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HEXENGEWISPER

Eine märchenhafte Fälschung?

Autor: U. Gellermann
Datum: 06. März 2012

Kann ich hexen? Es ist die sprachgebräuchliche Hexerei, die in unserem Wortschatz angelagert ist, wie viele andere Märchenfiguren auch: Der Dornröschschlaf existiert immer noch, obwohl unsere Kindheit längst hinter uns liegt, wenn wir ein verschnarchtes Projekt kennzeichnen wollen, auch das Aschenputtel steht zur Verfügung, um einen hässlichen Start zu markieren, der sich dann aber in prinzessliche Höhen aufschwingt und die böse Schwiegermutter lebt sogar dann fort, wenn jemand betont, er habe aber eine wirklich gute Schwiegermutter. Und wenn jemand behauptet, ein anderer habe Kreide gefressen, dann wissen wir: Der sollte besser nicht gewählt werden. In Michael Maars Buch „Hexengewisper“ sind sie fast alle versammelt: Die Märchen, die wir kennen. Er fragt nach ihrer Herkunft und Bedeutung, um uns mit einer Reihe von überraschenden, manchmal fantastischen Antworten zu beehren.

Maar ist ein Illusionszerstörer: Hatten wir doch alle gedacht, die Märchen seien dem deutschen Volksgut entsprungen und so etwas wie ein nationaler Schatz, weist der unerbittliche Autor nach, dass die Brüder Grimm ihre Märchen abgeschrieben haben: Bei Charles Perrault letztlich, einem französischen Schriftsteller und Beamten, finden sich bereits 1697 das Rotkäppchen, der gestiefelte Kater, das Aschenputtel und eine Reihe anderer Motive, die von den Grimms erst 1812 herausgegeben wurde. Maar glaubt, die Brüder hätten sie in ihrer französischen Fassung auf den Nachttischen höherer Töchter gefunden. Eine delikate Variante, die leider ohne nähere Erklärung bleibt. Dass Ludwig Thieck den Perrault bereits 15 Jahre zuvor in einer deutschen Fassung bei Nicolai herausbrachte, ist dem Autor entgangen.

Nicht entgehen lässt sich der Autor die mögliche Herkunft der Märchen aus der Vorzeit: Ist der Frosch – der mal geküsst, mal an die Wand geworfen wird – nicht in vielen Mythen der Welt ein Fruchtbarkeits-Symbol? Findet sich nicht das zentrale Motiv des Brutalo-Märchens vom „Machandelbaum“ schon in der Zerstückelung des ägyptischen Gottes Osiris? Ist die abenteuerliche Reise, von einem, der auszog das Fürchten zu lernen oder von dem, der einen Goldklumpen so lange tauscht bis er ihm als Stein vom Herzen fällt, nicht bereits in den Erzählungen der Höhlenmenschen angelegt, wenn sie denn von der anstrengenden Mammutjagd zurück kommen und die Beute durch ihre Erzählungen vergrößern? In vorzüglichem Deutsch reiht Maar eine Vermutung an die andere, bleibt beweisbare Verbindungen gern schuldig und mag uns nicht sagen, wann und wo er denn die Gespräche der Höhlenmenschen mitgeschnitten hat.

Was wissen wir von Michael Maar? Dass er der sprachmächtige Sohn von Paul Maar ist, der sich Mitte der 60er Jahren eine Reihe von Märchen ausgedacht hat. Darunter auch eine Neufassung von Hänsel und Gretel, in der die Rollen umgeschrieben sind: Die Hexe ist gut und die Kinder sind böse. Und wir wissen auch, dass wenige Jahre zuvor Hans Traxler eine Wissenschaftssatire geschrieben hat, in der Hänsel und Gretel der Hexe das Lebkuchenrezept entwenden wollen und sie später ermorden. Es gab damals nicht wenige, die Traxlers Fassung für die wirkliche Wahrheit hielten. Liegt hier die Spur, die Michael Maar aufgenommen hat, wenn er diverse Sexsymbole in die Märchen hineindeutet und eine homoerotische Verwandtschaft von Andersens Meerjungfrau-Motiven mit Thomas Manns Zauberberg-Themen behauptet? Das wäre dann ein wundervolles, fröhliches Fake. Wenn nicht, bleibt immer noch ein Essay, dessen Unterhaltungswert weit über dem halbwegs wahren Märchen vom bösen Wulff liegt, der keine Geisslein gefressen hat aber doch vom Springer-Konzern versenkt wurde.
Buchtitel: Hexengewisper
Autor: Michael Maar
Verlag: Berenberg

Mit Dank Herrn Gellermann und die Rationalgalerie

Ehe ich es vergesse: Amazon ist Böse, kauft bei den kleinen Buchhändlern.

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