Montag, 19.9.2011. In Berlin war gestern wohl wieder Wahl. Das freut Journalisten, denn endlich haben sie mal wieder ein Thema, über das sie ohne große Recherche schreiben können – ein bequemer Montag also. Meine erste Erfahrung heute morgen: es dauert inzwischen länger, die reale Wahlbeteiligung herauszufinden. Die Tagesschau meldet:
Zwar hatte sich im Laufe des Tages eine niedrige Wahlbeteiligung abgezeichnet, sie lag am Ende aber mit 60,2 Prozent leicht über dem Wert von 2006 (58,0). Viele Berliner Bürger nutzten die Möglichkeit der Briefwahl.
Das heißt: mehr als ein Drittel der Gesellschaft hat sich inzwischen von der Demokratiepropaganda verabschiedet – was kein Wunder ist, haben wir doch in den letzten Jahren deutlich gemerkt, das Politik nur noch das ausführende Organ der Finanzwelt ist. Hat die Finanzwelt ihre Claims abgesteckt, dürfen die anderen Lobbyisten der Wirtschaft ihre Ansprüche geltend machen und sich um den Rest streiten, ist der Lobbyist gut, dann fällt sogar mal was für die Umwelt ab. Hat dann letztlich jeder seinen Bauauftrag, seine Fortbildungsreihe oder seine Abschreibungsmöglichkeiten durchgebracht, dürfen Politiker den Rest bei jenen Menschen verteilen, die nicht genug Geld für einen Lobbyisten zusammengespart haben.
In Zeiten knapper Kassen heißt das: es muss sogar noch etwas gezahlt werden, ein mehr ist selten drin, siehe Handelsblatt:
Trotz des Wirtschaftsaufschwungs sind die Reallöhne in Deutschland im vergangenen Jahr nach einem Pressebericht nur leicht gestiegen. 2010 hätten sich die Einkommen der Arbeitnehmer real lediglich um 0,6 Prozent erhöht, berichtet die Zeitung «Die Welt» unter Berufung auf einen Bericht der EU-Behörde Eurofound, der am Dienstag vorgestellt werden soll. Damit liege Deutschland europaweit im Mittelfeld.
Das ist das, was immer mehr Deutsche realisieren: wenn irgendwo im Lande Aufschwung ist, bleiben sie selber draussen – sie sind Fremde im eigenen Land. Abkassieren tun andere – und wir wissen auch genau wer, wo und warum.
Der Kampf um Wählerstimmen ist im Jahre 2011 nicht mehr der Kampf um politische Inhalte, sondern der Kampf darum, wer den Job als ausführendes Organ der Finanzindustrie bzw. der Wirtschaftsverbände bekommt. Insofern könnte man den Wahlsieg der Piratenpartei so deuten, das es sich hier um einen Kampfbund zur Pöstcheneroberung handelt, der nun endlich die ersehnte Wahlkampfkostenerstattung als Beute nach Hause trägt und sich zurecht Hoffnung machen kann auf einen der heißt umkämpften Pöstchen als Banken- und Verbandsbüttel, wenn nicht … ja, ein kleiner Haken bei der Partei wäre.
Der Spiegel weist darauf hin:
Die Piraten haben, was andere verloren haben: Glaubwürdigkeit
„Glaubwürdigkeit“ – wenn nur noch die Piraten das haben … was ist dann mit den „Altparteien?“. Hier sei der Umkehrschluss erlaubt, das der Spiegel selbst sie für eine betrügerische Lügenbande hält … was für unsere Zukunft Übles erahnen lässt, denn noch gibt es genug Menschen, die ihre Stimme dem Hartz-Block bzw. dem Bankenclan geben.
Ein Blick in das Programm der Berliner Piratenpartei verrät, das hier inzwischen mehr als nur der Blick auf die erbeutbaren Steuergelder wirkt:
Die PIRATEN Berlin werden sich kurzfristig für einen bundesweiten gesetzlichen
Mindestlohn und mittelfristig für ein Grundeinkommen einsetzen. Dieses Grundeinkommen wird für alle Bürger mit ständigem Wohnsitz oder unbefristetem Aufenthaltsrecht in Deutschland, ohne weitere Bedingungen, eingeführt. Langfristig
soll das Grundeinkommen in gleicher Weise existenzsichernd sein, wie der gesetzliche Mindestlohn und ihn schrittweise ablösen.
Man hält es kaum für möglich – aber es scheint, als hätte die Vernunft Einzug in die Politik gehalten.
Wir werden die Aufgabe der Sicherung der Infrastruktur zurück in kommunale und
staatliche Verantwortung übertragen. Die Privatisierung von Diensten, wie Gas-,
Strom- und Wasserversorgung, sowie Abwasserbehandlung lehnen wir ab. Das
Wahrnehmen der Aufgaben zur Daseinsfürsorge und Sicherung der Infrastruktur
stärkt die Strukturen der Gesellschaft. Wir unterstützen daher das Anliegen des
Berliner Wassertisches, die Rückabwicklung der Verträge zur Teilprivatisierung der
Berliner Wasserbetriebe umzusetzen. Vor einer Rückübertragung sind die zwischen
dem Land Berlin und RWE abgeschlossenen Verträge im Detail zu prüfen. Bereits
jetzt wurde festgestellt, dass die Verträge eine zeitlich unbegrenzte Gewinngarantie aufweisen. Einen Rückkauf seitens des Landes Berlin lehnen wir unter diesen
Bedingungen vor Abschluss der Prüfung der Verträge und ihrer Auswirkungen ab.
