Mittwoch, 14.8.2013. Eifel. Ich bin ja noch immer sehr beeindruckt von der Geschwindigkeit, mit der sich Gülle bei Facebook verbreitet. Überraschen sollte das aber eigentlich nicht: immerhin lesen auch viele die Bildzeitung. Gülle steht hoch im Kurs der deutschen Geschmäcker. Interessant auch, wie groß der Hass der Mitmenschen auf alte, arme, kranke, ausgestoßene Mitmenschen ist. Ziemlich blöd, das Ganze. Immerhin – wenn man vom Staat bzw. der Gemeinschaft nicht auf andere Weise als durch Hartz IV finanziert wird (zum Beispiel als Beamter, Abgeordneter, Arzt, Gewerkschafter, Politiker oder Kirchenmann) kann Arbeitslosigkeit jeden treffen – jederzeit. Für die nächsten Jahre ist eine grassierende Arbeitslosigkeit bei IT-Berufen vorausgesagt: Technik macht es möglich. Auch Journalisten sterben den „Bürgerlichen Tod“ wie die Fliegen.
Bürgerlicher Tod?
Sicher kaum noch bekannt, obwohl ihn unsere Arbeitslosen wieder erleiden müssen. Dank Wikipedia wissen wir mehr:
Der bürgerliche Tod ist ein Rechtsinstitut, das in ganz Europa bis in das 19. Jahrhundert hinein als zusätzliche Strafverschärfung gegenüber verurteilten Kapitalverbrechern angewandt wurde. Es hatte nicht nur die vollständige Ehr- und Rechtlosigkeit, sondern auch den vollständigen Verlust der Rechtsfähigkeit des Verurteilten zur Folge, der zwar noch körperlich lebte, aber aus rechtlicher Sicht die Stellung eines bereits Toten erhielt. Der bürgerliche Tod radierte somit den Menschen als natürliche Person aus und kam einer Aberkennung der Menschenwürde gleich (die als rechtlich bindender Begriff zur damaligen Zeit noch nicht entwickelt war).
Ich möchte gar nicht groß darauf verweisen, in wie vielfältiger Weise Arbeitslose im 21. Jahrhundert jenen gleichen, die den Bürgerlichen Tod durchleiden mussten – mir geht es heute eher darum, einmal auf die Folgen zu verweisen. Bemerken sollte man, dass auch unser Arbeitsloser als Strafe jeglichen Eigentums beraubt wird, dass er Schwierigkeiten bekommt, seine Ehe weiter zu führen (für getrennt lebende Erwachsene zahlt das Amt sinnigerweise mehr) und das er im Übrigen einer vogelfreien Person ähnelt.
Vogelfrei? Noch so ein Wort aus der deutschen Geschichte, dass kaum noch einer kennt – außer Wikipedia:
„sein leib soll frei und erlaubt sein allen leuten und thieren, den vögeln in den lüften, den vischen im waßer, so daß niemand gegen ihn einen frevel begehen kann, dessen er büßen dürfe“
– Wigand, Das femgericht Westphalens. Hamm 1825. S. 436 zitiert bei Grimm S. 59.
Mit dieser Ächtung war auch verbunden, dass dazu verurteilten Personen keine Behausung gewährt wurde. Im Todesfall wurde die Leiche nicht bestattet, sondern den Vögeln und Wölfen zum Fraß überlassen.
Von uns geächtete und verurteilte Arbeitslose können im Falle einer Sanktion (im Falle von Ungehorsam oder Widerstand gegen die Staatsgewalt) ihr Haus und Hof verlieren, ihre Leichen werden in billigsten Armengräbern verscharrt, so als ob man sich ihrer schämen würde – und viele Bildzeitungsleser hätten es sehr gerne, wenn man sie mal so richtig foltern könnten, ohne gleich vom Staat dafür verfolgt zu werden.
So weit sind wir aber noch nicht.
Aber denken wir mal ein wenig weiter, denken wir einmal darüber nach, dass die Abschaffung von Hartz IV – in jenen Kreisen oft gefordert – gelänge: was würde folgen?
