebene (von gr. nous=Sinn)“ angedeutet hatten und die auch von ausnahmslos allen anderen großen Poeten und Weisen aller bisherigen Zeitalter als Wurzel, Sinn und Ziel des Menschseins beschrieben wurde. Nur so nebenbei, jener Mann, der im heutigen X-Mas nur noch als „X“ vorkommt, aber dessen kompromisslose und wahrheitsfordernde Worte die Welt seinerzeit so erschüttert haben, dass man die Zeitrechnung seinetwegen auf Null gestellt hat, redete auch immer davon, dass „sein Reich nicht von dieser Welt“ sei. Was ihn auch dazu veranlasste, dass er die Geldwechsler mit der Peitsche aus dem Tempel jagte und die damaligen Blockwarte und etablierten Funktionäre der Macht, die Schriftgelehrten und Pharisäer, bei jeder Gelegenheit als Heuchler und als Schlangenzungen bezeichnete.

Von besagten Terminatoren, die vom Förderband des Szientismus gelaufen und ins Rennen um die Zukunft der Menschheit geschickt wurden, wird dazu nun eine radikale Antithese aufgestellt:

„Mensch und Welt sind nur geistlose Kohlenstoffzusammenballungen, ergo ist alles Wurst, ergo können Mensch und Umwelt nach reinen Effizienzkriterien ausgeschlachtet werden.“

Wer sich diesem Glaubensbekenntnis des nihilistischen Szientismus und Sachzwanges nicht beugt, wird mit Bulldozergewalt niedergewalzt, an den digitalen Pranger gestellt und medial verbrannt (siehe dazu einen der letzten Artikel des Eifelphilosophen: „Deutschland 2015: Das Ende der offenen Gesellschaft und der Bürgerkrieg gegen die Vernunft“).

Zurück aber zu Weihnachten. Eines der genialsten Weihnachtsgedichte, das mir in den letzten Jahren untergekommen ist, stammt von Steve Geshwister und heißt „Heilige Abende“

Kurz zur Rahmenhandlung:

Bei Schmidts gibts Heiligabend Gans
Bei Müllers Würstchen mit Püree
Frau Ott kocht Brüh‘ aus Ochsenschwanz
Die Mayer brät ein Rindsfilet (…)

Ein iPad für den kleinen Mayer
Ein Kindle für das Müllerkind
Für Oma Ott ein Nudelseiher
Wie schön, dass wir beisammen sind!

Man ist befriedigt, satt, so voll
Dass langsam Geist und Klarheit schwinden
Wär dieser Jesus nicht schon toll
Man müsste ihn erfinden!

Einzig Herr Müller verquert diese Endzeitfest-Idylle. Dreimal stößt er aus den Fluch: „Der Blitz beim Scheißen in euch fahre!“ – Aber lesen Sie selbst… (siehe Heilige Abende).

Bundesparteitag Piratenpartei Offenbach – letzte Chance für die Menschheit?

Samstag, 3.12.2011. Eifel. Autor: "ganz dicke Virusgrippe" - laut Arzt. Die erste seit ... vielen vielen Jahren. War schon stolz auf meinen Lebenswandel. Vielleicht - haben aber auch ein paar Naturwissenschaftler wieder nur ein total neues, geiles Grippemodell entwickelt, das sie gerade ausprobieren. Wie jede Grippe bringt auch diese einen gestandenen Mann an den Rand des Todes, den man mit offenen Armen begrüßen würde, wenn er nur den Matsch aus dem Kopf entfernt. An schreiben - war nicht zu denken ... jedenfalls solange nicht, bis der Parteitag der Piraten in Offenbach ins Visier rückte. Es ist kein Geheimnis, das ich die Piratenpartei vor zwei Jahren als braunes U-Boot angesehen habe - der Fall schlägt bis heute Wellen:

Samstag, 3.12.2011. Eifel. Autor: „ganz dicke Virusgrippe“ – laut Arzt. Die erste seit … vielen vielen Jahren. War schon stolz auf meinen Lebenswandel. Vielleicht – haben aber auch ein paar Naturwissenschaftler wieder nur ein total neues, geiles Grippemodell entwickelt, das sie gerade ausprobieren. Wie jede Grippe bringt auch diese einen gestandenen Mann an den Rand des Todes, den man mit offenen Armen begrüßen würde, wenn er nur den Matsch aus dem Kopf entfernt. An schreiben – war nicht zu denken … jedenfalls solange nicht, bis der Parteitag der Piraten in Offenbach ins Visier rückte. Es ist kein Geheimnis, das ich die Piratenpartei vor zwei Jahren als braunes U-Boot angesehen habe – der Fall schlägt bis heute Wellen:

Ein anderes Ausschlussverfahren endete bereits mit einer Schlappe für den Bundesvorstand: Der Pirat Bodo Thiesen soll wiederholt auf Mailing-Listen der Partei Holocaust-Leugner zitiert haben – sein Landesverband verteidigte ihn im Namen der Meinungsfreiheit. Am Donnerstag entschied das Schiedsgericht in Rheinland-Pfalz, dass Thiesen Pirat bleiben darf. Seine Äußerungen würden der Partei keinen Schaden zufügen, hieß es. Der Bundesvorstand will Berufung einlegen. 

