Weil die Regierung essenzielle menschliche Bedürfnisse mit Füßen tritt, steuert Deutschland in den dunkelsten Winter seit Langem.
Ein Standpunkt von Roland Rottenfußer
Es ist bedauerlich, dass so viele Berufene zum derzeitigen massiven Angriff auf die Freiheit schweigen. Künstler, Intellektuelle, Oppositionspolitiker, Juristen … Die Psychologen schweigen nicht, sie reden sogar ziemlich viel. Allerdings oft auch das Falsche. Im Prinzip rät die eingebettete Psychotherapie dieser Tage den Menschen zur Anpassung an ein krankes System als Weg, gesund zu werden. Das ist fatal, denn selbst dem „Mainstream“ ist mittlerweile aufgefallen, dass wir in eine massive Epidemie psychischer Störungen hineinlaufen. Vor allem betrifft dies Depressionen. Diese Entwicklung ist logisch, sie dürfte im Zuge der kurzen Tage und des Winterwetters sowie sich verschärfender „Corona-Maßnahmen“ eskalieren. Was zu wenig gesehen wird: Diese Depressionen können auch die Folge nicht ausgelebter Wutgefühle gegen die Unterdrücker sein, die sich als Autoaggression gegen den Unterdrückten selbst wenden. Den Betroffenen in dieser Situation zu raten, sich zu fügen und ihre Gefühle „bei sich“ zu behalten, könnte das Problem verschärfen. Solche Psychologie ist zwar bequem für die Mächtigen, grenzt jedoch an Verrat an den Kranken.
Bild li.: „Dem Hipster hängt der Zwickel tief“ (cc by Jacques Prilleau) / Bild re.: „Next exit to illusion“ (cc by Parkwaechter)
„Radikal anders: Die Kampagne „Grow up“ der Berliner Agentur Antoni für die Kompaktwagenfamilien von Mercedes-Benz zeigt eine völlig neue Tonalität: Menschlich, spontan, jung.“ (Quelle: wuv.de)
Spontan, jung, radikal anders … sogar menschlich – na wer hätte sowas vermutet? Wer bisher gedacht hat, dass in einem Mercedes nur fossile ältere Herren mit braunkariertem Tschako-Hut sitzen, mit dickem Aktien-Portfolio und Dackel auf der Rückbank, der wird durch die neue „Grow up“-Kampagne eines Besseren belehrt.
In der Tat sind die neuen Mercedes-Werbespots radikal anders. Ein erster Klick führt mich zu einer Offroad-Sequenz in eine US Wüste (siehe YouTube), wo sich ein junger, spontaner Mann mit seiner jungen, spontanen Frau über ihr offensichtlich ebenfalls in einem Anflug von Spontanität gezeugtes Kind namens „Izzy“ in die Haare kommen. Nachdem Izzys zweiter Socken verschwunden ist, reißen dem jungen Paar die Nerven. Die Frau geifert mit einem zu allem bereiten, hasserfüllten Gesichtsausruck um sich, bei dem jedem Mann Angst und Bange werden kann, während der Mann seiner Frau vorwirft, eine Schlampe zu sein. – Alltagsszenen aus dem Leben eines Pärchens von nebenan, das dort angekommen ist, wo es von Schule und Medien hindressiert wurde: am Boden der nackten Realität und des Pragmatismus. Der Zornesausbruch der Frau wird schließlich mit dem Vorwurf ihres Mannes: „Du schläfst mit vielen anderen Männern“ jäh zum Verstummen gebracht. Nach dieser Aussage und dem darauffolgenden Schweigen im Walde ist klar, dass die Frau zumindest noch einen sexuellen Marktwert besitzt und deshalb vermutlich nicht sofort zum Alteisen geworfen wird.
In einer Zeit, in der man sich nicht sicher sein kann, was fake und was echt ist, dachte ich zunächst, mit diesem Video will jemand die Mercedes-Werbung satirisch auf die Schaufel nehmen und zeigen, dass Luxus-Produkte unglücklich machen und zu Streit führen. Wie auch immer, in einer informellen Erklärung zur neuen Mercedes-Kampagne erfuhr ich schließlich, dass hierbei junge Leute im Spannungsfeld ihres hedonistischen Lebensstils und „selbstverständlichem Luxus“ gezeigt werden sollen. Was man in den „Grow up“ (übersetzt: „Erwachsenwerden“) – Spots zu sehen bekommt, ist also nichts anderes als eine Visualisierung von dem, was Neil Postman als „adult-childs“ bezeichnet und was auch der Psychologe Götz Eisenberg beschrieben hat. In seinem Buch „Zwischen Amok und Alzheimer – Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ sieht Eisenberg zwischen heutigen Erwachsenen und Säuglingen nur noch graduelle Unterschiede:
„Die Konsumgesellschaft bringt einen gefräßigen, ungeduldigen, auf seinen Spaß bedachten ewigen Säugling hervor, der sich genüsslich die Flasche geben lässt und für den die kleinste Verzichtsleistung zur Quelle eines tiefen Unbehagens oder einer immensen Wut werden kann.“
Wen wundert es da, dass das junge Pärchen, das selbst noch am Konsumschnuller nuckeln und „einfach nur Spaß haben“ will, mit hoffnungsloser Überforderung reagiert, wenn nun ein Kind da ist, das Bedürfnisse nach Empathie und Fürsorge anmeldet? Immerhin gibt es aber im hedonistischen Scherbenhaufen des jungen, spontanen Paares eine stabile Konstante: den Mercedes-Familienwagen, in dessen blitzblank geputztem Interieur indes das gemeinsam gezeugte Kind wartet, bis das emotionale Blitzgewitter vorbei ist.
Obwohl der Werbespot in mir bisher noch keine spürbare Resonanz, geschweige denn einen Kaufimpuls erweckt hat, so steigt beim Anblick von Izzy dann doch eine gewisse Traurigkeit auf. Das arme Kind, das – wie so viele Kinder heute – in einer menschlich verödeten und neoliberal vergletscherten Kinderstube aufwachsen muss, tut mir leid. Es wird wohl demnächst mit einem Tablet und einem Smartphone der neuesten Generation versorgt und kaltgestellt werden. „Digitale Kindesaussetzung“ nennt Götz Eisenberg dieses Schicksal, für das es im Strafgesetzbuch noch keinen Tatbestand gibt.