Nun – erstmal müssten wir anerkennen, dass wir diese Menschen absolut und vollkommen aus unsere Gemeinschaft ausgeschlossen hätten. Alle Rechte für sie wären erloschen. Alle Pflichten und Einschränkungen aber auch. Doch bevor wir zu diesem Thema kommen, müssen wir uns erstmal darüber Gedanken, machen, wie wir diese Leute ausbezahlen. Arbeiten sie den ganzen Tag unermüdlich (und zumeist sinnlos, wenn nicht sogar natur- und gesellschaftsschädigend) wie der Hamster im Rade, sind eingebunden in das System der deutschen Gemeinschaft, dann stellt sich diese Frage nicht. Sie sind Teil der Gemeinschaft, können alle Rechte der Gemeinschaft nutzen, alle Güter der Gemeinschaft genießen und all die vielfältigen Pflichten (allen voran die Pflicht, 50 Stunden die Woche bei 2 Wochen Urlaub im Jahr bis ins achtzigste Lebensjahr hinein zu arbeiten – jedenfalls, wenn die SPD wieder an die Regierung kommt, die viel Arbeit für andere immer toll findet) freudig lächelnd erfüllen.
Stoßen wir jedoch einen Menschen aus der Gemeinschaft aus, so müssen wir ihm einen Anteil zahlen – wenn wir nicht selbst zu vogelfreien Räubern werden wollen.
Welchen Anteil? Nun – er ist als Bürger Deutschlands auch Miteigentümer der Gemeinschaftsgüter, eigentlich des ganzen Landes. Umgerechnet auf jeden Bürger gehören ihm theoretisch 4220 m2 Land. Wir tun auch gut daran, diesen Anspruch zu akzeptieren – sonst könnten ganz schnell die wenigen Reichen auf die Idee kommen, das Land ganz zu kaufen und das Restvolk der 99 % ´umzusiedeln. So zu denken gilt als nur unserem eigenen Schutz, nicht der verpönten Sozialromantik.
Wir wollen dabei auch nicht vergessen, dass Arbeitslose in der Regel vor ganz normale, arbeitende Menschen waren, von deren Abgaben viele andere ganz gut gelebt haben: wir tun zwar so als ob, aber in Wirklichkeit vertreiben wir hier keine Mörder, Frauenschänder und andere Ungeheuer – in Wirklichkeit lynchen wir nur den zuvor so netten Nachbarn von nebenan.
Natürlich gibt es auch noch den Anteil am Land, den seine Ahnen halten: unser ganzer Wohlstand beruht auf der Arbeit vieler Generationen. Das herauszurechnen ist mühsam, ich werde es deshalb bei der Berechnung des Quadratmeterpreises berücksichtigen.
Wir könnten auch darüber nachdenken, jedem Arbeitslosen 4220 m2 Land zur Verfügung zu stellen, damit er sich davon ernähren kann. Da wir aber vielen Privateigentümern private Nutzungsrechte am deutschen Land eingeräumt haben, hätten wir gar nicht mehr so viel Fläche. Wir könnten auch die Flächen verlosen – hat der Arbeitslose Glück, kriegt er ein Stück Autobahn, kann Maut erheben oder es renaturieren, ganz wie es ihm beliebt – doch wir merken schnell: das wollen wir erst recht nicht. Auch wollen wir unser Land nicht wieder in kleinparzelliges Ackerland umwandeln, viele Landreformen der Geschichte haben ja gerade jetzt diese effektivste aller Formen hervorgebracht: das wertvolle Erbe sollten wir nicht wegen asozialer Kniepigkeit im gemeinschaftlichen Bereich aufs Spiel setzen.
Also bleibt nur: Geld. Die vernünftigste, sinnvollste und bequemste Lösung.
Was aber nehmen wir als Berechnungsgrundlage des Grundstückwertes? Wiesenland in der Eifel? Macht vier Euro pro Quadratmeter. Oder Bauland in Berlin Mitte? Nun, da liegen wir bei 1712 Euro. Ich denke, wir nehmen einen Mittelwert: Bauland in der Eifel. Das berücksichtigt dann auch die Arbeitsleistung der vielen Generationen, die hinter unserem Arbeitslosen stehen.
Wir streichen also Hartz IV, stoßen den Betreffenden damit völlig aus der Geld- und Solidargemeinschaft der Deutschen aus, geben ihm aber seinen Anteil:
548600 Euro.
Damit kann er machen, was er will – nur nicht mehr in Deutschland. Helmut Kohl wollte so mal die Türken loswerden (siehe Spiegel). Hat nicht ganz geklappt, weil: Türken sind Menschen, Arbeitslose nicht.
Viele Arbeitslose werden ein Land finden, wo man von den Zinsen dieses Kapitals angenehm leben kann. Widmen wir uns aber lieber denen, die ziemlich entsetzt sind von der Behandlung durch die Gesellschaft. Viele Rechte, die ein Bürger hat, haben sie nicht mehr. Ein paar Menschenrechte werden noch bleiben, aber sie sind – rechtlich betrachtet – wandelnde Fremdkörper im Land, sozusagen ein kleiner Mikrostaat für sich.
