Glück

„When I think of all the good times that I’ve wasted” – Teil 2: Es regiert: Der Herr des Hasses … und das Erwachen des Schläfers

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Mike Oldfield, live on Discovery Tour, Barcelona 1984, Youtube

Manches Kind der 80er Jahre mag sich noch an ihn erinnern: In meiner Kindheit gab es einen Neue-Deutsche-Welle Hit, in dem eine sonore Männerstimme als Refrain immer „6 und 6 ist Drei-Eins“ grummelte.

Was mir heute beim linken Ohr rein und beim rechten raus gehen würde, hat mich als Kind damals jedoch intensiv beschäftigt. Gemäß den vier Grundrechnungsarten der Welt, in die ich gerade eben erst hineingeboren wurde, sollte 6+6 doch 12 ergeben und nicht 31. Hmm … aber irgendein tieferer Sinn musste doch hinter dieser millionenfach durch Radio und Fernsehen geschickten Botschaft stecken, dachte sich mein kindliches Gemüt. Das konnte ja nicht bloß Unsinn sein, was aus diesen Rundfunkmedien hervorsprudelte,  sonst würden es die Erwachsenen doch nicht wert finden, sich abends mit solch beharrlicher Diszipliniertheit vor die leuchtenden Flimmerkisten zu setzen, vor denen sie dann bis zur Ermattung mit gefalteten Händen und inbrünstiger Andacht ausharrten.

Mir ließ dieses Rätsel jedenfalls keine Ruhe, ahnte ich doch, dass sich irgendeine gewaltige Wahrheit dahinter verbergen musste, genauso wie hinter dem Intro eines weiteren  Deutsche-Welle Hits, in dem ein Zeitalter angekündigt wurde, in dem „der Herr des Hasses regiert“ – einer Zeile, bei der mir in vager Vorahnung auf den Charakter der Welt, in der ich als Mensch gerade die Augen aufmachte und das ABC sowie die Grundrechnungsarten lernte, schauderte, mich ansonsten aber nicht weiter beunruhigte – wusste ich doch aus zahlreichen Märchen und mythologischen Erzählungen, die mir meine Mutter vorgelesen hatte, dass sich Licht und Dunkel schon seit Menschengedenken bekämpfen und dass man riesige Drachen im Handumdrehen besiegen kann, wenn man ihnen nur keck gegenübertritt und ihnen an der richtigen Stelle einen Stich verpasst.

Den „Herren des Hasses“ konnte ich also in mein Weltbild ohne Weiteres an der richtigen Stelle einordnen, aber dieses vertrackte Rätsel mit dem „6+6 = 31“ war einfach nicht zu knacken. So sehr ich es auch drehte und wendete, es kam nichts anderes heraus als ein intellektueller Kurzschluss.

Irgendwann versank dann diese Frage wieder. In den bewegten Fluten des Erwachsenwerdens und der Notwendigkeit des Broterwerbs gab es drängendere Fragen zu lösen. Ich sollte jedoch bald lernen, dass nichts von dem, mit dem wir uns einmal beschäftigt haben und was in unserem Unterbewusstein versinkt, auch wirklich weg ist. – Es arbeitet im Dunklen weiter … und klopft auch dann und wann im Oberstübchen an. In meiner Adoleszenz als Twen tauchte diese ungelöste Gleichung also wieder auf – ganz spontan beim Hören eines Songs von Mike Oldfield:

In seinem Lied “Trick of the Light” aus dem Hit-Album „Discovery“, das damals eine ganze Generation begeistert hat und auf dem auch das sensationelle, von Maggie Reilly gesungene „To France“ enthalten war, schlug mir plötzlich die Zeile „I need some more information“ wie ein Blitz an die Stirn. „Ja!“, antwortete es sofort aus mir heraus: „Da hast Du recht, Mike: Wir sind zwar erwachsen geworden, aber man hat uns in unseren intellektuellen Brutstätten von Schule und Uni die notwendigen Schlüssel vorenthalten, um das zu dechiffrieren, was eigentlich die drängendsten Fragen des Lebens und des Menschseins wären.“

