24.12.2011. Weihnachten. „Heilig Abend“. Zeit für eine Ansprache. Ist ja so üblich in dieser Zeit – für den Bundespräsidenten sind mir ja schon ein paar Worte eingefallen … er hat leider andere gewählt, was ich schade finde. Ich denke, die Bürger Europas hätten eine Chance verdient, zu erfahren, wo denn ihr Platz im „neuen amerikanischen Jahrhundert“ ist: auf der Straße, aber nicht als Demonstranten, sondern als Obdachlose. Als ich vor fast drei Jahren anfing – mehr ein Ergebnis von Zufällen und karnevalsbedingter Langeweile – einige Gedanken ins Netz zu stellen, war ich ein sehr optimistischer Mensch. Meine Ziele wären gewesen – wenn es überhaupt welche gegeben hätte – ein Lob der Armut zu schreiben, weil mich die durch staatliche Gewalt erzeugte Armut und Hoffnungslosigkeit bei den jungen, den alten, den kranken und den geistig nicht auf Hochleistung getrimmten (aber trotzdem oft sehr anständigen) Mitmenschen ankotzte. Demut und Bescheidenheit sind wichtige Bestandteile überlebensfähiger Gemeinschaften – überzeugend leben kann man eine solche Geisteshaltung dann, wenn man glücklich damit wird. Man sollte stolz darauf sein können, mit wenig auskommen zu können – Diogenes hat daraus eine Philosophie des Glücks gemacht.
Die Jahre zuvor hatte ich mir eine Medienabstinenz verordnet. Ich wußte jahrelang gar nicht, was in diesem Land geschieht – und auch nicht, was in der Welt geschah. So etwas kann schon von ganz allein glücklich machen … auch wenn es nicht sonderlich verantwortungsbewußt ist. Umso verwunderter war ich dann, als ich mir nach und nach wieder mehr Kenntnis der politischen Welt erarbeitete. „Das darf doch alles nicht wahr sein … “ war noch das Geringste, was ich mir dachte.
Anfangs war ich noch etwas optimistisch … das war ja auch noch 2009. Aus einer Laune heraus hatte ich mich auch mal der Regierungsverantwortung gestellt … und mal überlegt, was man anstoßen könnte, wenn man König von Deutschland wäre. Keine große Meisterleistung, dieses Gedankenexperiment, aber dafür fehlt mir auch die Zeit. Wie alle anderen Bundesbürger auch arbeite ich 14 Stunden am Tag … da bleibt wenig Zeit für Muße. Mir wäre es ja auch eher wichtig, dem Bürger verständlich zu machen, das ER der BOSS ist im Jahre 2011, das es in Zeiten wachsender feudalistischer Strukturen wieder Sinn macht, sich zu festen Gemeinschaften zusammenzuschließen … so wie man sich im Mittelalter zu freien Städten zusammenfand, um der Macht des Adels entfliehen zu können.
„Stadtluft macht frei“ – hieß es früher … heute denkt man eher daran, das Stadtluft den frühen Tod durch Abgase oder Nachbarn bringt, weshalb man – unbequemerweise – das Mittelalter nicht einfach kopieren kann.
Der Ruf nach mehr Gemeinschaft kommt auch aus der Wirtschaft, siehe Handelsblatt:
Auch der einstige BASF-Chef Jürgen Hambrecht beschäftigt sich mit diesen Themen: „Wir haben in Deutschland heute viele Krankheitssymptome, die daher kommen, dass viele gesellschaftliche Gruppen ihre eigenen Agenden fahren.“ Seine Forderung: „Wir brauchen eine Agenda Deutschland, ein gemeinsames Anpacken aller.“
Leider präsentieren sich die wirtschaftlichen Entwicklungen eher so, das man solche sinnvollen Appelle in Deutschland eher so verstehen kann, das die Galeerensklaven nun Vollgas geben sollen, weil der Manager Wasserski fahren will – aber generell zustimmen kann man diesen Thesen schon: es existieren eine Vielzahl von Agenden zur progressiv steigenden Privatisierung des Volksvermögens, aber keiner hat mehr einen Plan, wie das Schiff Detuschland denn noch weiter segeln können soll, wenn viele sich aus dem Segeltuch einfach nur feine Anzüge nähen.