Bodo Thiesen soll – so wurde mir versichert – persönlich ein netter Mensch sein, der sich – für Nerds nicht selten – in rechtsradikalen Netzen verfangen hat, ohne es zu merken. Nun – andere braune Flecken der Partei haben gezeigt, das dies kein Einzelfall war, sondern Methode. Heute, nachdem die Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ öffentlich geworden sind (und nicht nur dem Verfassungsschutz und anderen Nachrichtendiensten bekannt), darf man wohl vorsichtig den Verdacht äußern, das hier Strategie hintersteckt: die Unterwanderung liberaler Parteien durch NS-Kräfte war schon früher mal Thema, weil sie „weder rechts noch links“ sein wollen, eignen sie sich sehr gut dafür, rechte und linke Extreme lange Zeit im Sinne der Meinungsfreiheit zu decken.

Man ist ja „gut“ (oder „piratig“), das sollte reichen.

Wie „gut“ man ist, möchte die Piratenpartei nun in Offenbach beweisen – mit interessanten Themen … nochmal Spiegel:

An der Spitze des Top-40-Rankings steht ein Antrag für die Legalisierung von Drogen, gefolgt von einem Antrag über die Trennung von Staat und Religion. Andere wollen die Facebook-Seite der Partei löschen, Firmenspenden verbieten, Nahverkehr gratis anbieten oder die Zeitumstellung abschaffen.

Das sind Forderungen, die einen natürlich völlig umhauen. Zu Zeiten, in der es wieder eine reale Kriegsgefahr mit Russland gibt (ja, das ist eine Überraschung, oder? Russland hat Syrien zugesichert, sie militärisch vor Natointerventionen zu schützen, um ein zweites Libyen zu verhindern. Hält sich die Nato nicht dran, rollt der Russenpanzer bald wieder durch Polen und Berlin), haben wir natürlich keine anderen Probleme als uns hemmungslos zukoksen zu dürfen. Immerhin – der Kokainersatzstoff Ritalin wird regelmässig in viele Kinderhirne gepumpt, warum sollten da die Erwachsenen immer noch krumme Wege gehen müssen, um an ihr Speed zu kommen?

Trennung von Staat und Religion ist natürlich besonders wichtig, erst recht, nachdem der Papst die Deutschen mit Moral ängstigt und aus Abscheu vor der Welt sogar auf die Kirchensteuer verzichten will. Man will ja die Geschäfte nicht durch Anstand und Ethik gefährden.

Ob die Partei eine Facebookseite braucht, interessiert wohl wirklich niemanden … aber mit dem Verbot von Firmenspenden trifft man den Kern des Systems. Wovon sollen denn die Parteien ihre Funktionäre fürs Nichts- und Wichtigtun bezahlen, wenn nicht die Firmen – anstatt den Überschuss des Wirtschaftens als Preisminderung an die Kunden weiterzugeben, damit alle was davon haben – die Gelder großzügig herüberwachsen lassen … für eine kleine Gegenleistung, einen kleinen, unbedeutenden Gefallen, wohlgemerkt – wie zum Beispiel die Deregulierung der Arbeits- und Finanzmärkte.

Gegen dieses System, das nicht nur Deutschland sondern ganz Europa und die USA fest im Griff hat (mit katastrophalen Folgen für die Wirtschaft selbst, für die Bürger des Landes und die Zivilisation selbst) hilft nur noch die Notbremse, sonst rast es mit Schmackes vor die Wand.

In solchen wirtschaftlich kranken Zeiten den Nahverkehr gratis anzubieten, ist schon fast demokratische Pflicht – und könnte bei uns zu libyschen Verhältnissen führen.  Und hier wird es interessant – denn entgegen der Forderungen der Parteispitze und des neoliberalen Blocks in der Piratenpartei (das scheint ja fast schon Tradition zu werden in Deutschland: neoliberal ist man, sobald man im Vorstand ist – egal ob rechts, links oder orange) offenbart uns das Handelsblatt unter dem Titel „Skurriles Programm“ weitere Programmanträge, die sehr nachdenklich machen können – und eigentlich überhaupt nicht skurril sind:

Nacktheit im öffentlichen Raum als Grundrecht für Menschen klingt sicherlich ungeheuerlich – und wäre mit Sicherheit nicht mein Top-Thema – aber es ist als rechtsphilosophischer Aspekt nicht von der Hand zu weisen. Skurril ist da nichts – die Werbung lebt immerhin täglich davon. Ist ja auch Basisoutfit fürs Paradies.

Die Besteuerung von Kapitalerträgen in Höhe von 65% ist sicher ein weiterer Antrag, der im Rahmen der volkswirtschaftlichen Notbremse einfach alternativlos ist. Das hat mit „rechts“ und „links“ im Jahre 2011 nichts mehr zu tun: eher mit Notwehr. Wenn der Fürst das Dorf ansteckt, werden wir doch wohl auch nicht das löschen verbieten wollen, weil man es als „links“ deuten könnte derweil es gegen die Taten des Fürsten gerichtet ist?

Die große Staatsverschuldung der Bundesrepublik hat ein Antragssteller als Problem erkannt und liefert gleich eine Lösung dafür mit, wie man den Schuldenberg wieder loswerden kann. Die Vermögenden sollen bezahlen. Mit einer einmaligen Vermögensabgabe von 20 Prozent sollte sich die Staatsverschuldung laut Antrag erledigt haben.