Auch am Namen bleibe ich hängen. Warum nennen die Eltern ihr Kind „Izzy“? Das mag jetzt subjektiv sein, aber für mich klingt dieser Name eher nach einem Ding als nach einem Buben oder einem Mädchen. Spontane Assoziationen mit Iggy Pop oder einer Pop-Art Skulptur von Jeff Koons tauchen auf. Also ich persönlich würde den Namen „Izzy“ allenfalls einem kleinen Drachen verpassen, aber nicht einem Kind, das ich liebe. Einen Mausklick weiter klärt sich das Rätsel für mich bereits auf. – Ein weiterer „Grow up“-Spot mit Untertitel „Sei du selbst“ zeigt die zum Heldenepos stilisierte Lebensgeschichte des Transgender-Models Benjamin Melzer (siehe YouTube), der als Frau großgeworden, dann aber zur Überzeugung gekommen ist, dass er doch eher ein Mann sei und im falschen Körper stecke. Dank der Möglichkeiten von Pharma und Medizin 4.0 wurde dieses Problem nun behoben. In einer Vielzahl an Operationen wurde der ehemaligen Frau sogar ein männliches Gemächt aufgebaut, das durch eine im Hodensack integrierte Pumpe erigierbar und per Auslassventil wieder erschlaffbar ist. Mit funkelndem Jack Wolfskin-Blick berichtet der sportliche Melzer unter abendlichem Neon-Straßenlicht, dass er nun in seinem Leben „angekommen“ sei. Die medizinische Tortur war indes nicht umsonst – die Lifestyle-Männerzeitschrift „Men`s Health“ hat ihn bereits unter Vertrag genommen und ihn als erstes Transgender-Model auf der Titelseite posieren lassen (siehe Stern). Seit dieser Erfolgsstory kokettieren nicht nur Melzers 100.000 Twitter-Follower mit dem Gedanken, ob das Leben im Körper des anderen Geschlechts womöglich doch mehr Spaß macht als im von der Natur angeborenen Vehikel. Ein Instagram-Nutzer postet: „Du bist meine Inspiration. Ich hoffe, dass ich eines Tages wie du sein werde.“
Die Eltern von Izzy wollen ihrem Kind diesbezüglich scheinbar alle Möglichkeiten offen lassen und gaben ihm wohlweislich einen politisch korrekten Namen. Mit dem neutra-artigen „Izzy“ kann das Kind später einmal nahtlos von einem Geschlecht zum anderen switchen, ohne dass sich seine Freunde oder die Firmenkollegen an einen neuen Vornamen gewöhnen müssen so wie bei Yvonne Melzer, die plötzlich als Benjamin Ryan figurierte.
Wie auch immer, ich will das triste (Großstadt-)Wüsten-Drama und das Transgender-Epos hinter mir lassen und klicke weiter. Und siehe da: Im nächsten „Grow up“-Video geht es schon etwas lustiger zu. Während Dirk C. Fleck angesichts des drohenden ökologischen Kollaps und allgemeinmenschlichen Abgrundes, an dem wir heute stehen, bei seiner bekannt gewordenen G7-Rede vor Betroffenheit fast die Stimme versagt (siehe YouTube), beweist die „Grow up“-Kampagne, dass man nicht so zimperlich sein muss, sondern stattdessen einfach abhängen und seinen Spaß haben kann:
https://www.facebook.com/mercedesbenzdeutschland/videos/10213653093112731/
Angesichts eines solch umwerfend professionellen Werbespots, der das junge, spontane Lebensgefühl von Generation 4.0 widerspiegelt, wird es wohl niemand als sexistisch empfinden, wenn zwischen den Auto- und Spaßsequenzen ein Mann auf Hüfthöhe einer danebenstehenden Frau einen Benzinzapfhahn in die Tanköffnung eines Autos einführt und gleich darauffolgend der Hahn eines abtropfenden Kaffeeautomaten eingeblendet wird, aus dem sich eine cremige Melange ergießt (siehe Minute 0:18).
Jedenfalls kann man sich lebhaft vorstellen, wie die Werbefritzen abends in der Kantine gelacht haben müssen – über die „subliminals“, die sie hier in professioneller Manier in die Werbebotschaft hineingemogelt haben und die das beworbene Blechprodukt genau mit dem verquicken, was beim Endkunden hängen bleibt: elementare Triebe und Emotionen. Indem man also den Hypothalamus direkt mit dem Impetus der Zehennägel verknüpft, kann man das normale menschliche Denken und Fühlen bzw. den Herzbereich des Menschen umgehen und trotzdem eine maximal nachhaltige Prägung erzielen. Auf diese Weise bleiben die Werbungsinhalte sogar bei schweren ADHS-Patienten und Smombies hängen. Und das ist heute eine wirklich respektable Leistung.
Der Spot wartet überdies mit perfekt emotionsheischendem Sounddesign mit lasziver Musikuntermalung auf, die einem karriereaffinen Hipster bei Sonnenuntergangsstimmung noch den letzten Kick geben, um einen ungesicherten Bungeejump in den Grand Canyon zu wagen. In einer dunklen Schlucht, aus der solch betörende Musik heraufschallt, befindet sich bestimmt ein Paradies, wo auf den, den es beim Aufprall zerbröselt, ein futuristisches Freiluftbordell wartet, in dem am gut beschatteten Firmament schokoglasierte Schweine kreisen und sich freiwillig zu leckeren Schnitzeln filetieren, sobald der Hipster einmal kurz übers Matschphone wischt und ein paar Bitcoins abbucht.
Das wäre ja auch gelacht, wenn sich der Werbeaufwand nicht rechnet – wenn ein gutbezahltes und mit allem nur erdenklichen technischen Equipment ausgestattetes Team an Profis mehrere Wochen lang an endlosem Videomaterial arbeitet, aus dem man dann die paar glücksstrahlendsten Momente aus den Gesichtern der oftmals depressiven und tablettensüchtigen Schauspieler herausschneidet und zu einem kurzen Spot an Emotionen kondensiert, bei dem ein waschechter Hipster Gänsehaut am Rücken bekommt und mit offenem Mund nur noch vier Worte stammeln kann: „Ich auch will habähn …!“
Jedenfalls muss man den Grad an Perfektion, den Werbung heute erreicht hat, richtiggehend bewundern. Wie hier auf glänzende Weise als Lebensideal vorgegaukelt wird, was eigentlich vollkommener Nihilismus und Grausamkeit ist und jeden, der dem folgt, unweigerlich in die Depression führen wird, ist einfach phänomenal.
