(von Markus Mynarek)
Als Replik auf die verfälschende Interpretation Heinrich Heines in der „Spiegel“-Kolumne „Armes Deutschland“ durch den Journalisten Markus Feldenkirchen:
Wir dienen ewig nur dem Scheine
stets im Heiligengewand.
Wir verfälschen sogar Heine,
wenn’s nur schadet uns’rem Land.
Fürchtet er sich vor dem Tode
einer alten Dame nur,
ordnen wir es, weil es Mode,
dem verhassten Deutschland zu.
Beschreibt er ‚ne verhurte Frau,
die Männer aus allen Nationen begehrte,
weiß der „Spiegel“ ganz genau,
dass er Verzicht auf Nationalstolz lehrte.
So kennen wir des „Spiegels“ Richtung,
dem es so sehr an Mut gebricht.
Was er schreibt, ist meistens Dichtung,
denn die Wahrheit liebt er nicht.
begleitender Leserbrief, vom Spiegel nicht veröffentlicht:
„Leider hat Herr Feldenkirchen in seinem Kommentar „Armes Deutschland“ Heinrich Heines ‚Lied der Marketenderin‘ gründlich missverstanden. Denn Heine beschreibt hier lediglich eine allzu lockere Dame, die unabhängig von der Herkunft und von Standesunterschieden mit dem gesamten männlichen Teil der Menschheit für Geld zu schlafen bereit ist. Dieses Spottlied Heines über eine Hure als Widerlegung eines starken Nationalgefühls aufzufassen ist absurd. Herr Feldenkirchen hat entweder keine Ahnung von Heine, oder er handelt bewusst in der Absicht, die Spiegel-Leser mit einem in Wirklichkeit ganz anders gemeinten Zitat irrezuführen.“
Bild: Heinrich Heine / Public Domain
Zu dieser Kolumne:
Wer nicht genügend Galgenhumor besitzt, der könnte sich ja in der Tat die Haare raufen über die Produkte derjenigen deutschen Presse, die laut Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow „die bösartigste überhaupt“ ist (Quelle: DiePresse). Auch nach Einschätzung von Peter Sloterdijk ist heute „der Lügenäther so dicht wie seit den Tagen des Kalten Kriegs nicht mehr“, dem Journalismus attestiert er „Verwahrlosung“ und „zügellose Parteinahme“. Sloterdijk: „Die angestellten Meinungsäußerer werden für Sich-Gehen-Lassen bezahlt, und sie nehmen den Job an.“ Einer, der sich mit der Verwahrlosung derjenigen Zunft, die man noch vor wenigen Jahrzehnten als „Vierte Macht im Staate“ bezeichnet hat, nicht widerspruchslos abfinden möchte, ist der Philosoph und Literaturwissenschaftler Markus Mynarek, Sohn des Kirchenkritikers Hubertus Mynarek. In seinen Büchern und Gedichten nimmt er den poetischen Kampf mit manch widerspenstigem Sofamonster und Schreibtischtäter auf. Mit besonderer Vorliebe blickt der Autor dabei in den Relotius-Narrenspiegel als repräsentatives Beispiel dafür, wohin es der deutsche Qualitätsjournalismus heute gebracht hat. Aus diesem Köcher werden wir mit freundlicher Genehmigung des Autors in loser Folge einige Streiflichter veröffentlichen bzw. einige Pfeile in Sloterdijks „Lügenäther“ hinausschießen. Über kollektive Umerziehung, Denkverbote und Heuchelei bzw. den realen Zustand des „besten Deutschland, das wir jemals hatten“ (Frank-Walter Steinmeier) siehe auch Markus Mynareks Buch „Die versklavte Nation“.
NachDenkSeiten-Podcast
Tobias Riegel
Die Affäre um „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt offenbart Heuchelei auf allen Seiten. Der aktuelle „Konflikt“ zwischen den beiden hochproblematischen Medien „Spiegel“ und „Bild“ sollte außerdem nicht von deren Einigkeit auf vielen Feldern der Politik ablenken.
RT
„Gottgleich fühlende Kampfmöpschen auf Testosteron“ – Kachelmann nagelt gegen Bild und Springer
In einer Twitter-Mitteilung teilt der Schweizer Fernsehmoderator Jörg Kachelmann beinhart gegen die Bild-Zeitung und den Axel Springer Verlag aus – doch nicht nur. Auch andere Medien, die sich „ihr Mütchen an Julian Reichelt kühlen wollen“, werden nicht verschont.