Das kann man so sehen – und ist ja auch nicht skurriler als die Solidaritätsabgabe Ost. Nur geben diesmal diejenigen, die viel zu viel haben und nicht die, die ohnehin jedes Jahr weniger haben. Mit Klassenkampf hat dies nichts zu tun – aber mit volkswirtschaftlicher Notbremse und praktischer Vernunft viel.

Arbeits- und Unterrichtszeiten müssten generell so gestaltet werden, dass die Menschen nicht gezwungen seien, gegen ihre „innere Uhr“ zu leben.

Das würde natürlich für Staat und Unternehmen viel Arbeit bedeuten … aber welches Recht gibt es eigentlich, Menschen absichtlich krank zu machen, in dem man sie mit Gewalt (oder der Androhung des Hungertodes bei Weigerung via Hartz IV) in Lebensrythmen zwängt, die ihrer Gesundheit nachhaltig schaden? Gut, in einer Welt, in der Menschen nur noch „Kosten auf zwei Beinen“ sind, mag man die Massenvernichtung von Lebenskraft gern billigend in Kauf nehmen … aber das muss einem als Wähler dann doch nicht gefallen.

Wahlrecht schon für Kinder – würde Eltern etwas für ihre Arbeit entlohnen und ihnen die politische Macht geben, die sie dank ihrer Arbeit schon lange verdient haben.

Letztendlich ist es aber ein ganz zentraler Programmpunkt, der zur Debatte steht  siehe Welt:

Das bedingungslose Grundeinkommen wird wahrscheinlich auch in Offenbach eine große Rolle spielen. Es gibt einen Antrag, wonach die Forderung ins Wahlprogramm für die Bundestagswahl aufgenommen werden soll. Zwar werden erst die Mitglieder vor Ort entscheiden, worüber letztlich debattiert und abgestimmt wird. Doch das sozial- und wirtschaftspolitische Reizthema umtreibt viele Piraten.

Der Bundesvorsitzende ist dagegen – das eint ihn mit den Bundesvorsitzenden aller anderen Parteien in Deutschland. Wo kämen wir denn auch hin, wenn man den Vorsitzenden die Peitsche aus der Hand nehmen würde, mit der sie seit Jahrzehnten den Bürger so schön knechten: die ständig steigende Abhängigkeit von Geld.

Das diese Abhängigkeit inzwischen einen Grad erreicht hat, in der die Gleichung GELD = LEBEN herrscht und so bei sinkendem Geldlevel direkt die Allgemeinen Menschenrechte angreift, wird von den gut versorgten Parteioberen gerne übersehen. Da sie von der Industrie aber fleissig umworben werden und ihre politischen Aktivitäten größtenteils nur noch als gelebte Bewerbungsunterlage verstehen, sollte man Verständnis für diese Blindheit haben. Auch hier findet man auf einmal … Weisheit bei den Piraten:

Zudem hört man aus Berliner Piratenkreisen, dass die Partei nur deshalb einen Bundesvorstand habe, weil man ihn laut Parteiengesetz haben müsse.

Das es Weise wäre, auf einen Vorstand zu verzichten, merkt gerade auch die SPD, die sich mit Forderungen nach höheren Steuern für Reiche und mehr Rente für Arme bei der Führung unbeliebt macht: die Spitzenverdiener der Partei sind nicht einverstanden mit höheren Steuern für Spitzenverdiener.

Verständlich.

Umso unerhörter ist das, was bei den Piraten gedacht wird, siehe Welt:

Nur mit dem Unterschied, dass die Piraten ein „Programm“ gar nicht so ernst nehmen, weil sie nicht in Themen, sondern in Verfahren denken. Basisdemokratisch digital soll es zugehen. Der Rest steht zur permanenten Debatte.

Das klingt so liberal, dass die hierzulande sogenannten Liberalen den Schreck schon längst in den Gliedern spüren. Und es klingt so basisdemokratisch, dass der gleiche Schreck, wenn auch auf höherem Niveau, ebenso ins grüne Parteigebein gefahren ist. Nicht ohne Grund.

Denn das Magnetische an der Piratenbewegung ist die Einladung zum freigeistigen Aufbruch ohne allen Ballast. Und ohne die Verpflichtung, für die Ideen anderer etwas zu zahlen.

Manchen gefällt das sehr – wie dem Altkommunarden Rainer Langhans:

Alt-68er Rainer Langhans gibt einen Teil seiner Dschungelcamp-Gage an die Piratenpartei weiter. Er habe große Sympathie für die chaotischen Elemente in der Partei.

Ob man das Geld angenommen hat, weiß ich nicht. Möglicherweise ist es ja von „links“?

Es ist kaum zu glauben – aber im Jahre 2011 hängt das Schicksal des ganzen Landes von einer einzigen kleinen chaotischen Partei ab.

