Es gibt Tage, da komme ich über eine einzige Internetseite nicht hinaus – zu groß ist die Vergewaltigung des menschlichen Denkvermögens im Sinne der Meinungsbildung, als das man sie unkommentiert stehen lassen sollte. Heute war es die WELT, die mich staunend mit offenem Mund vor dem Bildschirm festhielt, allen voran natürlich: Rainer Werner, seines Zeichens pensionierter Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, der kurz mal einen Abstecher in die Bereiche Motivationspsychologie, Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaft macht und so die Wahrheit eines alten Spruches über seine Zunft bestätigt: „Lehrer haben von nichts eine Ahnung aber zu allem eine Meinung“. Wir ahnen jetzt schon, warum der deutsche Schüler bei Pisa nie eine Chance hat:
Mit kluger Lebensführung und heimlicher Schwarzarbeit kann man mit Hartz IV tatsächlich ein sorgenfreies Leben führen, ohne wie die arbeitenden Zeitgenossen dem frischen Wind von Markt und Krise ausgesetzt zu sein. Auch der Sorge um steigende Mieten und explodierende Heizkosten sind sie enthoben, weil dafür die Gemeinschaft aufkommt.
In der Tat ein kluger Satz. Mit kluger Lebensführung und einem Lottogewinn plus Hartz IV kann man auch tatsächlich ein sorgenfreies Leben führen, ebenso mit kluger Lebensführung und einem festen Arbeitsplatz plus Hartz IV. Was man mit Schwarzarbeit verdienen kann, weiß ich nicht – ich schätze aber mal, das Schwarzarbeit plus Hartz IV mehr einbringen würde als Hartz IV alleine.
Schwarzarbeit ist verboten. Schwarzarbeit ist asozial – ebenso wie das Verhalten von Staatsdienern, die ihr Leben lang dem Steuerzahler auf der Tasche liegen und mit einem Federstrich alle Arbeitslosen der Republik zu Kriminellen erklären.
Natürlich kommt die Gemeinschaft nicht für steigende Mieten auf, noch für explodierende Heizkosten – aber von den Grenzen „angemessenen Wohnraums“ und der ständigen Angst, bei der nächsten Mieterhöhung auf der Straße zu sitzen hat der staatlich alimentierte Lehrer natürlich noch nie etwas gehört, ebenso wenige davon, das auch die Heizkostenzuschüsse begrenzt sind. Na ja, den „frischen Wind von Markt und Krise“, von dem er so schwärmt als wäre es ein belebendes Elixier, kennt er als Deutschlehrer am Gymnasium wahrscheinlich auch sehr genau. Warum er so etwas schreibt? Nun – es gibt „Zeilengeld“. Ich hoffe, das ist mit seinem Dienstherren abgesprochen … und ich habe kaum Hoffnung, das die deutsche Jugend im internationalen Bildungsvergleich besser abschneidet, wenn ihre Lehrer nichts Besseres zu tun haben, als ihr eigenes Halbwissen stolz der Republik zu präsentieren.
Das dies gerade in der WELT veröffentlich wird, sollte aber nicht weiter verwundern. Hier findet man die absonderlichsten Meinungen jenseits aller Plausibilität, Meinungen, die sich nur bilden können, weil man die eigenen Nachrichten nicht lesen will. So fand ich gestern einen Artikel, der mich aufhorchen lies, weil nach Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Großbritannien ein weiteres Land Probleme bekommt:
Korrupter als Ruanda, geplagt von der Mafia im Süden, begraben unter Müllbergen – Italien droht der wirtschaftliche Absturz.
Auch hier eine Entwicklung, die weltweit zu beobachten ist: der Anstieg der Macht der Mafia:
Die Cosa Nostra in Sizilien, die Camorra in Neapel, die Ndrangheta in Kalabrien setzten der Nichtregierungsorganisation SOS Impresa zufolge im vergangenen Jahr 135 Milliarden Euro um und machten 70 Milliarden Euro Gewinn. Die Mafia ist Italiens größtes Unternehmen. Der staatliche Ölkonzern Eni verdiente bei 83 Milliarden Euro Umsatz nur vier Milliarden Euro.
Heute kommen die Mafiosi nicht mehr maskiert und mit Pistole in der Hand. Heute sind sie hilfsbereite Investoren.
Die Mafia fasst vor allem dort Fuß, wo der Staat schwach ist. Und wo Politiker und Beamte durch Korruption und Vetternwirtschaft eine transparente und effiziente Verwaltung verhindern.