Damit jetzt niemand glaubt, ich behaupte, dass die Marketingfritzen von Antoni & Co. gezielt an der Gehirnerweichung einer ganzen Generation arbeiten. Das wäre ja eine Verschwörungstheorie und geht daher gar nicht. Nein, ich halte mich da lieber ganz orthodox an die wissenschaftlich anerkannte Theorie der „invisible hand of the market“ – der unsichtbaren Hand des Marktes, die dafür sorgt, dass jeder Mensch, der keine eigenständigen Lebensideale formuliert, ganz automatisch dazu geführt wird, genau das zu machen, was der Markt bzw. der Zeitgeist fordert (von Noam Chomsky bezeichnet als „notwendige Illusionen und Lügen“, mithilfe derer die Bevölkerung „unterhalten“ und „zu apathischen, autoritätsgläubigen, kaufsüchtigen wie desinteressierten Konsumidioten formiert wird“).
So raffiniert diese Chomsky’sche Unter-Haltung auch ist, sie kann in Wirklichkeit nur bei jenen Menschen greifen, die lediglich die Aussprüche von Dieter Bohlen und Sido kennen, aber die noch nie eine Zeile von Sokrates oder Aristoteles gelesen haben, z.B. dessen Wahlspruch, mit dem er lächelnd über die Märkte flaniert ist:
„Was es alles gibt, was ich nicht brauche …“
Mit dieser Prise Sokrates wären sie immun gegen Lifestyle-Werbekampagnen, die Chomsky als „notwendige Illusionen bzw. Lügen“ charakterisiert. Die kommerziellen Hochseefischer würden schimpfen und fluchen, aber solche Menschen würden ihnen trotz millionenschwerem Jagdbudget, HiTech-Radar und raffiniertester Fangmaschinerie einfach nicht mehr ins Netz gehen.
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zum Weiterlesen:
„Grow up“- Teil 1: Jetzt weiß ich endlich, was ein Hipster ist
„Grow up“- Teil 2: MamaPapaBaby Hipster
„Grow up“- Teil 3: Dem Hipster hängt der Zwickel tief
Endzeit-Poesie 4.0: Die Entscheidung – Das Mingle-Dasein von Generation Tinder
Foto: Rat Snake CC BY-SA 4.0/Bob Warrick (Quellenlink)
Nach Einschätzung von Peter Sloterdijk ist heute „der Lügenäther so dicht wie seit den Tagen des Kalten Kriegs nicht mehr“, dem Journalismus attestiert er „Verwahrlosung“ und „zügellose Parteinahme“. Sloterdijk: „Die angestellten Meinungsäußerer werden für Sich-Gehen-Lassen bezahlt, und sie nehmen den Job an.“ (siehe Interview)
Auch John Doe, der Aufdecker der Panama Papers, findet in einer jüngsten Stellungnahme gegenüber den Medien wenig schmeichelhafte Worte (siehe Süddeutsche):
„Die Medien haben versagt. Viele Fernsehanstalten sind nur noch lächerliche Abziehbilder ihrer selbst, und unter Milliardären scheint es neuerdings in Mode gekommen zu sein, Zeitungen aufzukaufen und so eine ernsthafte Berichterstattung über die Reichen und Superreichen zu verhindern. (…)
Die Auswirkungen dieses vielfachen Versagens führen zum ethischen Niedergang unserer Gesellschaft und letztlich zu einem neuen System, das wir noch Kapitalismus nennen, das aber in Wahrheit ökonomisches Sklaventum ist. In diesem System – unserem System – wissen die Sklaven weder, dass sie Sklaven sind, noch kennen sie ihre Herren, die in einer Parallelwelt leben, und die unsichtbaren Ketten sorgfältig unter einem Haufen unverständlicher Gesetzestexte verstecken. Das weltweite Schadensausmaß sollte uns alle wachrütteln. (…)
Damals war militärische Macht notwendig, um die Menschen zu unterdrücken, während es heute genauso effektiv oder noch effektiver ist, die Menschen vom Zugang zu Informationen abzuschneiden – auch weil das im Verborgenen geschieht.“
Da Lüge für das Innere des Menschen in Wirklichkeit genauso giftig ist wie Zyankali, wundert es nicht, wenn ab und zu einem Journalisten, der ja mit seinem Beruf an sich angetreten ist um der Wahrheit und Aufklärung zu dienen, der Kragen platzt. So wie seinerzeit dem Chefredakteur der New York Times, John Swinton, als auf einem Festbankett ehrende Worte über die „unabhängige Presse“ gesprochen wurden. Swinton dazu erzürnt:
„Wenn ich mir erlaubte, meine ehrliche Meinung in einer der Papierausgaben erscheinen zu lassen, dann würde ich binnen 24 Stunden meine Beschäftigung verlieren. Das Geschäft der Journalisten ist, die Wahrheit zu zerstören, schlankweg zu lügen, die Wahrheit zu pervertieren, sie zu morden, zu Füßen des Mammons zu legen und sein Land und die menschliche Rasse zu verkaufen zum Zweck des täglichen Broterwerbs. … Wir sind Werkzeuge und Vasallen von reichen Männern hinter der Szene. Wir sind Marionetten. Sie ziehen die Strippen, und wir tanzen an den Strippen. Unsere Talente, unsere Möglichkeiten und unsere Leben stehen allesamt im Eigentum anderer Männer. Wir sind intellektuelle Prostituierte.“ (Zitat aus Wikipedia)
Ein besonders wirkungsvolles Mittel, um dem marktradikalen („neoliberalen“) Mammon die Bahn zu ebnen und uns Lügen einzutrichtern, sind Zahlen und Statistiken. Da wir durch Schule und Universität zu zahlengläubigen Menschen erzogen wurden, haben die professionellen Meinungsmacher aus Politik und Wirtschaft hier besonders leichtes Spiel. Denn durch Zahlen ist ausnahmslos alles argumentierbar bzw. aus „wissenschaftlicher“ Sicht beweisbar (da ich selbst als technischer Gutachter arbeite und mit Zahlen jongliere, weiß ich das nur zu gut). Nicht nur, dass man streng wissenschaftlich beweisen kann, dass schwarzer Kaviar den gleichen Lichtabsorptionskoeffizienten wie Schuhpasta besitzt und dass Lebensmittel aus ökologischer Landwirtschaft auch nur denselben Kalorien- und Nährstoffgehalt wie solche aus Pestizid-Landwirtschaft aufweisen. Man kann ebenso stichhaltig darlegen, dass Kernkraft unentbehrlich ist, Fracking die Arbeitslosigkeit vermindert und Rente mit 73 demnächst unausweichlich (siehe Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft /IW). Selbst der nackte Wahnsinn kann aus „streng wissenschaftlicher“ Sicht schöngerechnet und als alternativlos dargestellt werden.