Sind sie eigentlich völlig rechtlos?
Nein, natürlich nicht. Was ihnen bleibt, ist das Naturrecht, welches vor dem bürgerlichen Recht herrschte. Davon gibt es viele Ausformungen, wir müssen – aus guten Gründen – bei dem einfachsten bleiben: dem Recht des Stärkeren.
Natürlich hat der nun neu geschaffene staatenlose Freibürger das Recht Waffen zu tragen. Jede Art von Waffen, auch Kriegswaffen – wenn er mag. Die Achtung des Gewaltmonopols des Staates obliegt ihm nicht mehr, Wahrung des Landfriedens ist nicht mehr sein Ding – ebenso wenig die Achtung vor Privateigentum. Natürlich darf die Polizei solche Freibürger erschießen … allerdings wird es bei den schlecht bezahlten Polizeibeamten mit der Zeit wohl wenig Freude bereiten, wenn sie den besser bewaffneten und hoch motivierten Freibürgern gegenüberstehen, die sich für den Überlebenskampf dank Abfindung besser bewaffnen können, als es die sparsamen Pfeffersäcke je mit ihren Bütteln tun würden.
Natürlich darf man Freibürger – bzw. freie Menschen nicht einfach so jagen und töten. Es gilt das Gesetz des Wilden Westens: der Freimensch muss zuerst ziehen, damit der Notwehrfall eintritt. Zieht der Polizist zuerst, kann man den Freibürger noch nicht mal des Mordes bezichtigen – es war dann Notwehr.
Selbstverständlich darf sich auch jeder Villenbesitzer im Rahmen der Verträge der BRD gegen die Besetzung seiner Villa wehren: er darf die Polizei rufen. Die kann dann die Freibürgerbanden aus der Villa werfen – wenn sie stärker sind. Ja – für diese neue Gruppe gilt nur das Naturrecht.
Der Freibürger braucht seinen Müll nicht zu entsorgen, braucht keine Steuern zahlen, kann Geschäfte abschließen, wie er will (er kann nebenbei – vielleicht sogar gegen Bezahlung – das Problem mit der Mafia in Deutschland erledigen). Sicher – er ist staatenlos, aber wir wollen uns hier nicht mit juristischen Spitzfindigkeiten abgeben. Immerhin könnte er nach Erhalt der Abfindung sofort politisches Asyl beantragen. Das Wort „Raub“ existiert in seinem Universum nicht: das Naturrecht erlaubt Zugriff auf alle Güter – sofern man stärker ist als der Vorbesitzer. Dafür kann moderne Waffentechnik schnell sorgen: immerhin produziert Deutschland selbst schon genug davon.
Da Arbeitslose aller Wahrscheinlichkeit völlig normale Menschen sind, werden sie wohl nicht alle sofort zu Räuberbanden mutieren. Vielleicht tun sie sich zusammen, kaufen sich ein Schloss (z.B. das direkt neben dem Herrn Zumwinkel) und leben von den Zinsen ein glückliches, von aller Staatslast befreites Leben. Auf das Recht, Schußwaffen zu tragen, sollten sie allerdings nicht verzichten: zu leicht könnte ein arbeitender Asozialer aus Deutschland auf die Idee kommen, sie foltern zu wollen. Geäußert worden sind solche Gelüste schon – in aller Öffentlichkeit.
Nun – gemäß dem Recht des Stärkeren könnte man sagen: dann tretet mal gegeneinander an. Der Angestellte mit seinen Folterwerkzeugen – und der Freibürger mit seiner Schrotflinte. Ich denke, die Folterphantasien in Deutschland werden nach Abschaffung von Hartz IV deutlich nachlassen.
Das Leben an und für sich wird spannender. Gut – wir werden dann merken, wie wertvoll „Sicherheit“, „Gerechtigkeit“ und „Frieden“ waren. Auch „Wohlstand“ wird enorm gefährdet sein. Es wird auch die Frage sein, wer dann die gesellschaftliche Rolle der Arbeitslosen übernehmen wird: die Rolle jener, auf die straflos herabgeblickt werden darf. Juden und Hexen sind allerdings alle. Türken sind ähnlich wehrhaft.
Na – man wird schon was finden.
Ganz schlimme Phantasien?