Im Jahre 2011 haben wir zusätzlich eine neue Lektion gelernt. Selbst wenn sich das Volk – in Anlehnung an die Staatstheorie Hobbes – einen Kaiser wählen würden (oder einen erfolgreichen marxistischen Revolutionär hervorbrächte) wie es die Franzosen nach der Revolution taten (zuzutrauen wäre es den Deutschen … einen Österreicher hatten sie ja schon mal als Führer gewählt), so wüssten wir heute, was geschehen würde: unser Rating würde in den Sturzflug übergehen. Selbst wenn wir zu einer Ausnahmeregelung greifen würden, einer Regelung, die schon demokratische nordamerikanische Indianerstämme in Kriegszeiten als unumgänglich ansahen – einen Kriegshäuptling zu wählen, der das Notwendige anpackt, um den Stamm vor Übel zu bewahren und die Feinde von den eigenen Jagdgründen zu vertreiben – so würden wir umgehend von den Finanz- und Warenströmen abgeschnitten werden.
2011 sind wir politisch so ohnmächtig geworden, das selbst Imperatoren dem Souverän keinen Schutz mehr bieten können: das hat das EU-Theater deutlich genug demonstriert.
2005 würde in Deutschland eine ganze Volksgruppe stigmatisiert und zur Entwürdigung und Erniedrigung frei gegeben – obwohl sie genauso wie Politiker, Ärzte, Beamte und ARGE-Mitarbeiter vom Geld der Steuerzahler lebten (und das auf viel niedrigerem, bescheidenerem und ökologisch sinnvollerem Niveau), wurden sie zu „Parasiten“ und „Schmarotzern“ gemacht, deren Lebensberechtigungsscheine jederzeit entzogen werden können.
2011 wird der Vorgang wiederholt – nun mit einem ganzen europäischen Land, dem offiziellen Mutterland des demokratischen Gedankens. Wir pumpen Milliarden in ein Land, damit dort die Obdachlosigkeit steigt … und alle finden das normal.
Warum das so ist, kann uns vielleicht Georg Diez beantworten, der heute in Spiegel Gedanken zu Weihnachten veröffentlicht:
Weihnachten, das hätten wir also etabliert, ist das unmögliche Fest, das den Menschen in seiner grenzenlosen Willfährigkeit zeigt, all das zu tun, was von ihm erwartet wird, und das dann Glück zu nennen.
Deshalb lieben die Menschen Weihnachten so sehr.
Ein Artikel, der mir als Weihnachtsansprache des Präsidenten gefallen hätte, weil er den Blick auch auf unseren Alltag lenkt – einen Alltag, der voller Streß und Hetze ist, weil wir nicht nur zu Weihnachten tun müssen, was von uns erwartet wird. Karneval, Halloween, Ostern (die ersten Schmucksachen sah ich letzte Woche bei TEDI – alles für einen Euro): unser Leben wird zunehmen mehr durchgeplant – MAN sagt uns an allen Ecken und Enden, was MAN von uns erwartet … und wir rennen um unser Leben, um auch ja alles zu erfüllen.
Schon mal überlegt, WER diese NORMEN SETZT?
Die fallen nicht vom Himmel – hinter jedem TREND steckt ein kluger Kopf. Über die dürfen wir aber nicht reden … dann ganz schnell kam man – wenn man Mächtigen mit Geld, Verbindungen und Einfluss ABSICHTEN unterstellt, in eine finstere Asozialenecke gestellt werden: die Ecke der „Verschwörungstheoretiker“, die das endgültige AUS bedeutet. Wir schließen lieber von uns auf andere und denken, das auch die Superreichen von ihren vielen Termine zu Tode gehetzt werden.
Das ist allerdings ein verhängnisvoller Irrtum – wie ein Blick in deren Terminkalender zeigen würde, wenn man ihn nehmen dürfte. Ein Blick in die Klatschmagazine beim Friseur tut es aber auch.
Wer ist nun dieser MAN, der uns sagt, was wir tun sollen?