Kein Wunder, das auch deutsche Konzerne gerne mit diesen Herren Geschäfte machen. „Geld stinkt nicht“. Gegen die Mafiaverstrickungen der Partei Berlusconis wird gerade ermittelt … und gegen diesen Herren findet die WELT erstaunlich klare Worte:
Längst ist er zum Synonym für einen neuen Autoritarismus geworden – der freilich nicht, wie frühere autokratische Systeme, die Demokratie kurzerhand beseitigt, sondern sie schleichend unterminiert, als Fassade aber belässt. Die eigentlichen Entscheidungen aber fallen hinter den Kulissen, gemäß der Willkür eines selbstherrlichen, charismatischen Patriarchen, der seine Macht auf Günstlingswirtschaft stützt, dabei seine Verachtung für Recht und Gesetz nicht mehr verbirgt und sich so lange wie möglich an sein Amt klammert, weil es ihn vor Strafverfolgung schützt.
Dieser „Autoritarismus“ haben wir in Deutschland unter Kohl ebenso kennengelernt – dem waren seine Freunde auch lieber als sein Land und seine Bürger.
Ist die „Berlusconisierung“, also die Herausbildung einer zweiten, verdeckten Machtstruktur jenseits der offiziellen Institutionen das Menetekel des Niedergangs der rechtsstaatlich verfassten Demokratien? In Deutschland ist diese Entwicklung längst nicht so weit fortgeschritten wie in Italien oder Frankreich. Erste Symptome wie das Zerbröckeln des Nachkriegs-Parteiensystems und der fortschreitende Vertrauensverlust der „politischen Klasse“, sowohl in den Eliten wie im „Volk“, sind freilich auch bei uns zu beobachten.
Bei einer wachsenden Zahl von Bürgern verfestigt sich die Überzeugung, „die da oben“ – womit Politik, Wirtschaft und der staatliche Verwaltungsapparat gleichermaßen gemeint sind – hätten sich miteinander verschworen, um hinter dem Rücken der Bevölkerung nach Gutdünken schalten zu können.
Woher könnte nur dieser Verdacht kommen, diese ungeheuerliche Verschwörungstheorie, das ein „Putsch von oben“ die Republik zum Biotop für Neureiche machte? Gut, diese Idee stammt aus einem Artikel von Arno Luik aus dem „Stern“, aber jedes ältere Semester merkt, das der „frische Wind von Markt und Krise“ einen fauligen Pestilenzgestank von Ausbeutung und Sklavenarbeit vor sich hertreibt, denn der Niedriglohnsektor ist nicht vom Himmel gefallen, er war – wie Hartz IV – das Ergebnis des Schulterschlusses zwischen Politik und Wirtschaft, der in der Gestalt des „Kanzlers der Bosse“ seine Symbolfigur im italienischen Maßanzug fand.
Vor über 60 Jahren sah Burnham eine neue Klasse von „Managern“ zur Herrschaft gelangen. Sie degradiere die Politik, aber auch die individuellen Kapitalisten alten Typs zu Randfiguren eines im Selbstlauf funktionierenden Apparats, der von technokratischen Administratoren in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft betrieben werde. Der Tendenz nach totalitär, könne es sich diese Herrschaftsform gleichwohl erlauben, demokratische Freiheiten formal aufrechtzuerhalten.
Man könnte meinen, wir leben in der Welt Burnhams, die uns eine erschreckende Alternativlosigkeit beschert, der unser Gymnasiallehrer mit Leidenschaft auf den Leim geht. Hunger und Kälte als Strafe für Arbeitslosigkeit motiviert ja auch viel besser als Geld für Arbeit – und wenn nicht, dann hat man eben einen unnützen Esser weniger. Hauptsache das „Lohnabstandsgebot“ wird eingehalten, was bei sinkenden Löhnen irgendwann logischerweise im Lager endet, wenn nicht andere Gebote höher geschätzt werden: die weltlichen Gebote der Menschenrechte oder das überweltliche Gebote der Nächstenliebe.
