Die Krankschreibung der ganzen Gesellschaft kann auch als spätes Kulturphänomen der gescheiterten Revolution von 1968 gedeutet werden. Derweil inszeniert das Bundespräsidialamt einen Kritikertisch — und will demnächst dem Angstmacher der Nation, Christian Drosten, das Bundesverdienstkreuz umhängen.
Ein Standpunkt von Anselm Lenz.
So richtig hatte es damals nicht klappen wollen und so ganz war es vielleicht gar nicht gewollt worden: Die westlichen Revolutionäre des Jahres 1968 probten den Aufstand ausgerechnet in jenen Jahren, in denen sich tatsächlich einmal die Verheißung von Freiheit und Gleichheit einzulösen schien: Bildung für alle und die Öffnung der Universitäten, Lohnsteigerungen, Vollbeschäftigung, die Möglichkeit, auch mit kleinen Jobs auszukommen und eine bescheidene, aber doch zählbare Vermögensbildung sogar für Hilfsarbeiter. Öffnung aller zivilen Berufe für Frauen, rechtliche Gleichstellung, Abschaffung der Kriminalisierung von Minderheiten. Das Versprechen des Aufstiegs in den bürgerlichen Lebensstil für alle, etwa mit Musikunterricht für die Kleinen.
Männer wie der spätere Außenminister Josef Fischer oder der ebenfalls nicht sehr friedliebende spätere Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit machten sich also zu einem Zeitpunkt zur letzten gesellschaftlichen Grenze auf, der sozialen Revolution, als sie selbst bereits in den Genuss aller Segnungen der Gesellschaftsform einer Republik und eines sozial engagierten Rechtsstaates gekommen waren.
httpsv//youtu.be/Bp0HsOil8sQ
Montag, 24.3.2014. Eifel. Na – Sie sind aber leicht steuerbar, nicht wahr? So einen Untertan wie Sie hätte ich gerne: devot, immer sprungbereit, neue Befehle zu empfangen – und dann auch noch voller geheuchelter Freude fortlaufende Kürzungen der Lebensqualität hinnehmen: einfach Klasse. So wünscht man ihn sich, den Bürger, so wird er auch im Hintergrund der medialen Dauerberieselung immer dargestellt: in Krimis, Fernsehserien oder der Werbung. Ja – das macht man heute indirekt. So wurde ja auch die Jugendrevolte der ´68er gründlich ausradiert – und alle folgenden durch gezielt platzierte Rollenvorbilder und ein paar dicke Geldpreise für Gesang, Tanz und Laufstegswanderungen für immer und ewig unmöglich gemacht. Ja: „teile und herrsche“ – der Spruch führt direkt zu einer Show, wie „Wer wird Millionär“. Da verschenkt man eine Million für das Abfragen zweitklassigen Sachwissens und legitimiert so zum erstenmal die Schulbildung (zur Freude jeden Lehrers), da hat dann jeder das Gefühl: wir sind dabei! Die Welt ist doch gerecht!
Und es kommt ja auch nur auf das Gefühl an. Und Gefühle kann man gezielt steuern – von Außen. Macht jeder Werbepsychologe, wird aber in Untertanenkreisen recht selten thematisiert. Ja, was meinen Sie denn, warum die Parteien der großen Koalition immer noch so viele Stimmen bekommen, obwohl das Volk gegen Genmais, gegen den Einsatz deutscher Truppen im Ausland oder gegen die Kriminalisierung der Arbeitslosigkeit ist? Nun – die wollten ja auch nicht für Bankenpleiten oder Superboni zahlen – und müssen das trotzdem. Die müssen auch hinnehmen, dass zwei Euro Kindergelderhöhung gestrichen wurden, um damit 800 Euro Diätenerhöhung zu bezahlen. Na ja – Diäten sind gesund, dafür zahlen die Kinder sicher gern. Alles ein Erfolg gezielter Manipulation von Gefühlen.
Warum machen die eigentlich nicht den Maidan in Berlin auf? Ich meine: wir haben doch jetzt gesehen, dass man korrupte Regime nur mit Waffengewalt aus dem Amt jagen kann – und alle westlichen Regierungen haben das gut geheißen. Der Einsatz von Gewalt gegen Regierungen scheint also im Prinzip nicht mehr so verpönt zu sein, wie es noch vor ein paar Jahren war – jedenfalls seitens der Regierung. Trotzdem bleibt das Volk daheim, süchtelt sich von Show zu Show und träumt von besseren Zeiten.