…und ein Life-Bericht:
Boulevard ist Krieg
Exklusiver Einblick in die Redaktion einer völlig fiktiven Boulevard-Zeitung
(Spiegel-Cover: mit freundlicher Genehmigung von Mainz Free TV / Bodo Schickentanz)
Dem Spiegel-Qualitätsjournalisten Claas Relotius wird ja in einem Sturm der Empörung über seine frei erfundenen Reportagen gerade seine ganze Ehre abgesprochen. Höchste Zeit also, auch mal eine Lanze für ihn zu brechen. Immerhin hat sich der gute Mann im Gegensatz zu seinen auf großem Fuß lebenden Embedded journalism-Kollegen ökologisch vorbildlich verhalten: Er hat für seine Fake Artikel nicht unnötig Kerosin und Spesen verbraten, sondern sich den von der Chefetage erwarteten Lügendreck ganz bescheiden und ressourcenschonend in seinem stillen Kämmerchen ausgedacht. Im Sinne der EU-Energiesparverordnung gebührt seinem ökologischen Fußabdruck also ein glattes Triple-AAA-Rating.
Was machen wir nun mit dem einst gefeierten Qualitätsjournalisten? Er ist Träger der renommiertesten Preise seines Fachs, gleich vierfacher Träger des Deutschen Reporterpreises (2013, 2015, 2016, 2018), des European Press Prize, des Peter Scholl-Latour-Preises, des Konrad-Duden-Medienpreises, des Coburger Medienpreises, des Reemtsma Liberty Awards, des Katholischen Medienpreises und wurde zum CNN-„Journalist of the Year“ gekürt. Auch in der Forbes-Liste rangiert er im Olymp der „30 under 30 – Europe: Media“. Spiegel-Chefredakteur Ullrich Fichtner kommt sogar nach seiner Desavouierung aus dem Schwärmen über Relotius nicht heraus: „Dieser Relotius liefert immer wieder hervorragende Geschichten, die wenig Arbeit und viel Freude machen. … Relotius ist ein besonders wertvoller Mitarbeiter … Er beherrscht die Form. Mit Witz. Und Tempo. Insgesamt ein Typ, dessen Eltern man gratulieren möchte zu ihrem gelungenen Sohn … Er nimmt Hinweise dankbar auf, verarbeitet Verbesserungsvorschläge in perfekter Manier, er setzt um, was Ressortleiter ihm raten“ (Quelle: Spiegel).
Was der Journalist, der in der Hamburger Spiegel-Zentrale in Zimmer 09-161 saß, fabrizierte, war wahrlich kein 08-15. Meisterhaft vermochte er es, in seinen Reportagen eine atmosphärische Kulisse zu erschaffen, die eine Millionenschaft an Lesern in den Bann zog – nicht nur via Spiegel, sondern auch via FAZ, Süddeutscher, TAZ, Welt, Zeit, NZZ & Co. Der Mix aus harten, evidenzbasierten Fakten mit menschelnden Szenerien, griffigen Zitaten und teasertauglichen Einzelschicksalen hatte unwiderlegbare Überzeugungskraft und erwies sich als Patentrezept, um in Zeiten sinkender Auflagezahlen eine Leserschaft bei der Stange zu halten, die statt alternativer Medien weiterhin auf Qualitätsjournalismus setzen möchte.
Die Stories, mit denen der Qualitätsjournalist die deutsche Medienlandschaft jahrelang versorgt hat, passten dabei immer perfekt zum herrschenden politischen Spin. Über tumbe Trump-Wähler aus dem Hinterland der USA berichtete er. White trash, Abgehängte, die nicht so wie Claas Clever schlau genug waren, sich unter den Verhältnissen marktkonformer Demokratie ein gutes Auskommen zu sichern, indem sie sich in den Windschatten eines SUV hängen und mit Schampus und Kaviar auf der Autobahn der Alternativlosigkeit mitsurfen.
Auch seine Syrien-Reportagen waren – aus heutiger Sicht im wahrsten Sinne des Wortes – legendär. „Der Junge, mit dem der Syrienkrieg begann“ lautete eine Relotius-Reportage, die nicht nur über die großen deutschen Medien und Nachrichten-Magazine inflationär rezipiert und multipliziert wurde, sondern auch in Talkshows und Expertenrunden als Verweisquelle diente, um auch noch den letzten NATO-kritischen Bürger davon zu überzeugen, wie wichtig es ist, dass der (demokratisch gewählte) „Machthaber“ Assad „weg muss“. Allein für diese Story über einen 13jährigen Jungen, der in der syrischen Stadt Daraa Anti-Assad-Graffitis an eine Wand gesprüht hat, die dann zu Protesten und schließlich zum Aufstand gegen Assad geführt haben, hat sich der 33jährige Spiegel-Redakteur die vorgenannten Preise redlich verdient.