Doch der Autor der Welt sieht – entgegen der weiläufigen Ausführungen seines Artikels – die Gefahr für die Demokratie anderswo:
Ja, es ist der „Wutbürger“, der langsam merkt, das immer mehr Politiker nach für die Kapitalvermehrung erfolgreicher Politik in der Wirtschaft gut dotierte Positionen bekommen, das das viel gepriesene „Wachstum“ nur Steuermittel verschlingt, die als Schuldenberge unsere Altlasten werden und das „Finanzjongleure“ die Zukunft des Kontinents bedrohen, wie die WELT heute selbst in einem fiktiven Horrorszenario beschreibt:
Schon zu Handelsbeginn sieht es aus, als habe sich alle Welt gegen die Europäische Währungsunion verschworen. Die Finanzjongleure ziehen massenhaft ihr Geld ab. Zuerst fallen die Kurse für portugiesische Staatsanleihen. Bald darauf infizieren sich die Spanier. Die Zinsen für ihre Bonds klettern in ungekannte Höhen – das Land, das sich noch Milliarden Euro am Kapitalmarkt besorgen muss, steckt in der Klemme. Die Investoren haben damit den Stab über das EU-Rettungspaket gebrochen, das vier Wochen zuvor in Brüssel verabschiedet worden war. Mit ihrem Käuferstreik signalisieren sie: Wir haben das Vertrauen in die Eurozone verloren. Seitdem herrscht Panik in den Hauptstädten Europas.
Was ist nun gefährlicher für die Demokratie – der Autokrat, der mit mafiösen Geschäftsmethoden Fäden hinter den Kulissen zieht und deshalb Wikileaks fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, der Finanzjongleur, der mit der Arbeitskraft von Millionen brandgefährliche Spielchen spielt, die in der Verarmung der Massen endet, von denen die Anleger sich ihre Rendite holen, der Gymnasiallehrer, der noch nie von „Aufstockern“ gehört hat und uns eine erschreckend naive, ungebildete falsche Weltsicht präsentiert aber dafür trotzdem fürstlich mit Ferien, Alimenten und Zeilengeld belohnt werden möchte oder der Bürger, auf dessen Rücken das Theater aufgeführt wird?
Die Antwort ist einfach, nimmt man jenen Lehrer ernst: der Arbeitslose. Über den sollte sich der Wutbürger aufregen, dann wird alles gut. Was wieder einmal zeigt: Rilke zitieren und die wichtigsten Daten des dreißigjährigen Krieges auswendig zu können schützt nicht vor Dummheit. Es erinnert mich aber an die Erfahrung einer Freundin von mir, die ihren Sohn auf eine englische Privatschule geschickt hat, die er als Einserkandidat mit Empfehlungen für Oxford und Cambridge verlies, während das deutsche Gymnasium ihm die Realschule nahelegte.
Der Unterschied? In den englischen Schulen wurden die Lehrer nach Leistung bezahlt, sie gaben den Unterricht, die Noten gaben andere – fielen zu viele Schüler durch, war der Unterricht schlecht und der Lehrer bekam den „frischen Wind von Markt und Krise“ zu spüren. Das scheint mir ein Modell zu sein, das auch für deutsche Gymnasien alternativlos scheint, wenn wir uns in Zukunft solche Phantasiekonstrukte in Zeitungen ersparen wollen und stattdessen lieber hervorragend ausgebildete Schüler haben möchten.
Wie ein solcher Lehrer die Kinder von Langzeitarbeitslosen in seinem Unterricht behandelt, hätte ich gerne mal beobachten. Ich fürchte, im Laufe der Zeit würde man sehen, das Ähnlichkeiten zu der Behandlung jüdischer Schüler in der Zeit des Nationalsozialismus zu erkennen sind – was ja auch im Sinne der Selektion gewünscht ist. Erschreckend ist allerdings die Vorstellung, welches Weltbild Lehrer dieser Art ungestraft den Schülern vermitteln – und vielleicht ist das für die Demokratie in Zukunft sogar noch schädlicher als die selbstherrlichen Autokraten im Management von Politik und Wirtschaft.
Noch ein Abschiedswort unseres Gymnasiallehrers, der entgegen der Angabe der Welt nicht mehr an dem Berliner John-Lennon-Gymnasium arbeitet sondern nach eigenen Angaben seit 2009 pensioniert ist?
Bitte schön:
Zur Zeit August Bebels hieß der Wahlspruch der Sozialdemokraten und Sozialisten: „Arbeit adelt!“. Denn Arbeit dient nicht nur dem Broterwerb. Sie ist eine wichtige Quelle von gesellschaftlicher Teilhabe und persönlicher Selbstverwirklichung. Nun hält ein neues Motto Einzug: „Stütze adelt!“
„Stütze adelt“ … das werden Millionen von Hartz-Abhängigen erfreut zur Kenntnis nehmen, deren Adel in einem De-facto-Hausarrest und der Einschränkung der Reisefreiheit besteht und deren Kinder – dank solcher Lehrer – niemals eine Chance haben werden.