Wie kriegt man so etwas nur hin?
Dazu gibt es viele Antworten, ich möchte hier nur eine davon erläutern, die mir zu selten zur Sprache kommt: der Terror der Schuld.
Schuld? Sie fühlen sich nicht schuldig? Wirklich nicht?
Schon mal aus dem Fenster geschaut, direkt vor die Haustür? Ja – da steht eine gelbe Tonne. Und eine blaue – neben der alten grauen. Haben Sie keinen Komposthaufen, dann haben Sie wahrscheinlich noch eine grüne oder braune Tonne. In der Eifel hat man noch Komposthaufen: Nahrungsmittel sind halt im Prinzip zu wertvoll, als dass man sie nutzlos verbrennen sollte.
Warum stehen die Tonnen da?
Nun – weil SIE SCHULD HABEN! Artensterben, Waldsterben, Mutterbodenschwund, Giftfluten in jeder Form: DAS WAREN SIE! Lernt man in jeder Schule von klein auf. Früher, da haben Sie nur Juden, Andersdenkende und Andersartige vergast, heute vernichten SIE den ganzen Planeten.Diese Schuld müssen Sie jetzt abarbeiten. Die Unternehmen und Regierungen, die das Versorgungssystem so umgebaut haben, dass es nur noch mit der Produktion von irrsinnigen Mengen an Verpackungsmüll läuft, sind daran völlig unschuldig.
SCHULD – das ist auch eine besonders deutsche Qualität. Wichtiger als die Lösung des Problems ist die Frage, wer Schuld daran hat. Hat man den gefunden, kann man den auf dem Scheiterhaufen verbrennen und der böse Fluch ist vom Dorf genommen – das war schon eine Eigenart der alten Germanen.
In den Managementseminaren der neunziger Jahre hatte man uns beigebracht, dass wir unser deutsches Denken ändern müssen. SCHULD sei doof, wurde dort gepredigt. Man hielt uns an, nach Japan zu schauen: dort wurde nicht der Schuldige bestraft, sondern gemeinsam mit ihm das Problem gelöst: das hatte sich als betriebswirtschaftlich viel effektiver erwiesen. Ich hatte mich zwar eher an andere Eigenarten der japanischen Kultur erinnert („Harakiri“ – bei Versagen), war aber offen für die neue Botschaft.
Immerhin: wo findet man in Deutschland schon Menschen, die sich nach einem Autounfall zusammensetzen und sich überlegen, was sie gemeinsam tun können, um den Prozessablauf im Straßenverkehr so zu optimieren, dass ihnen das nie wieder geschieht? Eher hat man doch zwei Schreihälse am Ort, die sich gegenseitig die Schuld zuschieben … als würde das die toten Beifahrer wieder lebendig machen.
Ebenso sollten wir nach den USA schauen: hatte dort jemand eine Firma vor die Wand gefahren, galt er als „erfahren“ und „besonders wertvoll“. Schraubt man sein schuldsüchtiges Deutschsein etwas zurück, merkt man schnell: da ist was dran. Sicher hat der Pleitier dies nicht gern getan – aber dafür wertvolle Erfahrungen gesammelt, die vielen anderen großen Nutzen bringen können … und ihm selbst erlauben, bei der nächsten Firmengründung umsichtiger und damit viel erfolgreicher zu agieren. So agieren „Winner“, so sagte man mir damals, während die altdeutsche Strategie eher die der „Looser“ war.
Ja, wir hatten damals noch keinen sozialdemokratischen „Niedriglohnsektor“, der den Konzernen erlaubt, trotz mieser Waren, schlechtem Service und elendig überzogener Spitzengehälter Supergewinne an Aktionäre auszuschütten. Damals hatten die Bundestagsabgeordneten ja auch noch nicht die Superultraluxusdiäten, mit denen sie am Aktienmarkt so richtig dick einsteigen konnten – auf Kosten der Minderversorgung des deutschen Nachwuchses.
Und wissen Sie, warum Sie so devot sind, so klein und miserabel?