Mike Oldfields Imperativ „I need some more information“ ließ mich fortan nicht mehr los. Ich kam mir vor wie ein in Agententhrillern vielzitierter “Schläfer”, der in der Gesellschaft lange Zeit als biederer Normbürger dahindämmert, aber dann durch ein gezieltes Codewort plötzlich aktiviert wird und sich fortan mit aller Kraft an die Durchführung eines in ihm schlummernden Auftrags macht. Ja, genau – we need some more information … das hämmerte fortan wie ein Mantra in meinem Kopf weiter. Ob ich es schaffen würde, an diese Informationen heranzukommen, durch die unser mechatronisch zu werden drohendes Leben wieder Sinn bekommt, war für mich damals nichts weniger als eine Frage auf Leben und Tod.

Doch wie die Industriesoziologin  Mag Wompel richtig feststellt, herrscht in der heutigen Welt ein groteskes Paradoxon: Wir haben zwar einen Überfluss an Informationen und dennoch sind echte Informationen rar. Dass es nicht ganz einfach sein würde, an diese wirklichen Information heranzukommen und dass man sich diese nicht einfach reinziehen konnte, sondern wirkliche Einsicht im Sinne von Sokrates immer auch … Gnade ist, erahnte ich an der gepressten Stimme von Mike Oldfield bzw. seinem Leadsänger Barry Palmer: Im Leitsong „Discovery“ (1984 neun Wochen lang die Nr.1 der Charts) stößt er eine verzweifelte Bitte aus:

„Just gimme some sense
Gimme some confidence,
Won’t you please set me free
Won’t someone deliver me …”

Auch dass man Erkenntnis nicht einfach so “haben” kann wie einen Dr.-Ing. der Chemie (siehe auch Erich Fromms Unterscheidung zwischen „Haben“ und „Sein“), sondern dass man sich Erkenntnis jeden Tag neu und erweitert erringen muss, – und zwar in der klassischen Haltung des Philosophen: staunend und mit dankbarer Bescheidenheit vorsichtig tastend, und nicht neunmalschlau „wissend“ und dreist zugreifend -, andernfalls man bei seiner Lektüre nur trockenes Stroh drischt und das Leben seine Türen wie vor einem Eindringling sofort verschließt, kommt in Oldfields Zeilen zum Ausdruck:

“When you want the score
When you need a helping hand
And you find closed doors
And you’re back where you began

Keeping those secrets
Telling those lies
Can anybody tell me what’s the big surprise?

Discovery
Who has the chance to know it all?
Discovery
Give me some truth, stop making me crawl …”

Dass es diese Information, von der Platon kryptisch als lebendige Gedanken-/Urbildeebene sprach, womöglich überall sonst, aber am allerwenigsten an dem Ort gab, an dem man sie vermuten würde: den hiesigen Universitäten, musste ich schon sehr bald feststellen. Obwohl ich mich, wissbegierig wie ich war, gleich an mehreren Fakultäten eingeschrieben hatte, kam mir das, was dort an „herrschender Lehre“ dargeboten wurde, mehr wie eine herrschende Leere vor: Obwohl viele Studenten eifrig vor sich hinkrebsten und Fortschrittsbegeisterung vorspiegelten, um da und dort eine Assistenzstelle oder einen Praktikumsplatz in einem der universitätsassoziierten Konzerne zu ergattern, so war in Wirklichkeit einem jeden von uns nach Gähnen und tödlicher Langeweile zumute. Der Lehrbetrieb wirkte trotz Hitech und glänzendem Lack wie ein Mumienkabinett, in dem man verdorrte Pharaonen und Schrumpfköpfe dank moderner Technik nochmals zum Gehen und Sprechen brachte. Der Soziologe Hartmut Rosa bezeichnet das, was sich an heutigen Universitäten abspielt, nur noch als „Entfremdungszone“, in der schon unter den jungen Studenten  Angstzustände und Burnout herrschten (Quelle: Zeit). Auch über den eitlen Kampf um möglichst viele publizierte „papers“, der an den ehrwürdigen Universitätsinstituten herrschte, konnte ich nur lachen (neuerdings habe ich gehört, dass manche Universitäten wissenschaftliche Mitarbeiter und sogar Professoren nur noch mit der Klausel unter Vertrag nehmen, dass diese pro Jahr soundsoviele wissenschaftliche Papers in renommierten ‚peer reviewed‘ Fachzeitschriften publizieren müssen. Schafft der Mitarbeiter die Bullshitrate nicht, dann fliegt er wieder raus).