Assad ist zwar dank des Eingreifens von Putin immer noch da (daher: „Stoppt Putin jetzt!“), aber das Material, das im Syrienkrieg verschossen wurde, um laut UNICEF-Schätzung mehr als 500.000 Menschen zu töten und über 1,5 Millionen Menschen zu Invaliden zu machen, muss jetzt von den Rüstungskonzernen im Schichtbetrieb nachproduziert werden. Nicht nur die Rüstungsindustrie konnte Milliardenumsätze machen, auch für zahlreiche gemeine Arbeitnehmer der westlichen Wertegemeinschaft gibt es ein win-win-Weihnachten: Arbeitsplätze sind gesichert, der Maschinenbau und seine Zulieferindustrie „brummen“. Dank zunehmender Drohkulisse gegen das böse Russland – von unseren Qualitätsmedien in bester Relotius-Manier unermüdlich in Szene gesetzt – können die Zulieferbetriebe auch nach Ende des Syrienkriegs weiter im Vierschichtbetrieb produzieren. Auch die Pharmaindustrie wird mit ihren Chemo-Produkten an den Folgeschäden der Bombardements noch lange Zeit verdienen: So wie in Afghanistan, Irak, Serbien, Lybien und Somalia haben die die USA auch in Syrien wieder Uran-Munition eingesetzt.
Auszug aus dem derzeit unter Disclaimer in Spiegel Online noch aufrufbaren Relotius-Artikel:
„Er hält sein Handy in die Luft und läuft, geduckt, weil ihn Kugeln treffen könnten von überallher, durch verlassene Wohnviertel, er filmt die letzten Straßen, die Assads Truppen noch von ihm und den letzten Rebellen trennen, er zeigt die Häuserschluchten links, wo sie die Bomben des Regimes erwarten, und die ausgehobenen Erdlöcher rechts, wo sie ihre Toten begraben, Frauen und Kinder zuerst.“
Der vom Spiegel-Chefredakteur als „besonders wertvoller Mitarbeiter mit Witz und Tempo“ bezeichnete Qualitätsjournalist lieferte jedoch noch zahlreiche andere tränenrührige Kinder-Stories ab. – Frei erfundener Matsch, aber von den Freunden des Guten und Gernen Lebens gerne aufgesogen. So etwa über die Geschwister Ahmed und Alin aus Aleppo, die vor dem barbarischen Assad fliehen und nun in der Türkei, getrennt voneinander, als Schrottsammler und Näherin arbeiten müssen. In ihrem trostlosen Leben erscheint ihnen aber immer wieder ein barmherziger Engel des Wohlstands: „Manchmal, im Traum, erscheint ihnen Angela Merkel.“
(Screenshot aus SPON, Artikel v. 09.07.2016)
Welcher christlich-demokratisch, sozialdemokratisch, freiheitlich oder grün fühlende Mensch ließe sich angesichts solch herzzerreißender Schicksale nicht erweichen? Wenn es der westlichen Wertegemeinschaft also schon nicht gelungen ist, den barbarischen Assad wegzumachen, dann ist es doch im Mindesten ein Gebot der Menschlichkeit, Kinder wie Alin und Ahmed unter den Rock der Kanzlerin schlüpfen zu lassen. Sie brauchen es bloß über die offene Grenze des Schlamerkellandes schaffen, und alles ist gut. In einem Land, das laut dem Chef der Bundesagentur für Arbeit „jedes Jahr 400.000 Zuwanderer netto braucht, um den Bedarf der Unternehmen zu decken“ (Quelle: Welt), sind Humanressourcen, die noch nicht durch frühkindliche Digitalisierung verblödet sind, sondern motiviert zur Arbeit anpacken können, herzlich willkommen: Der „The Business Case for Migration“ (so der Titel eines Agenda-Dokuments des World Economic Forums aus 2013) kann weiterrollen.
