Bild: Lewis Francis/Wikimedia/CC BY 2.0
Das alljährliche Sommerloch im Bundestag hat sich diesmal als ein schwarzes herausgestellt. Obwohl schwarze Löcher bekanntlich ein Nichts sind, besitzen sie eine gewaltige Gravitationskraft, die Lichtstrahlen von ihrer Bahn abbiegen und sogar ein gesamtes Sonnensystem verschlingen kann. Aktuell sind unsere grundgesetzlich verbürgten Freiheitsrechte in den Sog eines rautenförmigen Schlundes geraten und drohen auf Nimmerwiedersehen abgesaugt zu werden. Da bleibt sogar dem ehemaligen Richter und Staatsanwalt Heribert Prantl die Spucke weg:
„Man soll nicht bei jeder Gelegenheit von einem Skandal reden. Aber das, was heute am späten Nachmittag im Bundestag geschehen soll, ist eine derartige Dreistigkeit, dass einem die Spucke wegbleibt. Ein Gesetz mit gewaltigen Konsequenzen, ein Gesetz, das den umfassenden staatlichen Zugriff auf private Computer und Handys erlaubt, wird auf fast betrügerische Weise an der Öffentlichkeit vorbeigeschleust und abgestimmt.
Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird – dann arbeitet ein PC nicht nur, wie es sich gehört, für seinen Besitzer, er arbeitet auch für den, der den Trojaner geschickt hat – für den Geheimdienst, den Zoll oder die Polizei. Der Staat liest mit. Und der Staat kann auch noch am PC das Mikrofon und die Webcam einschalten.“
(Quelle: Heribert Prantl / Süddeutsche)
Das, worüber Prantl vorige Woche noch im bestürzten Konjunktiv gesprochen hat, ist seit Freitag beschlossene Sache: Die Große Koalition hat nun tatsächlich ein Gesetz verabschiedet, welches die Installation von Schadsoftware und umfassende Ausspähung unserer Computer und Mobiltelefone erlaubt. Dabei tönt vielen von uns noch die Ansage der Bundeskratzlerin im Ohr: „Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht!“ – Nun, immerhin wissen wir seit gestern also, wo wir gemeines Fußvolk im Freund-Feind Schema unserer Volksvertreter verortet werden.
Zurück aber zum jüngsten Gesetz. Der Parlamentarier Marco Bülow bezeichnet es als eines der weitreichendsten Überwachungsgesetze in der Geschichte der Bundesrepublik, mit welchem der Weg in den Überwachungsstaat vorgezeichnet sei (siehe Marco Bülow). Da wir bekanntlich in einer marktkonformen Demokratie leben – das heißt, in einer Zeit, in welcher Demokratie bloß noch eine Farce ist – wurde auch dieses Gesetz ebenso wie die Grundgesetz-Änderung zur Autobahnprivatisierung durch die Hintertür eingeschmuggelt: ohne demokratische und ernsthafte parlamentarische Diskussion und versteckt in einem äußerlich unscheinbaren Gesetzgebungsverfahren betreffend Straßenverkehrsdelikte. Das neue Überwachungsgesetz ist nach Ansicht vieler Juristen dermaßen grundrechtswidrig, dass es der verantwortliche Ressortchef Heiko Maas nicht einmal wagte, es persönlich zu kommentieren, sondern stattdessen die erst vor wenigen Monaten ins Parlament aufgerückte SPD-Bundestagsabgeordnete Bähr-Losse vorschickte, um die Einführungsrede zu halten. Wer Zweifel daran hat, dass Bähr-Losse für eine solch schicksalsweisende Weichenstellung ausreichende fachliche Kompetenz besitzt, der übersieht, dass die gute Dame nicht nur Vorsitzende des SPD-Ortsvereins „Sankt Augustin“ und Beisitzerin des hiesigen Stadt-Sportverbands war, sondern auch praktische Erfahrungen im Frauenhilfeverein sowie im Bau- und Vergabeausschuss des Kreistags vorweisen kann.
