Kolumne

Ich, die Frau am Stock

Von hier aus gelangen Sie auf die Autorenseite von und koennen alle kommenen Artikel mit "Link speichern unter" abonieren.

oder – eine moderne Hexe.

Ich stehe hier nur exemplarisch für viele andere, die an Gehstöcken, Rollatoren oder Krücken durch die Straßen humpeln, Männer inbegriffen natürlich. Männliche Hexen gibt es ja auch, aber die werden eher als Zauberer bezeichnet, was zu mystisch klingt für das Phänomen, das ich hier beschreibe. Denn es geht nicht um den edlen, heldenhaften Gandalf oder die „zauberhafte Nanny“.

Hexe dagegen bezeichnet allgemein jene extrem gefährliche Kreatur, die einen guten Menschen töten kann, wenn er sie nur ansieht. Böser Blick und so.
Mein Stock ist für mich ein Symbol für den Besen, passt ja auch optisch. Ich habe sogar Verzierungen an dem hässlichen Kassenmodell angebracht, die vielleicht ja aber auch geheimnisvolle – womöglich teuflische – Symbole sein könnten. Seit ich mich mit diesem Stock in der Öffentlichkeit bewege, beobachte ich Seltsames im Verhalten der anderen Passanten. Also … seltsamer, als es ohnehin schon vorher war.
Ich erkenne Angst in ihren Augen. Wenn sie denn zu mir hinsehen. Viele wenden sich auch reflexartig ab. Ist es die Angst vor dem bösen Blick? Ich glaube ja. Die fürchten sich vor mir, und zwar richtig. Oder viel eher vor dem, was ich repräsentiere. Die Abstiegsgesellschaft, in der wir heute leben. Genau die gleiche Reaktion der sogenannten normalen Leute beobachte ich gegenüber meinen Mithexen. Den alten Menschen, die sich am Rollator zum Discounter schleppen. Viele von denen haben sogar den verräterischen Buckel.

Nächstes Mal, wenn ich besagten Discounter aufsuche, werde ich wahrscheinlich auch einen ganz speziellen Vertreter des modernen „Bösen“ sehen. Einen alten Mann, der verschämt in den Müllbehältern an Bushaltestellen und auf Parkplätzen nach Pfandflaschen kramt. Und manchmal auch Essbarem. Dabei bräuchte er sich gar nicht so unauffällig zu verhalten, denn es sieht ihn sowieso niemand. Er ist nämlich unsichtbar. Sich unsichtbar machen können?! AHA, da haben wir’s ja, ganz klare Sache, das ist eindeutig Teufelswerk. Den fürchten die Leute jedenfalls noch mehr als mich. Er ist sozusagen mein Boss, Fürst unserer Armee der Finsternis.

Was würde wohl passieren, wenn ich mich direkt neben diesen Mann stelle?
Und dann mit einer magischen Formel unsere Unsichtbarkeit aufhebe? Die lautet: „He, ihr da! Ja, genau ihr! Na los, kommt schon her!“
Meine Magie – nein, die Sensationslust der Angesprochenen – wird sie mir gehorchen lassen. In kurzer Zeit haben sich 3-5 Leute um den dämonischen Fürsten und mich geschart. Dann hole ich zum Schlag aus. Nicht mit dem Stock, wir sind ja zivilisiert. Wir Hexen jedenfalls. „Wer von euch hat ein Smartphone?“ Kaum einer wird nicht automatisch stolz sein tragbares Ego vorzeigen, wenn es nicht sowieso schon im Anschlag ist, für alle Fälle, um ein Foto zu schießen, falls es doch noch eine Schlägerei gibt.
„Schön, also hier hat gerade ein Mensch im Müll gewühlt, weil dieses reiche Land der Millionen Smartphones ihn verhungern lässt. Geiles Event, oder? Schade, dass ihr es verpasst habt. Kein YouTube Video für euren Channel heute. Aber Eintritt ist trotzdem fällig.“
Ich halte den Gaffern eine hohle Hand hin und sehe sie auffordernd an.

Ob wohl einer was geben würde?

Der Hintz & Kunst Verkäuferin, die im zugigen Eingang des Supermarktes steht, geben viele Leute ein bisschen Kleingeld. Aber das ist irgendwie was anderes. Die arbeitet ja schließlich. Und holt sich nicht einfach rotzfrech Pfandflaschen aus dem Mülleimer. Umsonst!

Geschrieben von Stockente.
Photo von Werner Menne.



Die letzten 100 Artikel