Glück

„Alles für Nichts“ – Auf weihnachtlicher Suche nach dem Return of Investment

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Göttin Natura (Foto: Amrei-Marie/Wikimedia/CC BY-SA 3.0)  

Neben der – berechtigten – Empörung über die hundertfältigen Zumutungen, denen wir heute in marktkonformen Zeiten ausgesetzt sind, verlieren wir leicht den Blick für eine fundamentale Tatsache des Lebens, die allen marktwirtschaftlichen Prinzipien widerspricht: Wir sind in dieses Leben getreten, ohne dafür bezahlt zu haben. Ein wundersamer Körper wurde uns zur Verfügung gestellt, in dem wir nicht nur selbst entscheiden dürfen, in welche Richtung wir gehen und was wir essen, sondern auch, was wir denken und sprechen. Als hilfloses, unerfahrenes und auf die eigenen Bedürfnisse beschränktes Lebewesen sind wir auf die Welt kommen und dürfen uns sukzessive zu gestaltungsfähigen, reifen und Anderen helfenden Persönlichkeiten entwickeln. Zur Bewerkstelligung dieses Wunders müssen von Mutter Natur astronomische Summen an liquiden Mitteln aufgewendet werden, die sich nicht einmal EZB-Direktor Mario Draghi vorstellen kann.

Aber nicht nur unsere Geburt war gratis. Jede Nacht erhalten wir aufs Neue ein kostenfreies Geschenk: Auch wenn wir tagsüber Schindluder getrieben und uns verausgabt haben, in der Nacht wird unser geschundenes Nervensystem wieder runderneuert, die Müdigkeit abgestreift wie die alte Haut einer Schlange im Frühling, sodass wir am Morgen erfrischt aufwachen. – Selbst jenen zweibeinigen Zeitgenossen, die den Return-of-Investment-Point weit verfehlt haben, die in ihrem Leben hauptsächlich Kahlfraß hinterlassen und wenig Konstruktives erschaffen, gibt Mutter Natur jede Nacht aufs Neue die Chance, mit frischen Kräften ans Tageswerk zu gehen.

Überhaupt können wir froh sein, dass es eine weibliche Gottheit ist (von unseren Vorfahren als Natura oder Persephone bezeichnet), die auf unserem blauen Planeten mit der Verwaltung der Wachstums- und Regenerationskräfte betraut ist. Ein maskuliner Naturgott hätte uns womöglich bereits genauso plattgewalzt und filetiert wie Schäuble und seine Troika das bankrotte Griechenland. Man stelle sich vor, Mutter Natur würde mit uns nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten verfahren: Sie müsste uns wegen fahrlässiger Krida wohl schon längst den Stecker gezogen haben – hat sie aber nicht, sondern hofft weiterhin unbeirrt, dass sich die menschliche Existenz doch noch durch den Sumpf winden und irgendwann zur Blüte kommen wird: Jener Blüte, in der der Mensch der Erde nicht mehr eine Last ist, sondern diese durch seine Empathie und kreative Gestaltungskraft aktiv bereichert; wo man also nicht mehr Naturschutzreservate einrichten muss, um die Natur vor dem Menschen zu schützen, sondern wo die Natur aufatmen wird, wenn der Mensch sie betritt, da er um sich herum ein Aroma von Empathie, Umsicht und schöner Musik verbreiten wird – eine Vorstellung des Menschen, die in heutiger Zeit progressiver Entmenschlichung und Menschenhass wie reine Häresie erscheint, an der wir aber festhalten sollten, wenn wir denn an eine Zukunft glauben wollen.

Wieso gibt uns Natura diesen gewaltigen Vorschusskredit und dieses Vertrauen, obwohl wir es täglich aufs Neue mit Füßen treten? Kennt jemand sonst noch eine Tankstelle, bei der man am Ende jedes Tages wieder volltanken kann ohne zu bezahlen? – Wobei die Tankstellenbesitzerin jenen, die auf den Mount Everest fahren wollen, genauso ihren Zapfhahn reicht wie jenen, die unbedingt in den Grand Canyon rasen wollen. Auch diejenigen, die den erhaltenen Treibstoff gleich nach dem Aufwachen in eine verrostete Tonne leeren und dort unter schwarzer Rauchwolkenentwicklung sinnlos abfackeln, lässt sie täglich aufs Neue an ihre Brust …

– und da meinen manche aufgeklärten Zeitgenossen wirklich, es gäbe heute keine Wunder mehr?

Nun, zumindest der ehemalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld war sich dieses Wunders noch bewusst. In seinem Tagebuch notiert er:

„Wie unbegreiflich groß, was mir geschenkt wurde,
wie nichtig, was ich >>opfere<<.
 

(…) 

Dankbarkeit und Bereitschaft: Du bekamst alles für nichts. Zaudere nicht, wenn gefordert wird, zu geben,
was doch nicht ist für alles.“

In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern des Nachrichtenspiegel, die durchgehalten haben, sich mit den nicht immer leicht verdaulichen Tatsachen des marktkonformen Tagesgeschehens zu konfrontieren, einige geruhsame Weihnachtstage. Lassen wir inmitten von dem, was Naomi Klein als „Schockstrategie“ bezeichnet hat, nicht zu, dass unsere Herzen gelähmt werden wie die Frösche vor einer Schlange, sondern kultivieren wir entgegen aller Tendenz zu Abgebrühtheit und pseudoaufklärerischer „Entmythifizierung“ ganz bewusst auch Momente des Staunens – wer in seinem Leben wieder ein kindliches Staunen entwickeln kann, z.B. über die o.a. Tatsache des Schlafes oder auch über ein Gänseblümchen, die Farben des Firmaments oder ein Gedicht, der wird dadurch ein scheinbar zartes, aber für seine Gesundheit höchst protektives Element kennenlernen, das ihn vor Burnout bewahrt und mit dem er selbst in einer verödeten (Großstadt-)Wüste überleben kann.  

Auch Albert Einstein war mit dem Wert des Staunens zutiefst vertraut: „Der Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung ist im Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen (…) Ich denke, wir sollten den Kosmos nicht mit den Augen des Rationalisierungsfachmanns betrachten (…) Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot.“



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