Zum Verhängnis sind dem Spiegel-Journalisten dann nicht seine Kinder-Stories geworden, sondern ein paar tumbe Trump-Wähler, die Relotius so gerne portraitiert hat. Modernisierungsverlierer, die sich in kleinbürgerlicher Initiative zu Bürgerwehren zusammenrotten und als hirn- und herzloses Gesocks nächtens die Grenze entlangpatroullieren, damit Einwanderer aus Mexiko ihnen nicht die letzten verbliebenen Arbeitsplätze streitig machen (siehe SPON: „Jaegers Grenze – Bürgerwehr gegen Flüchtlinge“). – Ein weiterer Artikel, der perfekt ins herrschende Narrativ passte: Während dort die finstere rechte Bürgerwehr ihre Grenze gegen Schutzsuchende sichert, so können wir hier im Schlamerkelland auf von Betonpöllern und Stahlzäunen eingegrenzten Weihnachtsmärkten, flankiert von Sondereinsatzkräften mit Sturmgewehren, das Gute und Gerne Leben zelebrieren. Man muss also schon ein wirklich dunkeldeutscher Menschenfeind sein, wenn man es statt grenzenlosem Punsch und Glühwein lieber mit den verbockten Trump-Wählern halten wollte. Kaum zu fassen, warum es diese Trumpeltiere nicht so halten wollen wie anständige Hartzer und Rentner hierzulande, die Pfandflaschen sammeln und im Müll wühlen.
Im Feldzug gegen das dunkeldeutsche Pack – lt. Spiegel-Miteigentümer Jakob Augstein nur „Pimmel mit Ohren“ – hat denn auch Relotius seine Portion Fett beigesteuert. Traute Lafrenz, „Die letzte Überlebende der ‚Weißen Rose‘ im Interview“ präsentierte er uns: „Ich fuhr zu ihr … an einem Sonntagnachmittag im August, am selben Tag, als mehr als 7000 Kilometer entfernt in Deutschland, im sächsischen Chemnitz, ein Stadtfest eskaliert und Neonazis aufmarschieren, sitzt Lafrenz im Schaukelstuhl auf ihrer Veranda und blickt auf einen Zufluss des Atlantiks.“ (Quelle: SPON)
Erst ein E-Mail vom 3. Dezember einer Pressebeauftragten der Bürgerwehr in Arizona, die sich nach dem Relotius-Bericht darüber erkundigte, wie er denn einen Artikel über ihre Gruppe verfassen könne, ohne für ein Interview vorbeigekommen zu sein, bringt das Lügenfass zum Überlaufen. Der Spiegel muss Relotius schließlich fallen lassen, in Zimmer 09-161 wird nun ein anderer Qualitätsjournalist nachrücken. Welche Qualitäten der journalistische Nachwuchs haben muss, hat der Spiegel-Chefredakteur in seinem Nachruf auf Relotius bereits formuliert. Es wird wohl wieder jemand sein, der die Form beherrscht. Mit Witz. Und Tempo. Jemand, der Hinweise dankbar aufnimmt, Verbesserungsvorschläge in perfekter Manier verarbeitet und umsetzt, was Ressortleiter ihm raten. Nach Aussage von Spiegel-Chefredakteur Ullrich Fichtner sei Relotius „ein journalistisches Idol seiner Generation“. – An Nachwuchstalenten, die die vorgenannten Qualitäten mitbringen, wird es also vermutlich nicht mangeln.
Was machen wir also nun mit dem einst gefeierten Qualitätsjournalisten? Sollen wir ihn wie einen alten Diesel von der Straße holen und verschrotten, weil wir nun draufgekommen sind, dass er zuviel Ruß ausstößt? Wäre das nicht eine gewaltige Ressourcenverschwendung, einen DIN-ISO-zertifizierten Qualitätsjournalisten mit solch geballtem Know-How abzuwracken?
Das deutsche Außenministerium rüstet ja gerade auf und will mit einer marktkonformen Propagandaabteilung „kampagnenfähig“ werden (siehe heise). Vielleicht könnte man dem gestrauchelten Qualitätsjournalisten dort ein Ausgedinge geben. Sein Name würde verschwinden, aber seine Fähigkeit, sich spielerisch in die Herzen und Köpfe breiter Menschenmassen zu schreiben, könnte als anonymer Influencer weiter blühen. In der geplanten Propagandaabteilung der Regierung könnte er so wie einer der 1500 Cybersoldaten der britischen Social-Media-Brigade „nicht schießen, sondern twittern“. Wie uns der Spiegel ganz arglos berichtet, sei es die Aufgabe dieser Propagandaabteilung, „die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen“ (Quelle: Spiegel).
