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Akupunktur, Weltbild und Nebenwirkungen: Gorleben, Ausschwitz und Hartz IV

Vielleicht war ja schon mal jemand beim niedergelassenen Arzt, im Krankenhaus oder in der Universitätsklinik und hat bemerkt, das da seit einigen Jahren Reklamschilder hängen, die – mit unterschiedlichen Worten – immer dasselbe sagen: hier ist jetzt auch Akupunktur im Angebot.

Akupunktur ist eine Behandlungsmethode aus dem fernen, vorkommunistischen China – sie gehört zu den Elementen, die als „antisozialistische Umtriebe“ verboten wurden … dann aber während der Kulturrevolution wiederentdeckt wurden, weil man die  „Barfuß-Ärzte“ schlichtweg zur Stabilisierung der Mangelkultur brauchte.  So haben sie überlebt.

Die Ursprünge der Akupunktur reichen weit zurück, wie Silja Thiemann berichtet:

Entstanden ist die Akupunktur vor über 2000 Jahren in der schamanistischen Tradition in China. Diese Art der Erfahrungsheilkunde rief hilfreiche Geister, um damit böse Dämonen (chin. Gui) zu vertreiben. Heute kann man nur vermuten, zu welchem Zwecke Nadeln aus Stein, Horn und Knochen eingesetzt wurden, sei es zum »Erstechen der eingedrungenen Dämonen« im Körper oder möglicherweise mit dem Ziel, Öffnungen in der Haut zu hinterlassen, durch die dann die Geister, die einen Kranken besessen hatten, entweichen sollten.

Der Konfuzianismus führte das Konzept des Qi (veraltete Schreibweise: Chi) statt dem Glauben an böse Geister in die Heilkunde ein. Das ganze Universum folgt einer harmonischen Ordnung, die auf einem Gleichgewicht zwischen polaren Kräften beruht (Yin und Yang). Von den Menschen wird verlangt, dass sie sich durch tugendhaftes Verhalten in diese Ordnung einfügen. Krankheit entsteht durch Fehlverhalten jenseits moralischer Korrektheit.

Man ersticht also böse Geister. Das ist im Prinzip nicht schlecht, weil böse Geister üble Schmerzen hervorrufen können. Oder aber man manipuliert den Energiekörper des Menschen. Bringt ihn wieder ins Gleichgewicht. Auch nicht schlecht.

Was macht aber ein deutscher Arzt, wenn er Akupunkturnadeln setzt? Nun, der Zyniker würde sagen: er produziert was zum Abrechnen. Manche Kassen ersetzen Akupunktur.

Nun hatte ich persönlich beruflich viel mit Ärzten zu tun und kann zumindet in diesem Punkte für die meisten widersprechen: viele Ärzte schwören drauf, das es wirkt – und entwicklen paralell dazu (und meistens insgeheim) ein anderes Verständnis für „Welt“.

Das findet man bei Ärzten nicht selten. Einerseits sind sie die Krone der Naturwissenschaft (oder halten sich dafür), weil sie alle Naturwissenschaften zu einer heiligen weil heilenden Kunst vereinen … andererseits begegnet ihnen täglich echtes Leben.  Sie haben Erfahrungen zu verdauen, die  durch die engen Grenzen der materialistischen Naturwissenschaft nicht erklärbar sind.  Der böse Krebs, der durch Gedankenkraft verschwindet … innerhalb eines Tages. Reanimierte Menschen, die gestorben waren und trotzdem Gespräche im Nachbarzimmer mitbekamen. Schwerste Gehirnverletzungen, die trotzdem keinerlei Einfluß auf das Denkvermögen hatten.