Bleiben wir aber beim Tagesgeschehen. Wenn ich so die aktuellen Gesetzgebungsinitiativen bzw. die dahinterliegenden Motive betrachte, kommt mir eine Analyse von Prof. Konrad Paul Liessmann in den Sinn, in welcher dieser feststellt, dass heutige Eliten sich zwar liberal und fortschrittlich gäben, dem Volk, für das sie einzutreten versprechen, aber misstrauisch gegenüberstünden und – abgeschottet in einem Echoraum mit Gleichgesinnten – eine Art „aufgeklärten Absolutismus“ praktizierten (siehe Deutschlandfunk).
Aber vielleicht braucht es für den zur Normalität erklärten Wahn-Sinn auch gar keine soziopolitischen Erklärungen, vielleicht sind einfach ganz profane Wut und Rachegelüste im Spiel. Immerhin hat sich das gemeine Fußvolk in den letzten Jahren ja erlaubt, die mächtigsten Politiker unseres Landes zu demütigen. Waren es Spitzenpolitiker der Bundesrepublik bisher gewohnt, bei ihren öffentlichen Auftritten von einem applaudierenden und fähnchenschwingenden Publikum empfangen zu werden, so müssen sie heute mit Buh-Rufen, Pfeifkonzerten und faulen Eiern rechnen (siehe z.B. hier Justizminister Maas, wie er unter wütenden „Hau ab!“-Rufen wie ein begossener Pudel in seinem schwarzen S-Klasse Mercedes Zuflucht suchen muss oder hier, wie Bundeskanzlerin Merkel, ebenfalls unter „Hau ab!“-Rufen, als Kriegstreiberin und Volksverräterin beschimpft wird).
Ich meine mal ganz im Ernst: Haben wir wirklich gedacht, dass die sich das einfach so gefallen lassen? Spitzenpolitiker heutigen Zuschnitts – also Personen, die bereit sind, für Prestige und Selbstbespiegelung alles, wirklich alles aufzugeben und sich restlos zu verkrümmen, um in Zeiten des Marktradikalismus („Neoliberalismus“) ganz vorne mit dabei sein zu dürfen? Politiker, die sich von moralischen Bedenken gegenüber den Profiteuren und Lobbyisten der globalen Eskalationsdynamik vollkommen befreit haben und die Rekordexporte der deutschen Rüstungsindustrie in den arabischen Krisengürtel bedenkenlos absegnen (siehe FR Online)? Politiker, die sich sogar in staatsfeindliche transatlantische Lobbyvereine einschreiben lassen, nur um dort das Schulterklopfen der ganz Mächtigen zu erhalten und sich den medialen Dauerdurchfall, pardon, -beifall der Chefredakteure unserer Leitmedien zu sichern – diese neoliberalen Prachtexemplare sollen nach solchen öffentlichen Demütigungen einfach wie begossene Pudel nach Hause trotten, sich vorm Flachbildschirm ein Bier aufmachen und „Fünfe grad sein lassen?“ Sich vom „Pack“, also von gewöhnlichen Installateuren, Bauarbeitern, Straßenpolizisten und Arbeitslosen dermaßen entblößen lassen? Wo kommen wir denn da hin? – Da lachen ja bald sogar die Kinder und die Spatzen auf dem Dach über unsere transatlantisch-außerirdischen Maasmännchen. Verdammt noch mal, das werden wir schon sehen, wer hier wem das Maul stopft!
Mit zweckdienlichen Maulkorbgesetzen werden derzeit im Eilverfahren und unter Ausschluss demokratischer Mitbestimmung die Voraussetzungen geschaffen, um freies Denken und die sozialen Medien unter Kontrolle zu bringen. Eile ist in der Tat geboten, denn laut aktuellem Trust-Barometer schwindet im Volk gerade der letzte Respekt vor unseren Amtsträgern (demnach sind 53% der Menschen davon überzeugt, dass das System gegen ihre Interessen arbeitet, unfair ist und die Politiker die Probleme nicht in Ordnung bringen – weitere 32% sind unsicher, d.h. nur 15% meinen, dass das System noch funktioniert).