„Bedingungsloses Grundeinkommen“ ist nichts weiter als die allerletzte Notbremse, die – zumindestens übergangsweise – ein ganzes Land vor der kompletten Ausplünderung und wirtschaftlichen Vernichtung bewahren kann. Da diese Notbremse aber die automatische Bereicherung der „Entscheider“ in Politik und Konzernwirtschaft ebenfalls ausbremst, wird sie aus dieser Ecke niemals gezogen werden – einer Kaste der „Elite“, die dem Volk Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Vertauenskrise, Energiekrise, Sozialkrise und ein paar kleine häßliche Kriege (an denen man aber auch gut verdienen konnte) gebracht hat, steht wohl aber auch nicht der Sinn nach einer gut laufenden Volkswirtschaft.

Die Piratenpartei Berlin – zusammen mit dem Grundeinkommensaktivisten Ralph Boes, der die Partei in Berlin unterstützt – hat sich hier deutlich positioniert:

Auf Landesebene gibt es in Berlin einen Beschluss vom Oktober 2010, der in Form eines Positionspapiers ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert und dies aus den im Grundgesetz verankerten Menschenrechten ableitet.

Zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen gibt es angesichts der momentanen politischen und wirtschaftlichen Katastrophen keine Alternative, wenn diese Gesellschaft noch eine Zukunft haben soll. Von gigantischen Kapitalerträgen in China, den USA und den Konzernkassen kann ich in Bottrop keine Schulwände streichen, in Köln keinen Straße pflastern und in Wismar keine Arbeitsplätze schaffen, noch wüßte ich, wie die steigende Gier nach leistungslosem Einkommen auf Halbgottniveau auf der einen Seite ohne Hungertote in den Dörfern Sachsen-Anhalts und den Straßen Gelsenkirchens befriedigt werden sollte.

Der Geldkreislauf ist ein geschlossenes System – für die Millionenhaufen müssen Millionen leiden.

Will man dieses Leiden nicht, sondern lieber ein Leben in einer lebendigen, offenen, freien Gesellschaft, die dem Individuum größtmöglichen Schutz (!) und damit auch größtmöglichste Entfaltungsmöglichkeiten (inklusive einer gestiegenen Risikobereitschaft) gibt, dann muß man die Prioritäten anders setzen: erst Geld für die Menschen, dann für den Haufen.

Wenn da einer auf zwanzig Haufen Kartoffeln sitzt, die bald verfaulen, und zwanzig andere hungernd in der Ecke sitzen und nichts anpflanzen können, dann ist es nicht „links“ zu sagen: „Gib´ mal was ab, damit Du auch in Zukunft wieder Haufen anhäufen kannst“.

Das ist dann nur vernünftig. Das können auch Rechte.

Wie das finanziert werden soll?

Das zu berechnen, darf man getrost den Experten überlassen. Niemand macht sich ja auch Gedanken darüber, wie wir in Zukunft die jährlich fälligen 100 Milliarden Euro für die Beamtenpensionen aufbringen sollen … oder die Billionen für die Eurorettung.

Das System ist am Ende. „Nehmt bloß nichts eurem Schröder weg!“ – kann in Zukunft kein Ansatz mehr sein – und je länger wir das alte System laufen lassen, um so schneller wird es unsere Volkswirtschaft ausbluten.

Insofern kann es wirklich sein, das der Parteitag einer kleinen, chaotischen, rechtstoleranten Partei die letzte Chance der freien, offenen Bürgergesellschaft im 21. Jahrhundert ist, während sich die SPD darum streitet, wie die Vermögen ihrer Chefs zu sichern sind.

Immerhin, eins muss man den Piraten zugute halten: sie singen auch mal in der U-Bahn. Scheinen bei Rentern aber – siehe Link – nicht gut anzukommen. Rentner mögen keinen Lärm.

Den Gegnern sei nur eins gesagt: unseren „Fortschritt“ haben wir der Tatsache zu verdanken, das wir dem Adel den Besitz weggenommen und ihm dem Mittelstand gegeben haben: die hatten einfach mehr Ideen, mehr Tatkraft und Erfindungsgeist als der dekadente Blaublutmob.

Wieviel „Fortschritt“ brachte uns eigentlich die Superklasse der Superreichen in den letzten zwanzig Jahren?

Die letzte bemannte Mondlandung ist ein halbes Jahrhundert her – wirkt schon wie die übliche zivilisatorische Stagnation aristokratischer Gesellschaftsformen, oder?

Und Dieter Bohlen werdet ihr doch jetzt wirklich nicht als Fortschritt ansehen wollen, oder?

 

Archimedes, die Römer und die Gegenwart

In der Antike hatten die Menschen bereits das Problem, mangels Vorstellungsvermögen den technischen Stand der Zeit zu erfassen. Wie damals, so ist es auch heute!


Mit Dank an:

Conrebbi

Fabrik

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Fabrik

Von Krisen umzingelt – und doch …

Wir sind von Krisen umzingelt: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Staatsschuldenkrise, soziale Krise – so lässt sich die Metamorphose der aktuellen ökonomischen Krise kennzeichnen. Und die Umzingelung wird immer enger: Zunächst waren es ja hauptsächlich Zahlen, Indizes, die ins Bodenlose stürzten. Bald sind es soziale Netze, die zerreissen – und Menschen, die fallen. Und dann ist die Krise ganz bei uns angekommen, klopft an unsere Haustüre, tritt ein ins Wohnzimmer. Hallo, ungebetener Gast! Du bist falsch hier. Geh zum Nachbarn! Bitte nicht bei mir!

