Jetzt geht ja ein Ruck der Hoffnung durch das Land: Der Bundestag hat den Bürger entdeckt. Das war besonders für Regierungsmitglieder schwer, die durch die getönten Scheiben der Nobellimousinen generell kaum noch Kontakt zur Wirklichkeit bekommen und ohne Zuarbeitung diverser Fachreferenten schon allein die Nachrichten kaum noch verstehen würden.
Das man wach geworden ist, hat einen Grund. Trotz der staatlich verordneten Aufschwungeuphorie bleibt der Bürger grimmig. Um das zu erkennen, braucht man eigentlich keine Studien, dazu reicht ein Spaziergang durch die nächstgelegene Einkaufspassage oder ein Blick in vorbeisausende Automobile. Solche Erfahrungen macht man nicht durch getönte Scheiben … und um sich solche Erfahrungen zu ersparen, tönt man die Scheiben ja gerade und läßt sich die Welt lieber durch den Fachreferenten erklären. Was dieser jedoch von der Welt zu berichten hat, findet sich unter anderem in der Welt:
Es ist schon ein Kreuz mit den Deutschen. Ihre Wirtschaft boomt, die Regierung erhöht ihre Wachstumsprognose für dieses Jahr von 1,8 auf 2,1 Prozent, und doch sind nur noch 48 Prozent der Bürger von den Vorzügen der sozialen Marktwirtschaft überzeugt, ergibt eine Studie des Bankenverbandes.
Mitte der 90er-Jahre waren es fast doppelt so viele. Heute wollen 90 Prozent sogar eine neue Wirtschaftsordnung, in der Umweltschutz einen höheren hat als bisher und die den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft anstrebt, ist das Ergebnis einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung.
90 % wollen eine neue Wirtschaftsordnung? Das heißt … 10 % sind schon Millionäre? Nun, das könnte man ja noch hinnehmen, das hat man ja gewollt: eine superreiche Kaste von Leistungsträgern schaffen, die dann den gesetzgebenden Politikern so richtig dankbar sind, weshalb es mitlerweile zwischen Politik und Wirtschaft einen fliegenden Personalwechsel ohne Rücksicht auf Fachkompetenz gibt. Nun – die hatte man vorher auch nicht, dafür gab es ja Fachreferenten.
Das Grummeln des Deutschen geht deshalb auch weiter:
Das Volk hadert sogar mit der Demokratie. Eine Mehrheit von 65 Prozent traut der Politik die Lösung dringender Probleme nicht mehr zu. Und 60 Prozent sind der Ansicht, Politik werde zu häufig gegen die Wünsche der Menschen gemacht, ergab eine Emnid-Umfrage im Dezember 2010.
Na, das muß man mal positiv sehen: immerhin trauen 35 % der Bevölkerung die Lösung dringender Probleme zu – der Rest hat Hör- und Sehhilfen im Einsatz. Immerhin 40 % meinen, Politik werde ab und zu auch zum Nutzen der Bürger gemacht – hier wirkt wohl noch das katholische Prinzip von „Glauben und Vertrauen“ stark nach.
Natürlich sieht man die Gefahr: die liebgewonnenen Seilbahnen zu den Aufsichtsratssesseln sind bedroht. Da drohte Ungemach – obwohl man es geschafft hat, das die Deutschen 2010 noch länger vor dem Fernseher saßen als die Jahre zuvor. Das Volksverblödungsprogramm „Brot und Spiele“ läuft rund um die Uhr auf allen Kanälen und trotzdem haben die Deutschen noch eine eigene Meinung und nach dieser geht es ihnen schlecht.
Liegt ja vielleicht daran, das der Lohn von dreissig Jahren harter Arbeit darin bestehen kann, das man im Krankheitsfalle seine Ersparnisse aufbrauchen darf, um die Sozialkassen zu schonen. Oder das es immer mehr Kranke gibt, obwohl die Ärzte immer mehr verdienen. Oder das die auch sonst beispielhaften Chinesen mit 60 in Rente gehen, während wir momentan schon bis 67 schuften dürfen und somit noch mehr Chancen haben, vor Erreichen des Rentenalters bei der ARGE zu landen.