Weil Sie SCHULD haben. Einen riesigen Batzen. Nicht nur ökologisch – auch sonst. Ihre Ansprüche an den Staat zum Beispiel: kaum auszuhalten. Wie eine Kuh würden Sie ihn melken, wenn man Sie nicht davon abhalten würde. Kein Wort mehr davon, das alles Geld des Staates eigentlich IHNEN gehört, dass sie stolz hervortreten und das Berliner Räuberpack auf besseren und sinnvolleren Einsatz IHRES Geldes verklagen sollten. Nein – SIE SIND SCHULD … wenn Sie von den 50% Steuern, die Sie real schon zahlen, ein wenig wieder haben wollen – für ihre Kinder, zum Beispiel.
Oder Ihre Ansprüche an die Wirtschaft. Die bieten ihnen wertvolle Arbeitsplätze, die Ihrem Leben Struktur geben … und Sie wollen das auch noch BEZAHLT haben: wie undankbar. Also: SCHULDIG!
Hunger in der Sahara? SIE SIND SCHULD – alles andere ist Verschwörungstheorie.
Stau auf der A1? IHRE SCHULD. Immerhin: wer steht denn da drin, in dem Stau?
Krieg auf der Krim? IHRE SCHULD – Sie haben den Putin zu positiv beurteilt.
Hunger? Durst? Kalt? Oh man, was sind Sie für ein Weichei! Und schuldig – wegen Ihren Mangelgefühlen leidet der ganze Planet.
Krankheit? SELBST SCHULD – falsch gegessen, falsch bewegt, falsch gedacht. Das Ägypter die Plage Krebs mangels Umweltgiften kaum kannten, erfahren Sie nur durch Projekte, die jenseits des Mainstream im Sumpf der Verschwörungstheorien blühen und die falschen Schuldigen suchen: Konzerne, Labore, Regierungen.
Deshalb haben wir hier auch so eine besondere Rezeption des Christentums: die hatten gleich eine URSCHULD – das kam der germanischen Mentalität sehr entgegen. Während man in den USA zum Gottesdienst fröhlich singt und tanzt wird hier BEREUT. Da ist der Deutsche stolz drauf, das macht er jedesmal, wenn er seinen Joghurtbecher spült und ihn danach – gleich einem sakralen Akt – in den besonderen Mülleimer trägt.
Das Sie nie ihre Zustimmung zur Produktion von Joghurtbechern in Plastik gegeben haben, die 4000 Kilometer zurücklegen, bis sie auf seinem Tisch landen … das gehört in den Dunstkreis der Verschwörungstheorien, die beständig hinterhältig und gemein versuchen, von den wahren Schuldigen abzulenken: IHNEN und ihren Genossen! Ihnen wäre auch klar, dass der Aufwand ein keinem Verhältnis zum Ertrag steht, aber dank staatlicher Subventionen für die Transportindustrie rentiert sich das … auf Ihre Kosten. Ebensowenig hätten Sie für den lebensgefährlichen Wechselstrom gestimmt, der nur für die Industrie sinnvoll war und unzählige Leben gekostet hat, während der harmlosere Gleichstrom völlig in Vergessenheit geriet.
Wahrscheinlich wären Sie auch nie in irgendeine Art von Krieg gezogen. Da Sie aber SCHULDIG sind, wird dies zu ihrer heiligen, staatsbürgerlichen PFLICHT.
Achten Sie mal darauf, wie oft Sie täglich die Botschaft vernehmen, dass SIE SCHULD SIND!
Jedesmal, wenn Sie den Müll trennen, merken Sie: eigentlich nur Mist, was ich da produziere. Jedesmal, wenn sie billig einkaufen, wissen Sie: Sie schaden der deutschen Wirtschaft. Jedes Mal, wenn Sie Ihren Lohn erhalten, wissen Sie: damit schade ich der Rendite der Anleger. Jedesmal, wenn Ihnen Blähungen entfleuchen, wissen Sie: Sie schaden dem Klima – oder dachten Sie etwa, was für eine Milliarde Kühe gilt, gilt nicht für sieben Milliarden Menschen?