ABC der Krise

Doch das ist ja nur die eine, die wirtschaftliche Seite. Hinzu kommt die Umweltkrise, letztes Jahr drastisch vor unsere Augen geführt im Golf von Mexiko, wo über Wochen Rohöl unaufhaltsam in den Ozean floss. Auch in diesem Bereich wird die Umzingelung enger: Die oft recht abstrakten Formen der ökologischen Bedrohung – zum Beispiel des Klimas durch die Erwärmung um mehrere Grade im Lauf der nächsten Jahrzehnte – werden auch hier anschaulicher, unübersehbar, brutal. An allen Enden und Ecken wird unser System ad absurdum geführt. Problemlos liesse sich ein ABC der Krise erstellen: von der Krise der Arbeit über die Krise der Beziehungen (der Geschlechter) bis zur Krise der Zeitungen.

Kulmination einer langen Entwicklung

Nicht dass die Entwicklung neu wäre. Das Ungleichgewicht, die Vereinseitigung wurde schon vor Jahrzehnten diagnostiziert – und seit langem von vielen Menschen schmerzlich empfunden. Das legendäre 1968 war zum Beispiel so ein Aufbegehren gegen das quadratische Denken, das dumpfe Fühlen und das blinde Handeln. Und viele weitere Revolten und Rebelliönchen folgten, verzweifelte Versuche, der wütenden Einverleibung der Welt und unserer selbst durch die Logik des Marktes und des herzlosen Fortschritts etwas entgegenzusetzen. Die Entwicklung hat sich beschleunigt; insbesondere seit 1989 ist sie in ihre Turbophase eingetreten. Und inzwischen sind wir Menschen zu Konsumenten degradiert und nur noch ein Mittel zum Zweck. Die Wirtschaftszahlen entscheiden über unser Sein oder Nichtsein.

Unsere Verantwortung

Doch wir liessen das auch einfach geschehen, haben brav mitgemacht, wollüstig zuweilen und in gemeinsamer Raserei. Wir haben zugelassen, dass man uns auf unsere leiblichen Bedürfnisse reduziert, haben mit der Zeit selbst geglaubt, was uns PR und Werbung vorgaukeln. Wir haben uns kaufen lassen – aus Trägheit, aus Mangel an Lebendigkeit und selbständigem Denken, aus fehlendem Verantwortungsbewusstsein auch. Wir haben uns vom Wesentlichen ablenken lassen, sind mit sattem Bauch vor dem Fernseher eingedöst. Selber schuld! Wir hätten es anders haben können.

Gefahren beim Aufwachen

Und nun schrecken wir aus dem Dauerschlaf. Und das ist gut so. Erwachen ist unsere einzige Chance. Und es schadet nichts, dass wir durchgeschüttelt werden. Das gehört zum Aufwachen – und hilft, dass wir nicht so schnell wieder einschlafen und ins Alte zurückfallen. Denn das ist eine der grössten Gefahren: nichts aus der Krise gelernt zu haben, mechanisch, ja autistisch immer wieder dieselben Rezepte anzuwenden – wie wenn es nicht gerade diese gewesen wären, die an den Abgrund geführt hatten.

Eine andere Gefahr: Untergangspropheten, Verschwörungstheoretiker, Heilsprediger. Erstaunlich, wie schnell diese Verführer der Vernunft in den Startlöchern stehen, wenn die Angst umgeht! Mit ihren Drohungen und Halbwahrheiten, ihren Lügen und Schmeicheleien versuchen sie die Menschen in eine Richtung zu biegen, die ihnen genehm ist. Doch eigentlich lassen sich diese Krisengewinnler schnell erkennen: an ihrem quadratischen Denken und der notorischen Abwesenheit von Fragen.

Unausgeschöpftes Potenzial

Und eben dieses einseitige, quadratische Denken, die geradezu barbarische Verengung unseres Menschen- und Weltbildes steckt meines Erachtens hinter all den krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Ausgerechnet heute, wo wir als Menschheit noch nie so reich waren – an Bewusstsein und Erkenntnissen, an Verbindungen zueinander, an Gütern des Lebensbedarfs, an Geld, ja, auch das … –, ausgerechnet heute handeln wir, als wären wir Barbaren in einer kulturellen Wüste. Wir schöpfen unser Potenzial bei weitem nicht aus.

Und das ist zugleich meine Hoffnung: Wir Menschen, du und ich, haben wirklich ein wundervolles Potenzial – der Herzlichkeit, der Intelligenz, der Phantasie, der Liebe gar. Auch wenn dieses Potenzial unter Bergen von Ängsten und Egoismen verschüttet ist, kaum mehr sichtbar vor lauter Enttäuschung, Verzweiflung und Schmerz, brauche ich nur einen Menschen unbefangen anzusehen, um zu erahnen, dass sehr viel mehr in ihm steckt, als er augenblicklich zum Ausdruck bringt. Und wenn ich ein paar Worte mit ihm wechsle, ihm auch nur ein Minimum an Wertschätzung entgegenbringe, wird diese Ahnung zur Gewissheit: Mit dir zusammen schaffen wir es. Und wenn wir wirklich wach werden, kann gar nichts mehr schief gehen.