Da von Seiten der Regierung aufmagaziniert wird, um unsere Herzen und Köpfe einzunehmen, sollten auch auf Seiten der Zivilgesellschaft entsprechende Konsequenzen nicht ausbleiben. Was also tun? Nun, man kann das derzeitige Schmierentheater zum Anlass nehmen, um der politisch-medialen Lügen-/Manipulationsmaschinerie endgültig die Gefolgschaft zu verweigern. Dass man Abos von Blättern wie Spiegel, Süddeutscher & Co., die man ebenso wie der langjährige ARD Tagesschau-Redakteur
Bräutigam mittlerweile als regelrechte „Bellizisten-/Kriegszeitungen“ bezeichnen kann, kündigt, sollte für jeden, der noch einigermaßen bei Trost ist, selbstredend sein. Dazu muss man wissen, was Noam Chomsky bereits durchschaut hat: Dass die Leitmedien ihr Geld schon längst nicht mehr damit verdienen, indem sie ihren Lesern eine Zeitung um 1 Euro verkaufen, sondern dass ihr Geschäftsmodell darin besteht, ihre Leser an ihre Anzeigenkunden und konzernwirtschaftliche Lobbies zu verkaufen. In der Praxis heißt das: Wenn ein Leitmedium sagen kann, dass es in seinem Online-Format x-hunderttausend Leserklicks hat, dann kann es von seinen Anzeigenkunden entsprechend hohe Geldbeträge lukrieren. Mit jedem Klick auf Spiegel Online, Süddeutsche & Co. hat man also bereits seine Schuldigkeit getan und deren Geschäftsmodell gedient.
Mit dem Kündigen von Abos ist also noch nicht viel getan. Überhaupt sollten wir davon wegkommen, immer nur den aktuellen Geschehnissen hinterherzuhinken und abwarten, bis wieder irgendwo eine Eiterblase eines jeder Nachhaltigkeit und jeder Moral spottenden Systems platzt so wie jetzt beim jüngsten Spiegel-Skandal. Es wird Zeit, aus der Schockstarre herauszutreten, und eigene Aktivität zu entwickeln. Diese Aktivität darf zunächst einmal ruhig innerlich sein und muss nicht gleich in politischen Aktionismus münden.
Man tut gut daran, sich von der Niedertracht, die einem heute fast auf Schritt und Tritt begegnet, nicht nur angewidert abzuwenden, sondern diese Niedertracht geradewegs zu nutzen, um als Gegenbild ein persönliches Ideal aufzubauen. Aufgeben darf man im kommenden Jahr schon aus einem ganz egoistischen Grund nicht: Die Lügen-/Manipulationswolken sind heute nämlich so geballt (laut Sloterdijk ist der „Lügenäther heute so dicht wie zu Zeiten des Kalten Krieges nicht mehr“), dass jeder, der sich nicht aktiv mit ihnen auseinandersetzt und sie durchschaut, davon innerlich vergiftet bzw. in einem Strudel kollektiver Vermassung davongespült werden wird. Wer sich hingegen wach mit den Hintergründen auseinandersetzt, auch wenn er weiß, dass er auf soziopolitischer Ebene derzeit nicht viel bewirken wird, der sorgt für ein gesundes eigenes Immunsystem, das die toxischen Suggestionen identifizieren und wieder aus dem psychischen Organismus ausscheiden kann. Man kann die politisch-ökonomisch-medialen Machenschaften und dunklen Wolken dann sogar nutzen, um anhand der Konfrontation mit solcher Niedertracht ein richtiges persönliches Ideal heranzubilden – und damit die Grundlagen für eine menschenwürdige Zukunft zu legen. Also am nackten Wahnsinn geradewegs das Gegenbild erschaffen. „Niedertracht und Heuchelei begegnen mir? – O.k., dann will ich umso mehr Rückgrat und Ehrlichkeit entwickeln!“ … „Die Leitmedien trommeln zu Hass und Konfrontation mit Nachbarländern? – O.k., dann will ich umso versöhnlicher wirken, Freundschaften um mich herum und über die Ländergrenzen hinaus pflegen, Interesse für die zu Feindbildern erklärten Menschen und Länder zeigen, noch liebevoller mit meinen Mitmenschen, meinem Partner, meinem Hund, meinem Wellensittich umgehen. Ein offenes Auge und Ohr für Menschen haben, die gerade in Not sind. Für andere, die gerade diffamiert werden, Stellung beziehen.“ An der Entwicklung innerer Qualitäten, die unweigerlich auch nach außen, also im besten Sinne politisch wirksam werden, kann mich niemand hindern, egal welche Kramp-Merz-Merkel-Karrenbauers man uns gerade als Regierungsköpfe vorsetzt und welche Machwerke die deutsche Presse (laut Michail Gorbatschow „die bösartigste“ überhaupt) in Umlauf setzt. Wenn wir daran neue Ideale schöpfen können, dass hätte das Ganze auch einen Sinn und wir müssen nicht am gegenwärtigen Niedergang verzweifeln.