Nein – die führende Nation der westlichen Wertegemeinschaft erlaubt ihren Bürgern das Waffentragen als Grundrecht. Auch Arbeitslosen. Die sind nicht solche naiven Sozialromantiker wie die Deutschen, die lieber ein wehrloses Volk regieren – oder wehrlose Bürger foltern.
Da wir uns in Kleidung, Ernährung, Unterhaltung, militärischer Expansion und politischer Korruption den USA immer weiter annähern, werden wir diese kleine Änderung im deutschen Alltag sicher auch leicht verkraften können.
So in tausend Jahren können dann die ersten Romantiker der Aufklärung wieder auftauchen, um ihre Träume einer friedlichen Gesellschaft zu verkaufen, wo keiner Not leidet, alle füreinander da sind, wo die Wirtschaft dem Menschen dient, alle Menschen das gleiche Recht auf Existenz haben und alle Formen von Gewalt geächtet werden – auch die passive Gewalt durch Worte oder Streichung des Lebensminimums.
Frieden, Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit und Sicherheit werden dann sicher wieder als elementare Werte einer erfolgreichen Gesellschaft verstanden werden – anstatt als sinn- und inhaltslose Hüllen politische Sprechblasen auszufüllen.
Natürlich können die Freibürger auch Städte bilden – wie im Mittelalter. Sie könnten alle zusammen Bonn besetzen, es zur „Freien Stadt“ erklären – zur ersten neuen freien Stadt. So sind früher die Städte entstanden, die auch eine Heimat für Vogelfreie, entflohene Sklaven, Leibeigene, Leiharbeiter oder politisch Verfolgte boten. Schwer befestigt profitierten sie enorm von der arbeitsteiligen Gesellschaft und hatten einen enormen Wohlstand – weil sie keine superreichen Milliardäre mitfinanzieren mussten.
Dort, in den freien Städten wuchs die bürgerliche Zivilisation heran, dort behauptete sich die demokratische Zivilgesellschaft gegen den Feudalstaat, deren Angehörige selbst bald lieber in die Städte zogen, weil das Leben dort einfach angenehmer war.
Von Bonn und anderen freien Städten aus könnte dann eine neue Reform der Bundesrepublik ausgehen: eine Reform, die in der Tradition der Aufklärung, der Freiheit, der Menschlichkeit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit steht und der Refeudalisierung der Gesellschaft mutig entgegentritt.
Ich habe fast den Eindruck, dass die neue Gesellschaft der freien Bürger sehr viel Freunde auch unter den Hamsterradmenschen finden würde, die sich nach Jürgen Roth momentan in einer nicht sehr beneidenswerten Situation befinden, siehe Planet-Interview:
Wir haben eine deutsche mafiose Kultur, im wahrsten Sinne des Wortes, und das ist der Nährboden für alles was mit Geldgier, mit Beuteverhalten, Klientelismus und mit fehlenden ethischen Kategorien zu tun hat. Es geht nur noch um das Bedienen des eigenen Klientels, nicht mehr und nicht weniger. Und Klientelwirtschaft, die Durchsetzung von Partikularinteressen ist die Urform der italienischen Mafia wie des kapitalistischen Systems.
Und damit dieses System funktioniert, sollten wir Hartz IV als „Stillhalteprämie“ weiterzahlen – und deutlich erhöhen.
Oder wir schaffen es ab – leben aber dann mit den Konsequenzen. Allerdings kann sich die Gesellschaft dann nicht mehr leisten, nur ein paar Polizeibeamte schlecht zu finanzieren: bei sieben Millionen Freibürgern braucht man schon mehr Personal – und besser bezahlt werden sollten die auch.
Die freien Städte kämen mit einem frei gewählten Sheriff aus. Immerhin: die Bildzeitungsleser wären draußen vor den Toren der Stadt – und die Vogelfreien hätten ganz schnell gelernt, wie wichtig es ist, gemeinschaftsfähig (also: sozial) zu leben.
Vielleicht – aber daran kann ich nach den neuesten Erfahrungen nur schwer glauben – schaffen wir es auch, dank eines Blickes in die Geschichtsbücher zu lernen, warum wir eigentlich aus purem Eigeninteresse ganz üppige Leibrenten für jene zahlen sollten, die die Wirtschaft nicht mehr beschäftigen will.
Ich fürchte jedoch, dass wir die ganze Geschichte nochmal wiederholen dürfen.
Aber in tausend Jahren dann … bauen wir unsere demokratische Zivilgesellschaft wieder auf.