Wie wir mit Zahlen um die Wahrheit betrogen werden und wie z.B. Pharmakonzerne damit auf Kosten unserer Gesundheit milliardenschwere Profite machen, darüber kann man sich in der Erste-Doku „Im Land der Lügen“ einen ersten Eindruck machen (siehe Das Erste). Hierbei erinnert der weltweit anerkannte Risikoforscher Prof. Gerd Gigerenzer daran, dass die ins Feld der Meinungsmache geführten Zahlen und „Fakten“ oft auf fragwürdigen Studien stammen, die interessengesteuert entstanden sind.
Dass die derzeitig verfahrene globalpolitische und allgemeinmenschliche Situation keineswegs Grund zur Resignation geben darf, sondern ganz im Gegenteil, als Ansporn zum Aufwachen und sogar zur begeisterten Neugestaltung der Verhältnisse dienen kann, dazu später mehr. Vorneweg nur ein einleitender Gedanke:
Während sich alle Revolutionen im Äußeren bisher als relativ erfolglos bzw. als von kurzer Dauer erwiesen haben, so wäre ein Aufbegehren gegen die Lüge – und dazu gehört auch die schonungslose Ehrlichkeit gegen die in der eigenen Brust wohnende Tendenz zur Lüge – wohl die größte und wirkungsvollste Revolution in der gesamten Menschheitsgeschichte. Indem man der Lüge den Kampf erklärte, würden die ökonomischen, ökologischen und politischen Sümpfe, in denen derzeit alles zu versinken droht, schnell trockengelegt und bislang ausweglos erscheinende Problemfelder würden dahinschmelzen wie Schneemänner in der Sonne.
Die Revolution gegen die Lüge kann allerdings nicht in der Form eines schnellen Putsches über Nacht vonstatten gehen, sondern sie ist ein langwieriger Prozess, in dem wir viele Rückschläge und Selbst-Desillusionierungen einkalkulieren müssen. Denn das Lügengeflecht, in das wir – meist unbewusst – eingewoben sind, ist gewaltig und die Bandbreite der Lüge reicht von grobklötziger, offenkundiger Korruption und Rufmord bis hin zu subtilen inneren Lebenslügen und Unaufrichtigkeiten, mit denen man sich im täglichen Leben an gewisse Gesellschaftsgepflogenheiten und herrschende Meinungen angepasst hat.
Der Kampf, der sich ab dem Moment auftut, in dem man die Bedeutung dieses inneren Schlachtfelds erkannt hat, ist kein leichter. Wie schon der legendäre UN Generalsekretär Dag Hammarskjöld in seinem Tagebuch geschrieben hat: „Auf dem Blocksbergritt zum Teufelsberg begegnest du nur – dir selbst, dir selbst, dir selbst.“ – was auch der Grund ist, warum so viele davor zurückschrecken und sich lieber die Zeit damit vertreiben, um zuzugucken, wie auf grünem Rasen ein paar Fußballesterer einen Lederball zwischen zwei Stangen drücken – wenn ich den Eifelphilosophen hier mal ganz frei zitieren darf.
Hammarskjöld in seiner Vorliebe für japanische Haikus hat mit diesem Vers eine tiefe Wahrheit in allerdings verkürzter und daher leicht missverständlicher Form ausgedrückt. Denn nicht das eigene Selbst bzw. unser menschlicher Persönlichkeitskern ist der innere Feind, sondern ein aus Angst und Eitelkeit gestricktes archetypisches Konglomerat, das man sich am besten in Form einer Schlange vorstellen kann – so ähnlich wie man in Apotheken oft das Symbol des Äskulapstabes mit einer oder mehrerer um diesen aufrechten Stab gewundenen Schlangen sehen kann. Oft sind die Schlangen, die sich um unsere aufrechte Persönlichkeit winden, ziemlich dick und manchmal sogar giftig.
In Wirklichkeit ist es also nicht das Selbst, das man im Inneren als Wurzel der Lüge entdeckt – ganz im Gegenteil: unser menschlicher Persönlichkeitskern sucht die Wahrheit und hasst die Lüge. Die Lüge ist ihm wie ein Kurzschluss, der sich, wie man von Lügendetektoren weiß, als Störung bis hinein in die vegetativen Funktionen des Körpers auswirkt. Noch verheerender ist die Wirkung der Lüge auf der psychischen Ebene: Bildlich gesprochen, reißen bei jeder Lüge unzählige innere Stricke und Verbindungsseile, die einem Menschen Halt, Sicherheit und ein gesundes Selbstbewusstsein geben. Sind zu viele dieser Seile gerissen, dann ist man im Leben unterwegs wie ein Zirkus-Seiltänzer auf großer Höhe ohne Sicherheitsnetz – wenn er aus dem Gleichgewicht kommt und abstürzt, geht es übel für ihn aus. In psychischer Hinsicht drückt sich ein solcher Absturz eben nicht als Knochenbruch, sondern als Depression aus. Und Depression soll ja laut WHO-Prognose innerhalb der nächsten 15 Jahre zur Volkskrankheit Nr. 1 avancieren (siehe Ärztezeitung ). Man tut somit gut daran, die inneren Seile zu pflegen bzw. neu zu knüpfen anstatt sie leichtfertig zu zerreißen.
Die innere Auseinandersetzung im Kampf gegen die Lüge lohnt sich also. Wer ihn aufnimmt, merkt schnell, wie verlorengegangene Lebensgeister wieder zurückkehren und wie er wieder echtes Selbst(wert)bewusstsein und Würde erlangt. Wer in diesem inneren Kampf Tore erzielt und an innerem Terrain gewinnt, der punktet wirklich. Wer hingegen auf einem Flachbildschirm zuguckt, wie bei der EM Tore geschossen werden, der hat in Wirklichkeit nur Zeit verloren.