Als Arzt steht man schnell im Spannungsfeld zwischen Erfahrung und Dogma, zwischen der Wirklichkeit und dem engen begrenzten naturwissenschaftlichen Weltbild (und der nicht zu unterschätzenden Gefahr, bei dem Verstoß gegen herrschende Dogmen seine Zulassung zu verlieren). Manche Ärzte verstehen sich auch als Anwälte des Weltbildes … und manche als Anwälte der Menschen.  So müssen sie sich dann mit dem Qi auseinandersetzen, das man – um ein Beispiel von Wikipedia zu nehmen – wie folgt beschreiben kann:

Der chinesische Begriff , gleichbedeutend mit Ch’i (chin. 氣 / 气, W.-G. Ch’i, [ˈtʃiː]), in Japan als Ki (Kanji: 気) und in Korea als Gi bekannt, bedeutet Energie, Atem oder Fluidum, kann aber wörtlich übersetzt auch Luft, Dampf, Hauch, Äther sowie Temperament, Kraft oder Atmosphäre bedeuten. Außerdem bezeichnet Qì die Emotionen des Menschen und nach moderner daoistischer Auffassung steht es auch für die Tätigkeit des neurohormonalen Systems.

Qì ist ein zentraler Begriff des Daoismus. Der Begriff findet sich bereits im 42. Kapitel des Tao Te King; der daoistische Philosoph Zhuangzi beschrieb den Kosmos aus Qì bestehend. Darüber hinaus ist die Vorstellung vom Qì die ideelle Grundlage der traditionellen chinesischen Medizin (TCM).

Die Vorstellung vom Qì prägt bis heute das Weltverständnis vieler Menschen in Asien und zunehmend auch im Westen und hat Bedeutung für verschiedene Religionen. In adaptierter Form findet das mit dem Begriff verbundene Konzept seit dem 19. Jahrhundert auch Eingang in das westliche Denken, insbesondere als Bestandteil esoterischer Lehren.

Die Besonderheit am Wikipedia-Artikel ist, das sie auch auf die Universalität des Konzeptes hinweisen, was dem Arzt wiederum zusätzliche Sicherheit gibt, seinen Patienten Nutzen über das dogmatisch Erlaubte zukommen zu lassen.

  • Prana, die indische Konzeption,
  • Lung, der tibetische Ausdruck
  • Mana, in den kulturellen und religiösen Überzeugungen der Völker Polynesiens
  • Bif oder Wurd, die germanische Konzeption
  • Pneuma, antike griechische Auffassung unter dem Blickwinkel der Gesamtheit des Qì
  • Baraka, klassische arabische Auffassung; ist stark an Orte und teilweise an Personen und deren Heilkraft gebunden

Die germanische Konzeption findet man auch als Wyrd, ich denke, das man das jüdische Prinzip des Ruach ebenfalls hier einsortieren kann. Eine Wirklichkeits- oder Wahrheitsprinzip das sich quer durch alle Kulturen zieht, dessen Wirksamkeit Milliarden von Menschen überzeugt und das uns – den westlichen, aufgeklärten Menschen – als engstirnigen, kleinen Sektierer einsam am Rande stehen läßt. Warum eigentlich?

Da der Glaube an das Qì und seine Natur nicht auf rationalen, logischen Schlüssen beruht, wird die Idee vom Qì von naturwissenschaftlich denkenden Menschen oft als vorkartesianisches Denksystem kritisiert. Kritisiert wird dann, dass mit Bezug auf das „Qì“ willkürliche Aussagen getroffen werden können, die keine objektive Überprüfung oder Widerlegung anhand der messbaren Realität zulassen. Die Aussagen des Konzeptes sind also weder verifizier- noch falsifizierbar und somit per definitionem „unwissenschaftlich“.