Walter Bs Textereien
http://walbei.wordpress.com/

Wachstum ≠ Fortschritt

Endlich wird von höchster Stelle bestätigt, was vielen schon lange schwant und manchen Gewissheit ist: Fortschritte bei der menschlichen Entwicklung sind auch ohne rasches Wirtschaftswachstum möglich – und starkes Wachstum führt nicht unbedingt zu besseren Entwicklungsbedingungen für die Menschen. Dies macht der neueste Bericht der Vereinten Nationen zur menschlichen Entwicklung klar: (mehr …)

Fortschritt: wieder mehr Frauen in Indien verbrannt, Todesursache „Mädchen“ im Aufschwung

Heute haben wir ja Aufschwung, früher hatten wir FORTSCHRITT. Der FORTSCHRITT war eine Art Heilslehre, ähnlich dem Katholizismus oder dem Kommunismus, allerdings sollte er wie letzteres PARADIES NOW bringen – also genau das Richtige die schnelllebige Zeit der Moderne.  Wohlstand, Gesundheit, Glück für alle – das war versprochen. Das Zeitalter der Aufklärung fegte Adel und Klerus hinfort (was oft dasselbe war) und eröffnete der Menschheit ganz neue Möglichkeiten.  Krankenversicherungen, Rentenversicherungen, Arbeitslosenversicherungen sollten Freiheit bringen von den Widrigkeiten der menschlichen Existenz.  Es gab noch ein paar Streitigkeiten, mit wem zusammen das Paradies nun noch paradiesiger werden würde, wer die Kommandogewalt über die Produktionsmittel in Händen halten sollte und wie man am effektivsten Volksvertreter wählt, doch der Grundtenor war klar: wir bewegen uns endlich nicht mehr nur von einem sagenhaften goldenen Zeitalter in mystischer Ferne fort, sondern wir bewegen uns auf ein paradiesisches goldenes Zeitalter hin, in dem niemand mehr arbeiten braucht, weil die Maschinen uns von diesem Fluch befreien.

Da hatte man die Rechnung erstmal ohne die SPD gemacht. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ … auf einmal war Arbeitslosigkeit im Prinzip mit dem Tode bestraft worden, was schlimm war zu einer Zeit, in der sie sowieso schon knapp war.  Wo da jetzt der Fortschritt gegenüber der Leibeigenschaft sein soll (außer das man die Partei, die den Fürsten bestimmt, jetzt auch mal wählen kann), bleibt fraglich.

Schaut man sich nun im 21. Jahrhundert um so findet man langsam gehäuft Absonderlichkeiten – nicht nur Chinesinnen, die laut Spiegel Hasen foltern, sondern auch die systematische Ermordung und Verbrennung von Frauen als Geschäftszweig im ansonsten so zivilisierten Indien, hier aus einer Seite, die für indische Patenkinder wirbt:

Heiraten in Indien hat eine traditionelle und eine kommerzielle Seite angenommen. Besonders die Mitgift der Frau ist zu einer wirtschaftlichen Transaktion zwischen den beteiligten Familien geworden. Da Frauen nicht unter Stand heiraten dürfen, müssen sie sich bei einer „höheren“ Familie mit Geschenken an den Bräutigam, dessen Eltern und eventuell anderen Familienmitgliedern „einkaufen“. Dabei übersteigen die Kosten für die Geschenke und die Feier oft das Jahreseinkommen der Brautfamilie. Töchter sind somit eine teure Angelegenheit und o.g. Repressalien beruhen auf Grundlage dieser Entwicklung der Mitgift. Oft werden die Ehefrauen nach ihrer Hochzeit zu Nachzahlungen ihrer Mitgift angehalten. Kann nichts mehr gezahlt werden, fallen die Frauen oft inszenierten Unfällen zum Opfer, sprich sie verbrennen beim Kochen am Kerosinkocher o.ä.: die Schätzungen über die Zahl der Mitgiftmorde gehen bis zu 15 Frauen pro Tag! Jährlich werden mehr als 5.000 Frauen wegen der Mitgift umgebracht (Jahresbericht der Vereinten Nationen). In den meisten Fällen werden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen.  Auf Grund des Mißbrauchs der Mitgift ist diese zwar gesetzlich verboten, findet aber weiterhin statt.

Nun, lange Zeit sind wir in dem Glauben erzogen worden, das die Unmenschlichkeit eine aussterbende Verhaltensweise ist, so wie man uns auch weiß machen wollte, das Religion nur etwas für verirrte Geister ist und dort nicht gedeien kann, wo der Kommunismus herrscht. Die aktuellen Entwicklungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken zeigt, das man sich auch da geirrt hat – der Islam ist dort lebendiger denn je.  Lange Zeit haben wir ja geglaubt, das die Welt beherrscht wird von dem dialektischen Treiben, These aufgestellt, Antithese wahrgenommen, Synthese macht Geschichte – der Markt regiert einfach alles. So dachten wir, es reicht, wenn ein Franz Alt mal einen Bericht über die Situation in Indien macht, dann ist ja der These/Antithesemechanismus angeschoben und die Welt heilt sich von selbst:

Im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu gibt es Dörfer, in denen bis zu 80 Prozent aller neugeborenen Mädchen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden. Die Jahresstatistik einer Abtreibungsklinik in Bombay sieht so aus: 100 abgetriebene Jungen, aber 6.900abgetriebene Mädchen. Im Bundesstaat Andhra Pradesh gibt es 25.000 Tempelprostituierte. Die Mädchen werden mit sechs Jahren der Göttin geweiht und müssen ab 13 Jahren Männern sexuell zu Diensten sein. Die Polizeistatistik zählt jährlich 7.000 Mitgiftmorde in Indien. Aber mitten in diesem Elend gibt es auch positive Entwicklungen: Die Deutsche Hilfsorganisation Andheri-Hilfe leistet seit 15 Jahren zusammen mit indischen Frauengruppen effektive Entwicklungsarbeit. Sie drängen zum Beispiel darauf, dass Frauenmörder nun erstmals bestraft werden. Über 140.000 Frauen arbeiten bereits in Frauengruppen mit. Franz Alt berichtet in seiner Reportage, wie sich in Indien im Lauf der Zeit der Umgangmit Mädchen verändert hat. Er zeigt Dörfer, in denen seit drei Jahren kein Mädchen mehr getötet wurde. Dutzende von ehemaligen Tempelprostituierten berichten, wie und warum sie ausgestiegen sind und jetzt andere zum Ausstiegbewegen.

Der weltweite Fortschritt der Humanität ist unaufhaltsam.  Jedenfalls gehört das zum Mythos der Aufklärung, zum Mythos des unaufhaltsamen Sieges der Menschenrechte.

Wir Deutschen waren ganz vorne mit dabei, den Fortschritt in die Welt zu bringen und deshalb auch überall gut angesehen (das war noch vor Afghanistan). Auch heute noch argumentieren wir ja gerne, das wir eigentlich nur in Afghanistan sind, um die Frauen zu retten. Da stellt sich jetzt die Frage, ob wir auch in Indien einmarschieren, denn in Indien wendet sich das Blatt laut Bericht des Ökumenischen Rates gerade wieder:

„Letztes Jahr haben die Mitgiftmorde zugenommen“, sagte Premindha Bannerjee vom Christlichen Verband junger Frauen am Internationalen Gebetstag für den Frieden (21. September) im Zentrum für Integration und Gleichberechtigung in Neu-Delhi.

„Wir rätseln noch immer darüber, welches die wahren Gründe für die Mitgiftmorde sind“, erklärte Bannerjee. „Die Gesetze gegen Mitgiftmorde waren in den 1980er und 1990er Jahren erfolgreich, doch nach einer Reihe von Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof griffen sie dann nicht mehr. Es gibt ungefähr 45 äußerst frauenfreundliche Gesetze in Indien, aber ihre Anwendung ist schwierig. Wir müssen uns auf die Anwendungstechniken konzentrieren.“

Bulu Sarin von Christian Aid sagte, dass sich das Aufkommen von Gewalt gegen Frauen in Indien von physischer Gewalt auf seelische und psychische Gewalt ausgedehnt habe. Frauen, die psychisch schikaniert werden, können nun rechtliche Schritte dagegen unternehmen. Das Gesetz zur Verhütung häuslicher Gewalt ist seit 2005 in Kraft. Allerdings werden nur wenige Täter strafrechtlich belangt, weil die Frauen sich verständnislosen Polizeibeamten und Richtern gegenübersehen.

So etwas liest man selten in den Medien, die mitlerweile hauptsächlich das politisch gewollte „Tittytainment“ produzieren, um die Konsumlaune nicht erlahmen zu lassen. Wir erfahren eher was über das rasante Wirtschaftswachstum in Indien, was dann – als ungewollte Nebenwirkung – wirkliche Hilfe für die Bewohner des Landes erlahmen läßt – so läßt es jedenfalls die Andherihilfe verlauten.

Hinsichtlich der Motive, die zur Ermordung von Frauen führen, haben wir zumindest zu Beginn dieses Jahrtausends auch mal einen Fall in Deutschland verurteilt, hier in der Indien-Newsletter dargestellt:

Gurdev S. lebt seit 15 Jahren in Deutschland und ist mit einer deutschen Frau verheiratet. Trotzdem scheint er im März 2001 die 28-jährige Amarjit K. in Punjab geheiratet zu haben. Ihre Mitgift bestand aus Goldschmuck, Fernsehgerät, Motorroller, Kühlschrank und Kleider für 15 Angehörige des Angeklagten (insgesamt ein Wert von ca. 25.000 Euro.) Dies war für den Angeklagten Gurdev S. nicht genug; er wollte mehr, mehr Schmuck und ein Auto. Um seine materiellen Forderungen durchzusetzen, zündete er seine Braut an.

Durchschnittliches Heiratsalter für indische Frauen: 15, 3 Jahre.