Hier hatte sich doch wohl in der Tat jemand über allgemeine Staatsphilosophie Gedanken gemacht. Darf man sich jetzt Hoffnungen machen, das die Piratenpartei ihren neoliberalen Kurs verlassen hat, das ihre braunen Flecken nur eine Jugendsünde waren? Man könnte denken, man hätte es mit undogmatischen Linken zu tun, dabei kommt der Oberpirat im Bundesgebiet von der Altpartei CDU.
Ist das nun das Zeichen für Glaubwürdigkeit? Wie soll ich das mit einer Partei unter einen Hut bringen, deren Kurs auch gerne mal mit „Anti-CDU“ beschrieben wird?
Oder darf ich vermuten, das die Piratenpartei Deutschland inzwischen von Politkarrieristen der Altparteien geentert wurde, ganz frei nach dem Motto: „Egal, was auf der Fahne steht, Hauptsache, ich stehe vorne?“
Lauschen wir dem Bundesvorsitzenden … und uns wir Angst und Bange:
Ich habe aber lange geglaubt, dass die Piratenpartei, wie viele andere neu gegründete Parteien, eine Eintagsfliege war, und habe deshalb da nicht angefangen mitzuarbeiten.
Man hat sowas in Deutschland ja schon erlebt – nicht nur einmal. Was ist den übrig von den einstigen Grünen, nachdem Sie von Politkarrieristen übernommen wurde? Was ist übrig von der WASG, nachdem Gewerkschafter, SED-ler und SPD-Schranzen der zweiten und dritten Garnitur erkannt haben, das es hier auf einmal Pöstchenchancen gab?
Und doch – bleibt ein Funken Hoffnung. Das sensationelle Abschneiden der FDP zeigt, das neoliberales Gedankengut in Reinkultur in Deutschland nicht mehr gesellschaftsfähig ist. Und geht man davon aus, das der Wahlerfolg der Piratenpartei keine Protestaktion war, sondern aufgrund des Programmes erfolgte, dann zeigt sich ein Hoffnungsschimmer: das solidarische Gemeinwesen als Organisationsform der Vernunft ist im Aufschwung, die Raubwirtschaft ist nicht mehr mehrheitsfähig.
Ändern wird es erstmal nichts … und zwar für lange Zeit. Hierzu mal ein Zitat aus der Welt:
Rot-Schwarz bedeutet eine Politik der harten Hand
Und diese „Politik der harten Hand“ erleben wir seit … dreissig Jahren? Und je mehr wir Bürger uns dagegen wehren, umso geschlossener rücken CDU/SPD/FDP/Grüne zusammen, umso mehr bildet der „Hartz-Block“ bzw. der Bankenclan eine feste Wagenburg, um seine Pfründe zu verteidigen. Mal verteidigt man seine Pfründe im Namen der Arbeitgeber, mal im Namen der Arbeitnehmer, gerne auch neutral im Namen der Umwelt.
Leider trübt die Forschungsgruppe Wahlen den Optimismus ein wenig, wie die Welt uns gerade informiert:
Die Piraten verdankten ihr sensationelles Abschneiden dagegen vor allem der Unzufriedenheit der Wähler mit den etablierten Parteien, teilte die Forschungsgruppe mit. Nur 10 Prozent hätten die Piraten wegen ihrer Inhalte gewählt.
Ist das nun wahr … oder doch auch nur Propaganda, um den Sensationserfolg der Piraten klein zu reden?
Nach einer Analyse des Meinungsforschungsinstitutes Dimap konnten die Piraten allein 21.000 Berliner aus dem Lager der Nichtwähler mobilisieren. Die Internet-Partei dürfte damit erheblich Anteil daran haben, dass die Wahlbeteiligung in Berlin nicht noch weiter gesunken, sondern erstmals seit Jahren wieder leicht auf mehr als 60 Prozent gestiegen ist.
Na, sieh mal einer an. Aber was haben die denn dann gewählt, wenn es keine Inhalte waren? Warum ist man denn dann zu den Wahlurnen gegangen? War es vielleicht doch … ein Schlagwort wie „Grundeinkommen“ – oder hatten die nur eine feschere Farbe?
Ich fürchte, der Vorsitzende der Piratenpartei wird noch eine Enttäuschung erleben – und merken, das es doch nur eine Eintagsfliege war. Wenn die Wähler merken, das man eine Partei gewählt hat, die gar keine Politik machen will sondern nur auch mal gewählt werden möchte, dann werden sie schnell wieder zu Hause bleiben, wenn Wahltag ist.
Ab jetzt … werden auf jeden Fall ganz viele Politikschranzen von rechts und links das Piratenboot entern wollen – sicher quellen die Büros schon vor Eintrittsgesuchen über.
Ein Tip: Westerwelle ist gerade ganz billig zu haben.
Was bleibt ist … einen Glückwunsch auszusprechen – trotz aller Bedenken. Wenn sie es geschafft haben, Nichtwähler zu motivieren, ist das eine gr0ße Leistung für unsere Demokratiefassade … die aber dadurch wieder eine Chance bekommt, mehr als nur Fassade zu sein.
Und vielleicht erkennt jetzt auch der Hartz-Block, das es sich manchmal lohnt, glaubwürdig zu wirken … auch wenn gerade das unseren gestandenen Politikern ganz ganz ganz schwer fällt.