Leider wissen Naturwissenschaftler oft selber nicht, auf welchem Boden sie stehen, wenn sie ihre Urteile fällen – was nicht heißt, das sie sich nicht um die Geschlossenheit ihres theoretischen Lehrsystems bemühen, genauso wie es auch die großen Kirchen oder politischen Strömungen machen.  Die Reduktion des Menschen auf sein Denken schließt sein Fühlen als wirklichkeitsbeschreibende Kategorie aus – und Vernunft wäre an sich in der Lage, das bei der Theorienbildung zu berücksichtigen … wenn es bei der Theorienbildung nicht noch um etwas anderes gehen würde.  Der Ausschluß der Emotionen bei der Gestaltung von Wirklichkeitsmodellen hat auch Nebenwirkungen, die nicht von schlechten Eltern sind … die Vernunft als Solche hat an sich nichts gegen Genozid, sie zeigt auf Wunsch nur, wie man ihn preiswert und effektiv durchführen kann.

Das cartesianische Modell war in Folge gezielt gegen die Kirche gerichtet, hatte aber auch einen weiteren Folgeaspekt:  der westliche Herrenmensch bedurfte einer klaren theoretischen Grundlage, die den Kolonialvölkern seine Überlegenheit beweist, eine Botschaft, die diese wiederum bis zum ersten Weltkrieg geschluckt hatten – dann wurde klar, das die westliche Kultur genauso barbarisch sein kann wie der letzte Stamm im hintersten Winkel des britischen Empire, das aber die technischen Mittel, die mitlerweile vorhanden waren, aus den vergleichsweise harmlosen Stammeskriegen (man denke nur an die Tradition des Coup-Stabes der Sioux)  fürchterliche Massaker machten.

Ein Volk, das weniger cartesianisch dachte und mehr taoistisch, hatte das Schwarzpulver schon lange vor dem Westen im Gebrauch … hatte aber mehr die Einheit des Menschen mit seiner Umwelt im Blick und weniger die Optimierung des Schwarzpulvers und seiner vielfältigen Möglichkeiten ohne Rücksicht auf die Nebenwirkungen, die sich durch diesen Weg ergeben. Das Ergebnis war … die Möglichkeit der völligen Auslöschung allen Lebens auf diesem Planeten durch Atomkriege … was nun nicht unvernünftig wäre, da eine Kultur, die ihre eigene Vernichtung vorantreibt, diese Vernichtung auch verdient hat.

Ich denke, Akupunktur zeigt auf, das wir noch viel von anderen Kulturen lernen könnten … zum Beispiel Überleben. Dafür müßten wir aktzeptieren, das unser Weltbild möglicherweise zu eng ist, was wiederum einerseits unseren immer noch vorhandenen „Weißer-Mann=Herrenmensch“-Anspruch in Gefahr bringt, andererseits aber die Machtansprüche der westlichen Kirchen wieder ins Unermeßliche steigen lassen würde … wobei ich denke, das der Kampf zwischen Kirche und der Gegenkirche Naturwissenschaft gerade letztere sehr behindert, weil er ihr die Strukturen der Ersteren aufgezwungen hat – so wie die Kirche durch diesen Kampf den Papst erzeugte, erzeugte die Naturwissenschaft ein enges Dogma, das vor allem eins zum Ziel hatte: die Kirche aus der Wirklichkeitsbeschreibung herauszudrängen.

Das Ergebnis dieses Krieges?

Auschwitz, Hartz IV und Gorleben. All diese Erscheinungen (und die vielen anderen „Sachzwänge“) sind Konsequenzen einer besonderen Art zu denken. Wenn wir die Erscheinungen ändern wollen, dann sollten wir zuerst das Denken ändern – und dabei kann es helfen, nicht nur willkürlich Löcher in sich stechen zu lassen, sondern sich auch mit dem Weltbild zu beschäftigen, das einem erklärt, warum man diese Löcher jetzt gerade da und nicht woanders hineinsticht.

Allerdings ist hier Vorsicht angesagt: das Weltbild das der Akupunktur zugrundeliegt ist zutiefst esoterisch – und damit ist man bei manchen Menschen sofort ein Neonazi. Aber man muß sich ja nicht immer zwangsläufig allen Urteilen der „Generation Doof“ unterwerfen.

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