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Auch den Humor darf man sich keinesfalls rauben lassen. Jeder darf also aus gegebenem Anlass auch mal kräftig Luft holen und sich krummlachen über die gerade stattfindende Desavouierung des Spiegel, über den längst überfälligen SuperGAU des deutschen Qualitätsjournalismus, vom Spiegel-Chefredakteur gerade verharmlosend als „Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des Spiegel“ bezeichnet, bei dem „die selbst gesteckten Ziele verfehlt, eigene Ansprüche weit unterboten, alte Werte verletzt wurden“ (Quelle: Spiegel Online). Dann nochmals Luft holen und eine weitere kräftige Lachsalve abgeben über das nunmehrige Wehklagen des Chefredakteurs, dem es „besonders weh tut, dass es Relotius gelingen konnte, jahrelang durch die Maschen der Qualitätssicherung zu schlüpfen, die der Spiegel in Jahrzehnten geknüpft hat.“
Der Appell von Jens Wernicke, dass „Wir uns den Begriff ‚Lügenpresse‘ nicht aus der Hand schlagen lassen dürfen“, da man ein System ideologischer Massen-Manipulation auch als solches benennen müsse, erhält jetzt jedenfalls wieder Wasser auf die Mühlen. Denn das von einem akkreditierten Journalisten-Expertengremium als Unwort des Jahres geächtete und mit aller medialer Macht aus dem öffentlichen Diskurs verbannte Wort „Lügenpresse“ wird nun wohl eine ungeahnte Renaissance erfahren. Ist es nun doch amtlich und wird dies von unseren Leitmedien wie Spiegel, FAZ, TAZ, Süddeutscher, Welt, Zeit & Co. auch selbst zugegeben: Dass sie jahrelang – astreine, frei erfundene Lügen abgedruckt haben.
Wobei die Lügengeschichten des Claas Relotius noch vergleichsweise harmlos sein mögen. Sie lassen sich als glatte Lügen zumindest leicht enttarnen. Viel schlimmer und mit ihrer schleichenden Giftwirkung unseren gesamten gesellschaftlichen Organismus sowie den Weltfrieden zersetzend wirken die vom „embedded journalism“ täglich praktizierten Auslassungen, tendenziösen Verbrämungen, suggestiven Darstellungen, Diffamierungen und die mittlerweile zur Meisterschaft gebrachten Techniken der Fragmentierung und Dekontextualisierung. In das Gewand seriöser Berichterstattung gekleidet und von sauber gescheitelten und professionell in Szene gesetzten Frontmännern-/frauen vorgetragen, garniert mit „evidenzbasierten“ statistischen Fakten und Expertenwissen, dringt die suggestive Nachrichtenmelange tief ins Unterbewusste des abends vom Arbeitstag meist schon ermatteten Medienkonsumenten und seiner Kinder. Jeder mag sich also zum Jahresende selbst fragen, welche Medien er im kommenden Jahr in welchem Umfang in sein Inneres hereinlassen möchte und welchen er sich besser verweigert – oder sich diese zumindest nur dann zu Gemüte führt, wenn er wach genug ist und sich zuvor Schutzhandschuhe, Schutzbrille und eine Atemmaske mit FFP3-Feinstaubfilter aufgesetzt hat.
Indes wurden in der Zivilgesellschaft als Reaktion auf den Spiegel-Skandal auch ganz praktische Maßnahmen getroffen: Der Postillon berichtet, dass Zeitschriftenhändler den SPIEGEL künftig im Heftroman-Regal einsortieren wollen, ganz standesgemäß zwischen schwülstigen Ärzteromanen, Fantasy-Magazinen und Science-Fiction-Heftchen.
Auf Facebook wurde gerade die Idee geboren, den „Claas Relotius Award“ ins Leben zu rufen – verliehen an die verdienstvollsten Schmierfinken der transatlantischen Katzenstreu-Presse. Zusätzlich zum unten ersichtlichen Pokal gibt’s für den Preisträger noch eine Clownnase von Pogo dem Clown (verchromt und unblutig natürlich).
(Bild: mit freundlicher Genehmigung von VeitJürgens/FB)
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