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Diese Wahrheit über unser Innenleben und die Relativierung des Fußballs sind eine Zumutung, ich weiß. Aber wir sind hier ja auch nicht im Forum der Bild-Zeitung oder auf Astrodictium Simplex / ScienceBlogs. Leser, die es hierhergeschafft haben, geben i.d.R. nicht mehr viel auf Illusionen und eitlen Intellektualismus, sondern vertragen auch Unbequemes. In diesem Sinne: Wünsche allen einen angenehmen Abend und wollte natürlich niemandem, der sich ein Bier kaltgestellt hat, das in 5 Minuten startende UEFA-Match Portugal gegen Island vergraulen…
Zum Weiterlesen:
Der Mensch am Schlachtfeld zwischen Lüge und Wahrheit
Foto:[Copyrighted free use] v. Sir Boris, Quelle
Die Gänsehaut steht dem Politologen Philipp Ruch noch am Rücken wie nach einer Geisterbahnfahrt durch ein Mumienkabinett:
„Ich war kürzlich wieder im Bundestag – das war grausam, ein Armutszeugnis. Wer den Nährboden für Kleingeistigkeit sucht, sollte genau dorthin gehen. Die Mitglieder der Bundesregierung sind Verwalter des Status quo. Keiner von denen ist es gewohnt, unkonventionell zu denken oder seine Fantasie anzuschmeißen. Keiner von denen hat eine Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen könnte. […] Die derzeitige politische Führung ist die reinste Provokation. Diese Gleichgültigkeit im Land ist grauenvoll und gefährlich. […] Aber unsere Politiker verteilen Schlaftabletten.“ (Interview in Telepolis, 07.01.2016)
Peter Sloterdijk hat dazu einen weniger emotionalen, sondern mehr philosophischen Zugang. Wir leben, so Sloterdijk, längst in einer „Lethargokratie“ – „Wo Politik war, wird betreutes Dahindämmern“ (siehe Handelsblatt). Auch Merkel kommt in seiner Betrachtung nicht gut weg – er bezeichnet sie wenig schmeichelhaft als „Hohlraumfigur“. Während Sloterdijk den „Lügenäther heute so dicht wie zu Zeiten des Kalten Krieges“ einschätzt, hält er hingegen den EU Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker mit seinem Ausspruch „Wenn es ernst wird, musst du lügen“ durchaus für keinen Zyniker: „Juncker ist kein Zyniker. Er ist ein redlicher Arbeiter in der wahrheitslosen Sphäre, die man Politik nennt. Insofern fast ein Journalist.“
Mit einem Wort also: In besagter wahrheitsloser Sphäre der Politik haben heute Pragmatiker das Sagen. Sie wollen die fernsehenden Bürger mit noch mehr Wohlschand und Wirtschaftwachsdumm beglücken, obwohl uns diese Schande und Dummheit bereits in jeder Hinsicht an den Rand des Abgrunds gebracht haben. Aber macht nichts, die Losung lautet: Wir brauchen einfach nur noch mehr davon, dann wird’s schon wieder aufwärts gehen. So wie es auch Donald Trump verspricht, der robuste Unternehmer, der weiß wie man sich in einem Krokodilteich das Recht des Stärkeren zunutze macht und der „America great again“ machen will.
Was ist übrigens so „great“ am American Lifestyle? Nicht einmal die Chefapologeten wissen es so richtig. In seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ spricht US Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski vom „nicht genauer bestimmbaren, aber erheblichen kulturellen Reiz des american way of life“, den er neben „der Fähigkeit, riesige wirtschaftliche und technologische Ressourcen umgehend für militärische Zwecke einzusetzen“ als die beiden Hauptfaktoren bezeichnete, auf der „Amerikas imperiale Macht beruht“.
Nachdem der frenetische Applaus, den Trump für sein Wahlversprechen erntet, verebbt ist, kommen dem ein oder anderen vielleicht auch die Worte von Christian Morgenstern in den Sinn:
„Wozu, so fragt man sich, Reichtum, Wohlstand, Macht,
wenn alles dies den Menschen nur verflacht?“
Und in der Tat ist die frühere Begeisterung über den American Way of Life bei den meisten Menschen, inklusive den Amerikanern selbst, mittlerweile stark abgeflacht. Ernüchterung, sogar Untergangsstimmung hat sich breitgemacht, auch wenn es nicht jedermann so radikal formuliert wie Georges Clemenceau: „Amerika – das ist die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne den Umweg über die Kultur“.
Aber wir brauchen gar nicht zu unseren transatlantischen Freunden gucken, vor unserer eigenen Tür gibt es genauso viel zu kehren. Unsere TTIP Politiker haben inzwischen den gleichen rosa Hasen im Programm, den sie auf der Showbühne medienwirksam aus dem Zauberhut ziehen: ein frisch geföhntes, strahlrosa Vieh mit Duracell-Batterien im Hintern, LED-Blinklichtern in den Augen und Bluetooth-Stöpseln in den Ohren, das solange blind im Takt trommelt bis die Batterien alle sind – ein Synonym quasi für den uniformen, leistungsbereiten Wettbewerbsbürger, wie er heute en masse an den Schulen und Unis gezüchtet wird (siehe Züchtung zum Axolotl-Bürger).
„Visionen? Wer Visionen hat, braucht einen Arzt!“, meinte schon Altbundeskanzler Schmidt auf die naive Frage der Jugend nach menschengerechten politischen Perspektiven. Er erntete damit ebensolch sattes Gelächter wie Berlusconi, als er in einer TV-Show einer verzweifelten jungen Italienerin die Frage beantwortete, wie sie als working poor ihre Existenz bestreiten solle. Der Cavaliere schmunzelnd: „Nun, Sie könnten doch einen der Söhne Berlusconis heiraten.“
Unsere Politiker geben sich stattdessen gerne als Pragmatiker, als Realos – als „bodenständig“ … dabei ist der Stand bzw. das Menschenbild, das sie haben, bereits so unterirdisch und sub-zero, dass man nicht einmal mehr ihre Ohrenspitzen aus dem Boden herausragen sieht.
Aber da der Wähler bisher mit Vorliebe solch „bodenständigen“ Typen das Mandat gegeben hat, haben wir heute die groteske Situation, dass unsere Parlamente randvoll besetzt sind mit Personen, die die Welt aus einer Maulwurfsperspektive betrachten. Und es ist eben eine dunkle und feuchte Welt, in der es darum geht, sich durch die Erde zu graben und nach Würmern zu schürfen. Nicht, dass diese Weltsicht falsch wäre – aus der Sicht eines Maulwurfs ist sie die einzig richtige Realität. Und der Maulwurf kann auch gar nicht anders, als dieser Realität gemäß zu handeln. Auch liegt es in seiner Natur, jede darüber hinausgehende Realität zu leugnen. Wenn man ihm erzählte, dass es da oben noch eine ganz andere Welt gibt, mit Sonne, Sternen, Regenbögen, Blitzen und Hurrikans – der Maulwurf würde das große Zittern bekommen und vor Aufregung in die Nähe eines Herzinfarkts geraten. Schon alleine die Vorstellung, dass seine ans Dunkel gewöhnten Augen der strahlenden Sonne ausgesetzt werden, bereitet ihm Schmerz. Er muss eine solche Realität also schon aus reinem Selbstschutz abwehren.