Damit nicht genug: sie werden auch noch krank und produzieren so KOSTEN. Nicht Lärm, Gifte in Nahrung, Wasser und Luft, Käfighaltung oder lebenslänglich unnatürliche Bewegungsmuster ruinieren ihre Gesundheit, sondern SIE selbst, einfach, weil sie DA SIND!. Zum Schaden von Arzthonoraren und Pharmaprofiten. Wenn Sie elendiger Wicht doch wenigstens mehr Steuern zahlen würden, mehr Beiträge, höhere Preise – ja, dann könnte man sie wenigstens als halbwegs nützlich anerkennen: aber selbst dazu sind Sie zu schlecht … also: SCHULDIG.
An wirklich ALLEM!
Und wir glauben das. Deshalb machen wir keinen Maidan in Berlin – wir haben das ja alles verdient. Wir bräuchten ja auch gar nicht schießen – so zivisiert darf man ja wohl noch sein – wir bräuchten Ärzte, Politiker, Manger und Wissenschaftler nur mal kräftig daran zu erinnern, dass sie für LEISTUNG bezahlt werden … und nicht für die Produktion von Schuldgefühlen.
Die kriegen GELD … und zwar VIEL GELD … für die Lösung von Problemen – nicht für die möglichst billige Massenproduktion von Problemen.
Manager sollen die Versorgung der Gemeinschaft optimieren, so dass niemand Not leiden braucht.
Politiker sollen für den gerechten Ablauf der Verwaltung sorgen – und dafür, dass niemals so ein sinnloses Ekelprodukt wie ein Joghurtbecher mit Langstreckenkilometerleistung auf meinen Tisch kommt.
Ärzte … sollen HEILEN und nicht behandeln – BEHANDELN kann auch der Quacksalber mit Räucherstäbchen und Klangtherapie … zu deutlich geringeren Kosten.
Und Wissenschaftler sollen vor den Gefahren des Straßenverkehrs warnen, noch bevor der erste Benzinwagen erfunden wird, sie sollen die Gefahren des Reichtums aufzeigen, anstatt den Räubern ständig neue Waffen zu schenken und die Gefahr der Verstädterung des Planeten, anstatt die Folgen jenes krank machenden Siedlungskultes mit immer neuen Tricks zu vertuschen.
Trauen wir uns, selbstbewußt mit diesen Forderungen auf dem Berliner Platz zu stehen … und Staat und Wirtschaft das Geld fortzunehmen, wenn sie keine erkennbare Leistung bringen?
Nein.
Wir haben akzeptiert, dass dieser Planet nur ein einziges Problem hat – nämlich UNS.
Und wir sind der Regierung, der Wissenschaft und der Wirtschaft unendlich dankbar dafür, dass sie uns trotz unsere SCHULD noch mit durchfüttern.
Ist doch so, oder?
Übrigens: Gott … die höchste, denkbare Instanz unserer Kultur, der Chef aller Regierungen, der Eigentümer des ganzen Planeten und Schöpfer aller wissenschaftlichen Wahrheiten hat selbst seinen Sohn als Opferlamm zur Erde geschickt, um mit diesem Schuldzirkus aufzuräumen, der schon zu Zeiten des römischen Imperiums erbärmlichst entartete und in bestialischen Abschlachtungen im Zirkus mündete. Ein Grund, warum praktischer Atheismus auch im Vatikan so hoch im Kurs steht: der Schuldzirkus wäre mit Gottes Kindern sonst nicht erfolgreich durchzuführen.
Wir jedoch – haben uns für die andere Seite entschieden und beteiligen uns täglich selbst an der Verteilung der Schuld, was unter anderem in der Einführung von Hartz IV mündet … weil ja jeder selbst Schuld an seinem Zustand hat, nicht Regierung, Management oder Wissenschaft, die den ganzen modernen Gesellschaftsapparat mit unserem Geld gestalten und durch konkrete Entscheidungen einzelner Individuen in Form gießen.
Die sind natürlich … unschuldig und völlig machtlos, ständig nur bestrebt, unseren erbärmlichen Mangel mit großem Geschick auszugleichen – was ein mehr als fürstliches Honorar nur rechtfertigt.
Und weil wir uns wirklich schuldig fühlen, machen wir dass alles mit, freuen uns drüber und werden sogar als Arbeitslose zu Akteuren des Schuldzirkus … in dem wir den Jobcentermitarbeiter als größten Feind des Universums klar im Visier haben.
So etwas … geht wohl nur in Deutschland.