Ein großer, flacher Bildschirm, vor dem wir immer mehr Zeit verbringen – als Gruppe und als Individuum mit steigendem Alter – um ja nichts von dem zu verpassen, was MAN uns sagt. Dort zeigt man uns, was MAN anzieht, was MAN isst, wie MAN Kinder macht, erzieht und ihre Zimmer einrichtet, wie MAN seine Frisur zu gestalten hat, wo MAN Urlaub macht, wie MAN seine Freizeit gestaltet, immer mit dem kleinen Wink: „DAS MACHEN JETZT ALLE SO!“
Und wir machen freiwillig mit, weil wir das glauben, denn wir nicht mitmacht … bekommt ganz schnell „PROBLEME AM ARBEITSPLATZ“, die zur Aussortierung und Endlagerung bei der örtlichen ARGE (Neusprech: JOBCENTER) führen.
Und kaum einer denkt sich etwas dabei, das wir Jahr für Jahr mehr erleben, wie unsere ehedem auf Werten wie FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRÜDERLICHKEIT gegründete Gesellschaftsordnung mehr und mehr abschaffen zugunsten einer Gesellschaftsordnung, die ABHÄNGIGKEIT, FEUDALISMUS und immerwährende hasserfüllte FEINDSCHAFT also neue Leitwerte implantiert.
Natürlich glauben wir daran, das der ZUFALL diese gleichlautenden Botschaften auf die Mattscheibe bringt. ZUFALL – das haben die Naturwissenschaften bewiesen – ist der Motor aller Entwicklung … und weil man für die Verbreitung dieser Botschaft gut bezahlte Jobs bekommt (den den guten alten „Beruf“ 2011 vollständig verdrängt haben), ist sie auch in allen Köpfen präsent und wird automatisch auf alle Lebensbereiche übertragen. Vorbei die Zeiten, in denen man noch wissen durfte, das ein guter Führer nichts dem Zufall überlässt – weshalb die Superreichen viel Geld für einen großen Beraterstab ausgeben, während wir ratlos vor dem Fernseher sitzen und das alles beim besten Willen nicht mehr sortiert bekommen, ohne finsterste irrationale Kräfte wirken zu sehen.
Deshalb: besser gar nicht erst sortieren, sondern besser funktionieren und machen, was einem gesagt wird. Das das Unsinn ist, wußte schon jener Diogenes, von dem ich zu Anfang sprach:
Für Diogenes ist der Mensch Sklave seiner eigenen künstlichen Bedürfnisse. Dies sei eine Folge der vielen Hilfsmittel, die er sich ersonnen hatte, um ein möglichst bequemes und angenehmes Leben zu führen. Bequemlichkeit ist demnach für Diogenes der Ursprung von künstlichen Bedürfnissen und diese seien schlecht. Der Irrtum der Menschen sei es, Bequemlichkeit mit Freiheit zu verwechseln. Denn die Suche nach zivilisatorischen Errungenschaften, nach möglichst genussvollem Leben, bedeutet in der Konsequenz auch die Sorge um den Verlust des Errungenen. Damit führt ein bequemes Leben zur Unfreiheit des Menschen.
So etwas nimmt man auch heute wahr:
Peter Sloterdijk fasst die Kritik mit heutigen Begriffen zusammen: „Ideale, Pflichtideen, Erlösungsversprechen, Hoffnungen auf Unsterblichkeit, Ziele des Ehrgeizes, Machtpositionen, Karrieren, Künste, Reichtümer. Aus kynischer Sicht sind das alles Kompensationen für etwas, was sich ein Diogenes erst gar nicht rauben läßt: Freiheit, Bewußtheit, Freude am Leben.“
So gesehen arbeiten wir alle mit Hochdruck daran, uns unsere Freiheit stehlen zu lassen. Was Diogenes von unserer dekadenten, entarteten Suizid- und Schmarotzerkultur halten würde, kann sich jeder selbst denken:
Diogenes predigte die Bedürfnislosigkeit. Er pflegte zu sagen, „es sei göttlich, nichts zu bedürfen, und gottähnlich, nur wenig nötig zu haben.“ Denn wer nichts bedarf, der kann auch nichts verlieren, der muss sich auch keine Sorgen um Verlust machen, der kann einfach leben. Doch sollte diese Art der Bedürfnislosigkeit nicht falsch verstanden werden. Es handelt sich hier nicht um einen Asketismus der Selbstgeißelung und der Demut, wie ihn beispielsweise das Christentum später gelegentlich praktizierte. Diogenes praktiziert Bedürfnislosigkeit weder um ihrer selbst, noch um eines anderen Menschen oder eines Gottes Willen.