Das Problem ist nur: Indem die Maulwürfe die Maulwurfsrealität zur einzig gültigen und möglichen Realität erklären, bleibt diese auch für den Rest der Bevölkerung alternativlos.
Da jedoch der Großteil von uns Zweibeinern in Wirklichkeit gar nicht der Spezies der Maulwürfe zugehörig ist, man uns aber trotzdem ein Dahinvegetieren in einer lichtlosen und kalten Umgebung aufnötigt, verwundert es nicht, dass mittlerweile Vitamin-D-Mangel und seelischer Rheumatismus epidemisch zunehmen und wir in dieser vermeintlich alternativlosen Welt zugrunde zu gehen drohen. So werden Depressionen lt. WHO-Statistik innerhalb der nächsten 15 Jahre die Volkskrankheit Nr.1 sein (siehe Ärztezeitung).
„We have elections, but we have no choice“, schrien wütende junge Menschen seinerzeit während der Unruhen in den Vororten von Paris in die Kameras – sie hatten damals die Wahl zwischen Nicolas Sarkozy und Segolene Royal, Kandidaten verschiedener Parteien, aber Absolventen der gleichen Schulen und Universitäten, also aus denselben ideologischen Kaderschmieden kommend. Eine akademische Schicht, von der Noam Chomsky sagt, dass sie „deeply indoctrinated“ (zu deutsch: zutiefst gehirngewaschen) ist.
In der Tat ist es in unserem Zeitalter der Postdemokratie relativ einerlei, welche drei Buchstaben eine Partei trägt. Da alle Köpfe dieser Parteien vom Förderband desselben Schul- und Universitätssystems gelaufen sind und daher im gleichen (szientistisch-technokratisch-nihilistischen) Takt ticken, ist es auch relativ bedeutungslos, welche Partei gerade an der Macht ist – nach kurzer Zeit wird auch eine neugewählte Partei „auf Linie“ sein und nur noch ökonomische Direktiven ausführen, egal ob sie sich AFD, AFX, oder SOS nennt.
Dass hinter der „AFD“ übrigens nichts anderes wartet als ein knallhartes neoliberales Programm, hat der Eifelphilosoph ja schon kurz abgehandelt (siehe AfD – Alternative für Deutschland?). Die übliche transatlantisch verkrückte Melange mit Aussicht auf mehr Effizienz, schärferen Wettbewerb und „vernünftiges“ Wirtschaften – überaus verlockende Worthülsen also, mit denen auch die FDP unter dem kürzlich abgeschiedenen Guido Westerwelle zumindest kurzfristig reüssieren und satte Wahlergebnisse einfahren konnte, bevor dann die Maulwurfsmilch ranzig wurde und sich die Wähler wieder ernüchtert an dem Ort wiederfanden, den sie ohnehin schon gewohnt waren: im Bockshorn.
In Wirklichkeit brauchen wir keine strukturellen/wirtschaftlichen/technokratischen Verbesserungsvorschläge, sondern eine grundlegend andere Sicht von Welt, Mensch und dem Sinn unseres Daseins im Sinne von Platons Höhlengleichnis (das heute übrigens im Schulunterricht geflissentlich verschwiegen wird). Solange ein Politiker das nicht als Motiv hat, sondern nur so tickt, wie er vom Förderband von Schule und Uni gelaufen ist – szientistisch-technokratisch-nihilistisch eben, ist das was er bringt, vollständig für die Katz‘. Sogar der Strom fürs Mikrophon und die Beleuchtung, mit dem die Frauken und Manneken solcher Parteien in Szene gesetzt werden und mit dem sie ihre technokratischen Verschlimmbesserungen in den Raum trompeten, ist reine Verschwendung. Ebenso die Tonnen an giftiger Druckerfarbe, mit der man die Litfasssäulen unserer Städte mit den Konterfeis besagter Frauken und Manneken zukleistert.
Solche „bodenständigen“ Politiker brauchen wir heute in Wirklichkeit genauso wie einen 35. Maulwurf in einem Garten, in dem bereits 34 andere Maulwürfe am Werk sind, um den Radieschen die Wurzeln abzufressen.
Bild: „Zu Besuch im Wahlkreisbüro“ von Steve Geshwister (Quelle)
Ich habe daher schon zuletzt vorgeschlagen, dass die großen Parteien ihre heiße Luft lieber dem Fernwärmeheizwerk spendieren und sich stattdessen das Talent von Steve Geshwister, dem Zeichner des obigen Bildes (siehe auch: Galerie) zunutze machen sollten. Er hat die geniale Gabe, dasjenige darzustellen, zu was man die menschliche Realität heute reduziert hat: zu bloßer Wirtschaftlichkeit bzw. was das ganze Drumherum heute ist: nur noch eine hohle Phrase.
Würden wir statt der heuchlerischen Imagewahlwerbung flächendeckend die Cartoons von Steve Geshwister plakatieren, dann wäre endlich einmal das Bekenntnis am Tisch, was denn eigentlich noch der Inhalt all unserer hochtrabenden Phrasen ist: nämlich nackte Wirtschaftlichkeit.
Dann könnten wir endlich neu anfangen und am Aufbau einer wirklich humanen Gesellschaft, an der Verwirklichung von Sinn etc. zu arbeiten. Solange dieses Eingeständnis jedoch nicht am Tisch ist (dass wir unsere Intelligenz für bloße Bedürfnisbefriedigung prostituieren, wie es die Ratte übrigens auch ganz ohne den Luxus menschlicher Intelligenz und Freiheit, sondern rein aus ihrem Instinkt schafft), solange wird es weiter abwärts gehen und die Zustände werden immer unerträglicher werden.
Wenn wir das Malheur, in dem wir heute stecken, rein menschheitsgeschichtlich betrachten, dann braucht es keineswegs Anlass zu Resignation geben. Ganz im Gegenteil, dass alle Begriffe, die früher einmal Substanz hatten, heute leer und zur Farce geworden sind, musste unweigerlich so kommen. Denn nur indem unsere Kultur vollkommen leer von allem geworden ist, was früher einmal Bedeutung hatte, ist nun der notwendige Platz vorhanden, der mit einer ganz neuen Art von Humanität und Sinnhaftigkeit gefüllt werden kann, die dem eigentlichen Potenzial des Menschen entspricht.