„Todesursache Mädchen“ ist mitlerweile nicht mehr nur ein indisches Problem, wie die Unicef 2004 berichtete:

22.11.04 Weltweit fehlen schätzungsweise 60 Millionen Frauen, weil weibliche Föten gezielt abgetrieben, Mädchen als Babys getötet oder so schlecht versorgt werden, dass sie nicht überleben. Hierauf weist UNICEF anlässlich der heutigen Konferenz „Mädchen stark machen“ in Berlin hin. Besonders ausgeprägt ist die Diskriminierung in Asien: Jedes Jahr sterben allein in Südasien rund eine Million Mädchen kurz nach der Geburt oder in den ersten Lebensjahren. In Pakistan wurden allein 2002 mehr als 450 Frauen bei so genannten Morden aus Ehre von ihrer eigenen Familie umgebracht. In Indien wird alle sechs Stunden eine jung verheiratete Frau lebendig verbrannt, totgeschlagen oder zum Selbstmord getrieben, weil sich die Familien über die Mitgift streiten. In Bangladesch wurden in den vergangenen vier Jahren mindestens 1.156 Mädchen und Frauen von Männern mit Batteriesäure überschüttet. In Südafrika sind Vergewaltigungen an der Tagesordnung, jede dritte Frau wird zum Opfer.

Bevor der „Fortschritt“ sich so richtig ausbreiten konnte, rief man noch: „Frauen und Kinder zuerst“. Frauen sind sehr wichtig für das Überleben eines Stammes. Ein Stamm mit sechzig Männern und einer Frau ist tot, ein Stamm mit einem Mann und sechzig Frauen kann super überleben. Hier scheint der „Fortschritt“ eine Umwertung natürlicher Werte vorgenommen zu haben.

Was wäre … wenn es diesen „Fortschritt“ gar nicht geben würde? Dann wäre unsere Strategie, vor dem Fernseher zu sitzen und uns täglich beruhigen zu lassen, das die Welt immer hübscher wird, nicht ganz so erfolgversprechend, vor allem, weil der Rückfall in die Barbarei irgendwann ja auch uns erreichen wird.

Ach, ich vergaß: Franz Müntefering hat die Barbarei ja schon zurückgebracht: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Der Glaube an den natürlichen Fortschritt der Menschheit ins Paradies hat natürlich was Bequemes. Man braucht nichts tun, die gebratenen Tauben fliegen einem einfach so in den Mund – jedenfalls könnte es einem im industriellen Schlaraffenland BRD so vorkommen.

Vielleicht irren wir aber in dieser Hinsicht, und die Aufklärung war nur ein kurzes Aufflackern der griechischen Philosophie und wir marschieren in ein neues dunkles Zeitalter hinein, das jeden Tag auch ein Stück näher an unsere Haustür heranrückt. Wir haben uns ja auch darin geirrt, das die Anbetung der Göttin Kali nicht mehr mit Menschenopfer verbunden ist, so berichtet jedenfalls der Spiegel:

Die indische Polizei hat zwei Kinderleichen gefunden. Die Menschenopfer sollten ersten Erkenntnissen zufolge die Göttin Kali gnädig stimmen. Die Ermittler waren zufällig auf den Ritualmord gestoßen.

Solch ein Ritualmord ist kein Einzelfall: Im März war ein indisches Ehepaar wegen der Ermordung fünf kleiner Jungen verurteilt worden. Ein Wunderheiler hatte der Frau eingeredet, nur mit Hilfe von Menschenopfern würde sie schwanger. Im April wurde in der Nähe eines Kali-Tempels in Ostindien die enthauptete Leiche eines Mannes gefunden. 2006 hatte im Norden des Landes ein Vater gestanden, seinen Sohn für die Hindu-Göttin Kali getötet zu haben.

Dabei waren wir Kolonialmächte doch so stolz, das wir (also, hier mal: die Briten) 1882 den letzten Thug gehängt hatten, siehe „Heiliges Indien„:

Die „Thugs“ existierten seit dem 7. Jahrhundert nach Christus. Der Stamm brachte der Göttin Kali Menschenopfer dar. Dabei wurden die männlichen Opfer (Frauen wurden verschont) ausgezogen und auf körperliche Unversehrtheit untersucht. Die „Thugs“ opferten niemals körperlich unversehrte Menschen. Nach der Überprüfung wurde das Opfer langsam stranguliert, damit die Göttin sich an den Qualen erfreuen konnte. Die „Thugs“ trieben im heutigen Uttar Pradesh und in Zentral Indien ihr Unwesen. Im Jahr 1861 verboten die Briten die Opferungen des Stammes. Nachdem ein britischer Offizier von dem Stamm umgebracht wurde, begannen die Briten mit der Ausrottung. Im Jahre 1882 wurde der letzte „Thug“ gehängt.

Wäre vielleicht besser gewesen, man hätte die Thugs am Leben gelassen. Da hatten die Frauen nichts zu befürchten. Dann brachten wir den Fortschritt – und alles wurde noch schlimmer.

Das alles eher schlimmer als besser wird, merkt man glaube ich auch in Deutschland. Das kleine bundesdeutsche Friedensparadies wurde – ironischerweise gerade durch die Partei, die aus der Friedensbewegung hervorgegangen ist – in eine neue Kolonialmacht verwandelt, die Demokratie ist auf dem besten Wege, den kaiserlichen Sozialstaat (ja, so alt ist der schon) in einen demokratischen Asozialstaat zu verwandeln, die Herrschaft des Volkes (res publica) weicht der Herrschaft der Verbände – was auch irgendwo demokratisch ist aber halt mehr Leute hinten runter fallen läßt.

Aber alle lächeln,  sind modebewußt,  freuen sich auf eine neue Folge ihrer Seifenoper und eine Woche voller Termine.




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