Feuilleton

„Niemand wird Dich retten – Sei Dein eigener Held!“ (Edward Snowden 2017)

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Foto: Wikimedia/Gage Skidmore/CC BY-SA 2.0

Wie schon im Nachgang angemerkt, sollte mein letzter Beitrag  („Über das alternativlose Wahlergebnis und die Logik des Gänsebratens“) keinesfalls ein Prodepressivum sein, sondern ganz im Gegenteil: Er sollte eigentlich nur dazu dienen, um im gerade einsetzenden Wahlanalysefieber reinen Tisch zu machen und dem Leser kostbare Zeit zu sparen – indem sich niemand mehr Illusionen über den „frischen Wind“ macht, den FDP, AfD oder gar die Grünen in den Bundestag bringen könnten. Gesparte Zeit, die wir nämlich dringend brauchen werden, um auf jeweils individuell gewählten Gebieten Konstruktives zu entwickeln, also ein Gegenbild zum derzeitigen Wahnsinn, pardon: Fortschritt natürlich – , zu dem unsere Politiker wild entschlossen sind (siehe  „Der Führer 4.0 – Er ist schon längst da“).

Denn während sich das kollektive Leben immer mehr zu einer Art psychiatrischen Intensivstation verwandelt und man in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Soziales ebenso wie in Religion und Kunst (siehe z.B. aktuellen Bericht von J. Prilleau über die documenta 14) quasi an einem Nullpunkt angekommen ist, so hat dieser kollektive Niedergang bisheriger Strukturen auch sein Positives und seine neuen Möglichkeiten. Der einzelne Mensch kann sich nicht mehr auf vorgegebene programmatische Krücken von Politik und Kirche stützen, da diese nicht mehr tragen. Oder positiv formuliert: Man befindet sich als Individuum auch nicht mehr im Korsett vorgegebener Strukturen, sondern kann jetzt in freier Entscheidung, unabhängig von äußeren Autoritäten, seinem Leben eine sinnvolle Richtung geben und auf einem individuell gewählten Gebiet unbeirrt von allen schwarzen Rauchwolken, die derzeit die Sonne verdunkeln, etwas Konstruktives entwickeln. Damit ist zunächst gar nichts Berufliches gemeint. Selbst wenn man scheinbar gar keinen Spielraum, keinen Job und keine Ressourcen hat, dann kann man dem anderen zumindest einen aufmunternden oder humorvollen Blick spendieren – kostet nichts und soll schon Leben gerettet haben.

Jeder hat diesbezüglich andere Neigungen und Fähigkeiten. Mit diesen Fähigkeiten muss man heute gewissermaßen einen ganz individuellen „Job“ aufbauen, den man ganz bestimmt nicht in den Stellenausschreibungen der Boulevardblätter findet und für den man so schnell wohl auch keine pekuniäre Entlohnung erhalten wird. Die Entlohnung stellt sich freilich auf andere Art ein: als Stimmigkeit, als abendliche Zufriedenheit, die man vor dem Zubettgehen spürt – darüber, dass man im Rahmen seiner Möglichkeiten sein Schäuflein beigetragen hat, dass die Welt ein kleines Stückchen schöner, friedvoller, menschlicher geworden ist, dass man sie mit einer bestimmten Färbung qualitativ bereichert hat. Niemand braucht sich diesbezüglich zu viele Themen vornehmen (da sind wir angesichts der täglichen Informationsflut leicht überfordert), es reicht eigentlich ein Kernthema, ein Inhalt, der einem besonders zu Herzen geht und an dem man dann dranbleibt, den man von verschiedenen Seiten immer aufs Neue beleuchtet und beackert. Der eine wird sich vielleicht für Umweltschutz engagieren, der andere für Menschenrechte, ein anderer bloggt, musiziert, malt, gärtnert … oder lächelt einfach wohlwollend den Menschen zu, denen er am Asphalt oder an der Supermarktkasse begegnet und deren gequälte Gesichter, wie Juri Galanskow es bezeichnete, „vom Leben besudelt sind“ (siehe „In euer Hölle kann ich nicht atmen“).

In Wirklichkeit kann ausnahmslos jede Tätigkeit, die der Mensch ausführt, in höchstem Maße kreativ sein. Das Kriterium für wahre Kreativität ist einfach, allerdings  ein in unseren Schulen und Unis wohlgehütetes Geheimnis: Kreativ wird jede Handlung, die nicht bloß ökonomisch ist. Auch die scheinbar banalsten Tätigkeiten wie Staubsaugen oder Kochen können auf diese Weise kreativ werden. Sogar bloßes Sitzen kann ein kreativer Akt sein. Umgekehrt können auch sogenannte kreative Tätigkeiten vollkommen unkreativ sein, wenn sie bloß aus ökonomischen Gründen ausgeführt werden (siehe J. Prilleau oben – ich meine natürlich nicht Prilleau selbst, sondern seine Streiflichter von der aktuellen Kunst-Avantgarde in Kassel). Insofern hat jeder Mensch ein gewaltiges Potential an Kreativität, das er täglich freisetzen und damit seine Umgebung – und sich selbst – bereichern könnte.

Eine solche – nicht-ökonomische – Art von kreativem Menschsein ist übrigens auch das wirkungsvollste Gegenmittel und insofern die größte Revolution gegen die auf allen Kanälen verkündete Alltagsdepression der Rautenkanzlerin und ihrer transatlantischen Flachmannschaft. Ihre marktkonforme Alternativlosigkeit muss hierbei implodieren oder verpuffen wie ein schwarzes Gummikrokodil unter einem Bunsenbrenner.

Genau an dieses Auferstehen des Individuums inmitten des allgemeinen Niedergangs und an das Nutzen unserer Optionen appelliert auch Edward Snowden in einer u.a. Videokonferenz (veranstaltet von acTVism Munich und von unseren Leitmedien geflissentlich verschwiegen):

Die Frage, wie denn ein gewöhnlicher Tag bei ihm aussehe, beantwortet Snowden auf bemerkenswerte Weise:

„Ich wache morgens auf und lächle vor Freude über meine Entscheidungen. Ja, Sie haben mich viel gekostet. Ja, sie waren nicht genug. Ja, es gab neue Reformen, doch sie bewirken angesichts des Unrechts, das sich weltweit über die Grenzen hinweg an jedem Ort und in jeder Region auftürmt, nicht viel.

Doch ich hatte eine Idee, was als nächstes zu tun war. Und ich würde Sie bitten, die Frage umzudrehen und an sich selbst zu stellen (…) Denken Sie darüber nach, wie Sie Ihr Leben leben (…) Denken Sie jedoch an die Chancen, die Sie haben – denn es gibt keine Helden. Niemand wird Sie retten! Es gibt nur heldenhaftes Handeln, heldenhafte Entscheidungen. Es gibt nur Menschen, die Schritt für Schritt das Schlechte erkennen und feststellen, dass Sie vielleicht etwas bewegen können. Vielleicht kann ich nicht alles in Ordnung bringen, aber für Fortschritt sorgen. Vielleicht kann ich die Dinge besser machen. Vielleicht bin ich die Person, auf die ich gewartet habe. Und sobald Sie angefangen haben, so zu denken, werden Sie feststellen, dass Sie es bereits sind.“ (siehe Minute 52:30 bis 54:00)

In diesem Sinne: Carpe diem … !

(Das Interview wurde von acTVism Munich am 15. Januar 2017 in München durchgeführt und aufgrund technischer Schwierigkeiten am 4. September erstmals als vollständige Version bereitgestellt).

 



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