Dass wir als Kinder des 20./21. Jahrhunderts uns nicht mehr der gleichen Illusion wie unsere Eltern und Großeltern hingeben können – dass dann, wenn wir uns ein Zweitauto, eine Waschmaschine und einen großen Farbfernseher erarbeiten, alles besser sein wird – ist zwar bitter, aber das ist eben unser Schicksal. Natürlich ist die Sehnsucht nach solchen Illusionen riesengroß – und wird nicht nur von der Politik, sondern auch von der Werbeindustrie weidlich ausgenützt, indem sie uns vorgaukelt, dass wir dieses und jenes Produkt unbedingt haben müssten, dann würden wir so grinseglücklich sein wie das Model im Werbespot. Wie gerne würden wir uns solchen Illusionen wie anno dazumal hingeben, als die Welt noch einfältig und saftig war und man auf vermeintlich festem Boden stehen konnte!
Um uns zumindest noch ein paar Jährchen in solch nostalgischen Gefühlen zu wiegen, sind wir sogar bereit, blechernen Pappkameraden wie Trump und Berlusconi das Steuerrad in die Hand zu geben. Die erzählen uns faustdicke und mittlerweile abgründig gefährliche Lügen, aber egal, man kann dank ihnen kurz nochmal die Augen vom Ernst der Stunde, die heute geschlagen hat, abwenden und ein bisschen dahindösen. In diesem Zusammenhang nennt Sloterdijk Angela Merkel auch deshalb eine Hohlraumfigur, „weil in ihr zahllose Menschen etwas von ihren Hoffnungen, ihren Ärgernissen, ihren Träumen, ihren Niederlagen, ihren Sorgen, ihren Müdigkeiten“ ablegen könnten.
Natürlich sind all diese Illusionen zum Platzen verurteilt wie Seifenblasen. Denn die Wahrheit ist: Der menschheitsgeschichtliche Frühling und Sommer sind vorbei, wir sind nun in die kalte Jahreszeit des Frostes (Herbst/Winter) eingetreten, in der die Vegetation, die früher üppig geblüht hat, sterben muss. So wie nächste Woche Ostern ist, könnte man sagen, dass das, was wir als Zeitzeugen und Akteure des 20./21. Jahrhunderts miterleben dürfen, eigentlich ein einziges ausgedehntes Ostern ist: Eine Phase des Absterbens von allem, was früher einmal gehaltvoll und angemessen war, einhergehend mit der Möglichkeit eines Neuerstehens. Vermutlich ist das die entscheidendste Phase in der gesamten Geschichte überhaupt. Und wie die Geschichte ausgehen wird, ist keinesfalls festgeschrieben sondern liegt in der Freiheit jedes einzelnen. Es wird auch keine kollektive Entscheidung sein, sondern eine höchst individuelle, die jeder für sich treffen darf.
Zwei Wege stehen uns offen:
Wir können das tun, was uns die Trumps, Merkels & Maulwurfskollegen vorschlagen: alle Ressourcen einsetzen, um den faulen, morschen Baum unseres alten Systems noch einmal in Beton zu gießen, mit Stahlkonstruktionen zu stützen und zu mechatronisieren. Das wäre allerdings gleichbedeutend mit dem sicheren Untergang unserer gesamten Zivilisation.
Wir können aber auch die faule, morsche Substanz der sterbenden Kultur einfach als Humus benutzen, um darin ganz neue Keime zu setzen – und jeder von uns, der sich der Spezies homo sapiens zuzählt und nicht zu den Borgs, trägt einen ganz individuellen Keim in sich, den er nur ausfindig machen und am richtigen Ort einsetzen muss. Er ist oft schwer zu finden, ich weiß. Meist wurde er durch Schule, Uni und Medien zugeschottert und zugeteert. Aber es gibt ihn, jeder von uns hat ihn und in Wirklichkeit ist dieser individuelle Keim unser Lebensatem. Wenn viele Menschen diesen individuellen Keim zum Leben bringen, dann könnte unser Globus mit einer neuen, wunderbaren Vegetation erfüllt werden. Die Welt könnte ein empathischer, lebenswerter Ort werden, in dem der Mensch nicht mehr dem Wahnsinn dient, sondern dem Sinn – wo er an sinnvollem Aufbau und an einer Entwicklung arbeitet, die auch allen anderen zugute kommt.
Damit dieser neue Keim zum Leben erwacht und sich entfaltet, muss er allerdings vorher durch eine Art Todesprozess gehen – er muss die alte Hülle, die ihn umgibt, auflösen. Nur dann ist der Umschlag zum neuen Leben möglich.
Mit Goethes Worten:
“Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.”
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Ach ja, wie das Foto unten beweist, treiben da und dort ja schon einige Keime durch die eisige Kruste …
in diesem Sinne: Frohe Ostern! – der Schnee wird bald schmelzen.
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Update – 20.März 2016:
Foto: Shawnrenefitness CC BY SA 3.0 Quellenlink
Eigentlich müsste man die Werbeindustrie klagen. Schließlich müssen laut Produkthaftungsgesetz unerwünschte Nebenwirkungen auf einem Beipackzettel deklariert werden. Kommt ein Konsument zu Schaden, stehen ihm einklagbare Schadenersatz- und Regressansprüche zu. Denn der uns schon von Kindheit an täglich medial eingehämmerte Lifestyle führt zu einer mittlerweile unübersehbaren Zerstörung: ökologisch, ökonomisch, sozial und allgemeinmenschlich stehen wir heute am Abgrund.
Die Werbung suggeriert uns aber etwas anderes: Wir müssen bloß noch mehr diesen Lifestyle zelebrieren bzw. entsprechende Produkte konsumieren, dann werden wir strahlend glücklich.
Dass das Gegenteil der Fall ist – dass wir durch diesen Lifestyle krank, depressiv und ausgebrannt werden (lt. WHO werden im Jahr 2030 Depressionen die häufigste Krankheit sein) -, das verschweigt die Werbebranche wissentlich und daher vorsätzlich. Im Strafrecht werden vorsätzliche Schadenshandlungen mit ungleich schärferer Strafe belegt als fahrlässige oder unwissentliche Handlungen, wobei de jure sogar Unwissenheit nicht vor Strafe schützt.
Gäbe es die Werbung bzw. den von ihr produzierten Zuckerguss nicht, dann würde der unter dem Zuckerguss liegende, toxische Mistkrapfen niemandem mehr schmecken. Und das darf nicht sein. Denn unzählige Menschen sind mit der Produktion und dem Vertrieb solcher Mistkrapfen beschäftigt. Wenn Mistkrapfen nicht mehr nachgefragt und konsumiert werden, brechen wertvolle Arbeitsplätze weg. Und dass Arbeitsplätze entwickelt werden, an denen etwas anderes produziert wird als Mistkrapfen, das übersteigt anscheinend unseren momentanen Vorstellungshorizont.