Es liegt vielleicht daran, das Familienglück heutzutage bestraft wird – man nennt Familie modern „Bedarfsgemeinschaft“ und erfährt nebenbei, das die ARGE auch eine Trennungsprämie in Form von Alleinerziehendenzuschlägen zahlt. Vielleicht liegt es daran, das Vater und Mutter sich in 50-Stundenwochen zu Tode schuften und sich von Lehrern als Dank dafür anhören dürfen, das sie keine Zeit mehr für ihre Kinder haben und die zu schlecht auf den Unterricht vorbereitet sind. Möglicherweise liegt es auch daran, das die Medien voll von strahlenden Märchen vom schnellen Geld als Superstar sind, während man selbst seine Kinder für eine Ausbildung als Automechaniker oder Krankenschwester motivieren soll oder viel Geld erwirtschaften muß, um sie nach dem Studium durchs Praktikum zu bringen.
Es mag auch daran liegen, das auch die Berufstätigen langsam merken, das die Jagd nach Wachstum ihnen keine Zeit zum Leben mehr läßt, wie ein berufstätiger Leser in einem Kommentar zu dem Artikel anschaulich beschreibt:
Natürlich bin ich sehr glücklich, weil ich gesund bin und in einer harmonischen Ehe lebe. Das ist auch das Allerwichtigste.
Ich bin aber voll berufstätig und fühle mich ständig überlastet. Die Anforderungen werden immer höher, ich kann nachts oft schlecht schlafen, habe Angst zu versagen und habe keine Freizeit. Ich würde gern etwas kürzertreten, das geht aber nicht bei dem Arbeitgeber. Entweder ganz oder gar nicht, deshalb bestimmt die Arbeit mein ganzes Dasein. Deshalb wäre ich glücklicher, wenn ich alles ein wenig „entschleunigen“ und mal eine Auszeit nehmen könnte. Viele suchen Arbeit, ich habe eine und schaffe es nicht mehr. Man kann es sich nicht aussuchen, aber weniger wäre manchmal wirklich mehr. Man kann nicht immer nur im Turbo funktionieren.
Das sind Erfahrungen, vor denen auch „Führungskräfte“ nicht gefeit sind, wo es sich doch eingebürgert hat, für 50 % mehr Gehalt 100 % mehr Leistung zu fordern, weil es genug Menschen gibt, die diesen Kuhhandel gerne mitmachen, bis sie merken, das sie doch keine Maschine sind und vor allem: altern.
Eigentlich hatten wir das mal so geplant, dass man in der Jugend richtig ´reinhaut, um im Alter dann kürzer treten zu können. Stattdessen gibt es für die Jugend Praktikum und für das Alter Hartz IV.
Kann es sein, das es da Zusammenhänge zum Glücksempfinden gibt?
Kann es sein, das man … nicht zu schnell über die Armen lachen sollte?
Übrigens gelten die Bürger von Bhutan, einem der ärmsten Länder als die zufriedensten der Welt. Bhutan war das erste Land, das das „Bruttoglücksprodukt“ eingeführt hat. Gemessen wird es, indem die Regierung die Zufriedenheit der Bürger mit der Entwicklung von Bildung, Umwelt, Kultur und Sozialem feststellt.
„Man benötigt nicht viel Intelligenz, um einzusehen, dass das endlose Streben nach materiellem Wohlstand in einer Welt mit begrenzten Ressourcen nicht nachhaltig ist“, sagte der bhutanische Ministerpräsident Jigme Thinley einst auf dem UN-Millenniumsgipfel in New York.
Ich fürchte, ich weiß jetzt schon, was uns in Deutschland in zwei Jahren präsentiert wird: Hartz IV wird umbenannt in Glück 7 – und auf einmal sind alle Deutschen glücklich … oder eben reich.