Obwohl ich das akademische Spiel (siehe auch M. Burchardt: “March for Science – Dead Men Walking”) schnell durchschaut und diesem System meine innere Kündigung ausgesprochen hatte, so war ich doch schlau genug um zu wissen, dass ich das Ganze nicht leichtfertig hinschmeißen durfte. Mir war klar, dass man in unserer postindustriellen Zeit, in der der Herr des Hasses herrscht,  nur dann etwas bewegen kann, wenn man auch eine akademische Feder am Hut stecken  hat. So schloss ich also mit mir selbst einen faustischen Pakt: Ich würde mich im Drachenblut baden und das Studium durchziehen, aber definitiv nur mit dem geringstmöglichen Aufwand. Keine einzige Stunde zuviel wollte ich diesem System in den Rachen werfen. – Das war in Zeiten vor der Bologna-Reform und dem verschulten Spießrutenlauf nach ECTS-Punkten noch möglich. Ich besuchte nur die wenigen vorgeschriebenen Pflichtvorlesungen, für Prüfungen las ich mir die Skripten in der Regel erst am Abend vor dem Prüfungstermin durch, schweren Prüfungen widmete ich maximal drei Tage Vorlaufzeit. Es gab Wichtigeres zu tun: Mike Oldfields „Informationen“ wollten entdeckt werden. Und bei dieser „Discovery“-Reise durfte der von Oldfields Tubular Bells erweckte Schläfer keine Zeit verlieren. Schließlich wollte ich zuerst wissen, was Sinn und Ziel des Lebens und des Menschseins ist, bevor ich mich in Richtung eines bestimmten „Karriere“-Ziels aufmachte – ich konnte es doch nicht so machen wie viele meiner Mitstudenten: Einfach mal irgendwohin losrennen und dann gucken in welcher Melange man gelandet bzw. in welche Gletscherspalte man abgestürzt ist (siehe „Bore Out – Wenn Leistungsträger aussorgen“).