In einem späteren Zeitalter wird man daher für den heute in Gang gesetzten ökologischen, ökonomischen und allgemeinmenschlichen Niedergang nicht die Diktatoren, Oligarchen und Politiker des 21. Jahrhunderts verantwortlich machen – obwohl auch ihnen in der Hall of Shame ein Ehrenplatz gewiss ist -, sondern als eigentliche Schergen des Wahn-Sinns wird man die Zunft der Werbefritzen ausmachen. Wären sie nicht gewesen bzw. hätten sie nicht ihr gewissenloses Handwerk verrichtet, dann wäre es unmöglich gewesen, den glitzernden Illusionsmantel aufrecht zu erhalten, hinter dem sich die dunklen Machenschaften des Mammon und der absolute Niedergang hemmungslos entfalten konnten.
Denn denkt man sich die von der Werbung erzeugten Illusionsbilder mit strahlend glücklichen, dank Photoshop von jedem Muttermal und sonstigen Makel befreiten Models, die sich lasziv in einer gleichzeitig nach Vanille, Himbeer und Pistazie duftenden Schokoladecreme räkeln und denen die Vibrationsfunktion ihres am Schoß liegenden neuen Smartphones die Erleuchtung beschert, einmal weg, dann wären die Menschen schlagartig aus ihrer Narkose aufgewacht. Sie wären vom Operationstisch aufgestanden und hätten sich nicht länger ein Glied nach dem anderen abnehmen lassen, ohne zu zucken. Dass der Mensch stattdessen ruhig am OP-Tisch liegengeblieben ist, bis man ihm schließlich auch seinen Kopf abgenommen hat, ist allein dem von der Werbeindustrie und dem Entertainment produzierten Narkosemittel geschuldet.
Schon als kleine Kinder werden wir an die virtuelle Infusionsflasche gehängt, über die uns dieses raffinierte Narkosemittel in die Blutbahnen gepumpt wird. Sind wir dann endlich herangewachsen und in einem Alter, in dem es die dem gesunden Menschenverstand entsprechenden Aufgaben anzupacken gälte, haben wir bereits fast alles vergessen. Nachdem uns das Förderband von Schule und Uni ausgespuckt hat, ist das, was wir für dieses Leben eigentlich sinnvollerweise als individuellen Lebenssinn vorhatten, zugeschottert und zugeteert. Stattdessen folgen wir wie die Lemminge einem fremdbestimmten Lebensstil, der uns zunehmend aushöhlt und kaputtmacht, von dem wir aber wie von einer Droge nur unter Mühe loskommen.
„DUCHLESS“ – „SEELENKALT“, mit einem Wortspiel, zusammengesetzt aus dem russischen „duch“ (=Seele, Geist) und dem englischen „-less“ (=fehlend, ermangelnd), so betitelte der russische Autor Sergej Minaev seinen Bestsellerroman, in dem er unserer Generation einen Spiegel vorhält und eine unbarmherzige Abrechnung mit dem zur Normalität erklärten, in Wirklichkeit selbstzerstörerischen Lebensstil vornimmt.
In ihm erfährt man, dass die mit Botox auf Hochglanz polierten und dank Amphetaminen verzückt lächelnden Models, die sich im Werbespot in der Schokoladesauce räkeln, in Wirklichkeit depressive Borderline-Patienten, also psychische Wracks sind. Wie Menschen durch immer groteskeren Exzess und Steigerung der Beschallungslautstärke versuchen, das seelische Vakuum zu kompensieren, dadurch aber erst recht ausgehöhlt werden.
Im vorgenannten Buchtitel liegt aber auch gleichzeitig der Kern bzw. die Lösung unseres Problems: Wir haben unsere DUCH verloren bzw. verpfändet. Und einen Mensch, der seine Seele bzw. seinen individuellen Lebenssinn nicht mehr spürt, kann man beliebig gängeln (um Missverständnissen vorzubeugen: erfüllender, individueller Lebenssinn hat rein gar nichts mit dem in der Werbung propagierten Narzissmus zu tun, sondern ist immer auf den Anderen bzw. auf die Mitwelt bezogen. Verfehlt man diesen Sinn, indem man nur narzisstisch selbstbezogen lebt, ist man unglücklich. Verwirklicht man hingegen diesen Sinn, indem man notwendigen Konsum so weit wie möglich mäßigt, dafür aber soviel Erbauliches als möglich an Mitmensch und zukünftige Welt aktiv GIBT, dann ist man glücklich – das ist das wahrscheinlich bestgehütete Geheimnis der Welt. Denn würde es in unseren Schulen gelehrt, dann wäre der Wallstreet und den mit ihr zusammenhängenden Wirtschaftskratzleien in kürzester Zeit der Boden entzogen, das derzeit etablierte Macht- und Wirtschaftssystem hätte keinen Bestand mehr.)
Denn die Wahrheit ist: Man will in Wirklichkeit nicht konsumieren und kahlfressen, sondern im Gegenteil: Man will der Welt etwas geben, sie um eine spezifische individuelle Färbung und Qualität bereichern – und das ist bei jedem Menschen etwas anderes bzw. muss jeder individuell herausfinden, was er der Welt zu geben hat, wenn er glücklich sein will.
Freilich ist das eine auf die Seele bezogene Wahrheit. Indem man uns – wie derzeit in Schule und Uni gelehrt – nur auf die körperliche Existenz reduziert, gilt ein anderes Gesetz: Wer mehr frisst, hat mehr im Bauch.
Dann wird sich eine von Thomas Hobbes postulierte Realität verwirklichen, in der „jeder Mensch des anderen Menschen Wolf“ („homo homini lupus“) ist.
Ob wir DUCH-LESS bleiben und in eine vollendete Wolfsrealität einmünden wollen, oder ob wir die Ärmel hochkrempeln und wieder DUCH-RICH werden wollen, darf niemand anderer entscheiden als wir selbst. Und die Volksabstimmung zur Wahl, auf welchen dieser beiden Wege unsere Reise weitergehen soll, findet genau heute statt. Jeder darf sein Kreuzerl machen und seinen Stimmzettel in die Urne einwerfen.
Über den Ausgang der Wahl werden sich die Nichtwähler, die lieber daheim vorm Flachbildschirm sitzen bleiben, also nicht beschweren dürfen. Denn es wurde demokratisch abgestimmt und wir hatten die freie Wahl…