Diese Freiheit, diese Bewußtheit, diese Freude am Leben müssen wir uns erst einmal wieder zurückerobern – auch mit Gewalt. In erster Linie bedarf es hier der Gewalt gegen jene Stimmen in uns selbst, die die Marketingabteilungen der Großkonzerne in uns hineingelegt haben … jenes überwältigende Über-Ich der Werbegurus, das wir täglich mehrere Stunden lang mit neuen Updates füllen. Dann Bedarf es der Gewalt gegen das Außen, wo wir alles unternehmen sollten, jenen Botschaften zu entgehen.
Und dann … als freie Menschen … können wir anfangen, aus den Trümmern der Konzernwirtschaft wieder eine Marktwirtschaft aufzubauen, in der ARBEIT mehr Wert hat als virtuelles BUCHGELD.
Ansonsten – so fürchte ich gerade – wird uns nichts anderes übrig bleiben, als zu beten: unser tägliches Elend gib uns heute …
Und ich bin mir sicher, das es in den nächsten Tagen wieder eine ganze Menge Elend geben wird, nachdem unterm Baum entschieden wurde, wer jetzt der Sieger ist.
Den Lesern meiner inzwischen viel zu langen Artikeln möchte ich trotzdem Dank sagen für die Geduld mit meinen Wortschwällen und ein frohes Fest wünschen – und vor allem: besinnliche Tage. Dazu kann man den Großkonsumtag vielleicht nutzen … sich darauf zu besinnen, das es auch anders gehen könnte, wie zum Beispiel bei jenem denkwürdigen „Weihnachtsfrieden“ von 1914, an den aktuell die Welt erinnert:
Es war Krieg, aber keiner wollte schießen: An Weihnachten 1914 kamen mitten im 1. Weltkrieg die Gegner aus den Schützengräben und feierten gemeinsam.
Wie, fragt man sich, wäre die Geschichte verlaufen, wenn die Soldaten einfach weitergemacht hätten mit Pudding essen und Zigaretten rauchen, mit Frieden schließen? Die meisten Offiziere billigten zunächst die Verbrüderungen. Doch an einigen Abschnitten dauerten sie zu lang, teilweise bis in den Januar hinein. Die Angst der Befehlshaber, die Soldaten würden gar nicht mehr kämpfen, wuchs.
Spannende Gedanken, oder?
Wir wäre unsere Geschichte 2011 weiter verlaufen, wenn wir alle aus unseren Gräben, durch die wir Tag für Tag getrieben werden, herauskommen wären und mit unseren Mitmenschen Weihnachtslieder gesungen hätten?
Was zu erwarten wäre? Was auch damals geschah:
Drastische Disziplinarmaßnahmen wurden angedroht. Es musste weitergehen. Bisweilen soll es zu Szenen gekommen sein, in denen die Soldaten auf die Schießbefehle nicht reagiert hätten. Kurze Momente des Widerstands, der bald gebrochen wurde.
ES MUSSTE WEITERGEHEN!
Das würden wir heute auch zu hören bekommen.
Aber ehrlich: warum sollte ein Prozess, in dem Menschen, die sich nicht kennen aber gut zusammen feiern können, sich gegenseitig aufs Übelste massakrieren, weitergehen müssen?
Warum sollte ein Prozess, der die Erde mit tödlicher Sicherheit in einen plastikverseuchten, lebensfeindlichen Müllplaneten verwandelt, einfach so weitergehen müssen?
Aus Faulheit, Bequemlichkeit und Anpassungswahn – was sonst?
Vielleicht hilft etwas Besinnung, uns klar zu machen, das Weihnachten 2011 unsere allerletzte Chance ist.
Dann hätte dieses Fest doch wieder einmal den Sinn, den es eigentlich haben sollte – oder?