Auch wenn also– wie die vorhin zitierte Industriesoziologin  Mag Wompel feststellt – echte Informationen rar waren, so war ich innerlich überzeugt: Aber es musste sie doch geben, diese Informationen! (Anm.: Damals gab es noch kein Internet, sondern man musste sich mit demjenigen „Programm“ begnügen, das einem von der herrschenden Lehrmeinung und den Leitmedien vorgesetzt wurde.) Unermüdlich machte ich mich daher auf die Suche. Schon unmittelbar nach Auftauchen dieses inneren Impulses öffnete sich eine neue Tür, die ich zuvor nicht gesehen hatte: Im Keller der Buchhandlung gegenüber der juridischen Fakultät, an der ich studierte, befand sich ein Antiquariat mit unermesslichen Schätzen. Kaum hatte ich zwischen den Vorlesungen eine Pause, war ich auch schon hinunter in dieses Mauseloch geschlüpft, wo ich unter spärlichem Licht in vergilbten Blättern wühlte. Die Zeilen dieser Bücher aus scheinbar vergangenen Zeiten schienen mir relevanter und revolutionärer zu sein als alles, was ich bisher in Schule und Uni gehört und gelesen hatte. Auf Pythagoras stieß ich, Fragmente des Heraklit, auf Platon, Marc Aurel, Seneca, Jakob Böhme, Schiller, Lessing und vor allem Goethe – alles, was mir bisher in der Schule über Goethe erzählt wurde, kam mir nun vor wie eine Karikatur, mit der mutwillig verschleiert werden sollte, was in Goethes Werk tatsächlich enthalten ist. Jede Zeile von Goethes Schriften war mir wie ein Schlüssel, der mir Rätsel löste und mir mein Menschsein wiedergab. Das abstrakte, halb  vertrocknete intellektuelle Wurzelgeflecht, das in meinem Kopf nach nunmehr fast zwei Jahrzehnten intensiver Domestizierung durch die strenge Schulwissenschaft gewoben war, konnte sich langsam wieder beleben und mit frischem Lebenssaft versorgen. Bald schon trieben diese einst knorrigen und scheinbar unbrauchbaren Wurzeln, die ich schon fast in den Ofen werfen wollte, da sie mir bloß einen schweren Kopf bereiteten, wieder Blätter und sogar erste Blüten – ich fühlte mich wieder als Mensch, auch wenn ich wohl erst ein tausendstel Gramm von dem verstanden hatte, was ein Mensch in seinem Leben von der Philosophia perennis ergründen kann, wenn er seine Zeit nützt. Wie Seneca in seinem Büchlein „De brevitate vitae / Über die Kürze des Lebens“ meinte, ist es ja nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern viel Zeit, die wir nicht nützen.

Ich hatte also Feuer gefangen, hörte auf, abends auf Parties zu gehen und einen rumzusaufen, so wie man das als fernsehender Student eben macht, nachdem man für die Uni „geochst“ hat, sondern ich realisierte, dass unsere Zeit das Wertvollste ist, was wir besitzen und dass sie im Gegensatz zu Geld nie wieder zurückkehrt, wenn wir sie verschwenden. Schnell hatte ich erkannt, dass die Trunkenheit und Euphorie, die mir durch die Literatur von Goethe & Co. zuteil wurde, von ungleich gewaltigerer Dimension war als die Trunkenheit, die mir das Runterkippen von drei Bieren im Studentenpub von nebenan beschert hat – mit dem weiteren Unterschied, dass ich mir erstere Trunkenheit ohne Ende erlauben konnte, ohne am nächsten Tag ausgelaugt und mit dröhnenden Kopfschmerzen aus dem Bett aufzustehen. Ganz im Gegenteil: Ich hatte sogar nach exzessiven philosophischen Gelagen klaren Kopf, war hochmotiviert, auf Entdeckungsreise in dieser unglaublich bunten Welt zu gehen, stand früh auf, um mit gleichgesinnten Freunden Bergtouren zu unternehmen, wo wir Goethe-Freunde dann schon auf der Anhöhe den grandiosesten Sonnenaufgängen beiwohnten, während unsere Kollegen gerade zerschlagen aus dem Bett ihrer verrauchten Studentenbude kletterten und mit einem sauren Hering ihren Kater auskurierten.

Mannomann, was waren das für Zeiten. Wie sehr tun mir die heutigen Studenten leid, die im Korsett eines nach ECTS-Punkten getakteten Bachelor-  und Masterstudiums wie in einem Supermarkt-Einkaufswagen von Regal zu Regal geschoben werden, um dann am Ende am Ende ihrer Ausbildung geteert und gefedert, elektronisch verschweißt und verkabelt vom Förderband gespuckt zu werden.


Teil 3 und die Auflösung des Rätsels „6+6=31“ folgt demnächst …

siehe auch Teil 1: Ein Kind der 80er Jahre im Strudel der transatlantischen Apokalypse

 



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