Momentan stützt sich die gesamte Staatsmacht auf ebendiese 15% an Unverdrossenen. Wie man bei den jüngsten Wahlen in Frankreich sehen kann, reicht es, diese 15% einzukassieren, um sich damit die absolute Mehrheit zu sichern: Nur 13,4% der Wahlberechtigten haben Macrons neoliberaler Retortenpartei „En Marche“ die Stimme gegeben (6,4 Millionen von 47,6 Millionen) – was ausreicht, dass der ehemalige Investmentbanker nun schrankenlos durchregieren kann.
Allerdings ist sogar diese mehrheitsverschaffende Minderheit der 15% momentan im Bröckeln. Denn nicht nur das gemeine arbeitende Volk wendet sich von unseren Führungskräften ab. Sogar diejenigen, die in pragmatisierter Beamtenstellung scheinbar vom System profitieren, wollen eine Führungselite, die „in weiten Teilen von Naivität, Dummheit und Bösartigkeit gekennzeichnet ist“ (habe nicht ich gesagt, sondern stammt aus dem Handelsblatt) nicht mehr länger ertragen. In einer jüngsten Wutrede, die in den sozialen Netzwerken die Runde gemacht hat (siehe YouTube), erzählt etwa ein junger Polizist, wie seine Kollegen es kaum noch ertragen, Führungskräften Personenschutz zu gewähren, vor denen sie jeden Respekt verloren haben und die sie selbst nur als „Affen“ bezeichnen können. Dass er nach dieser Rede womöglich mit 30 Anzeigen überdeckt werde, sei ihm inzwischen vollkommen egal. Ihm selbst platzt nämlich bei seiner Wutrede dermaßen der Kragen, dass er mit seinem vollem Klarnamen Klartext darüber spricht, was er von seinen Vorgesetzten und von der Merkel-Regierung hält: Er bezeichnet sie als „absolute Nichtskönner“ und „vollständige Versager“, von denen er die Schnauze voll habe. Er erzählt, wie sich das zwar nur wenige Beamte öffentlich zu sagen wagen, da sie noch Kreditraten für ihr Häuschen abzubezahlen haben, man aber getrost davon ausgehen könne, dass die meisten seiner Kollegen genauso denken wir er.
Um zu wissen, was jeder Bürger denkt, braucht es daher jetzt Vollzugriff auf unsere Festplatte und unsere Surfgewohnheiten. „Wer nichts zu verbergen hat, hat von uns nichts zu befürchten“– hat uns doch schon Reichspropagandachef Joseph Goebbels erklärt (siehe Nachrichtenspiegel), warum also so viel Aufhebens um die Demontage unserer Bürgerrechte?
Gut möglich, dass uns der Bundesverfassungsgerichtshof noch ein letztes Mal rettet und die Maasmännchenmelange kippt, denn das Gesetz ist klar grundrechtsrechtswidrig. Immerhin darf man im Verfassungsgerichtshof derzeit noch auf Personen zählen, denen voll bewusst ist, warum die Väter unserer Verfassung seinerzeit legislative Schutzwälle um unsere bürgerlichen Freiheitsrechte gezogen haben und dass in der Geschichte bisher ausnahmslos alle Systeme, in denen Bürgerüberwachung eingeführt wurde, in Willkür, Unmenschlichkeit, Folter und schließlich in eine Katastrophe geführt haben. Doch die alte Garde der wachsamen Verfassungshüter schrumpft und wird sukzessive verrentet. In wenigen Jahren wird auch dort Generation Doof übernehmen. Und spätestens dann werden wir dem nächsten Rammbockstoß gegen unsere Grundrechte – der mit derselben naturgesetzlichen Unerbittlichkeit kommen wird wie die alljährliche Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin (hier dechiffriert von Chr. Holzhöfer) – wohl nur mehr wenig entgegenzusetzen haben.
Vor nicht langer Zeit hat sich eine hochrangige Gruppe ehemaliger CIA-/NSA-Offiziere, darunter einer der Chefkonstrukteure des derzeitigen Überwachungsnetzwerks mit einem dramatischen Appell an die Öffentlichkeit gewandt: „Wir errichten gerade schlüsselfertige Tyranneien!“
Wie wird es also weitergehen? Um die Zukunft vorherzusagen, braucht es eigentlich gar nicht mehr allzuviel Phantasie. Man braucht heute nicht mehr an die apokalyptischen Prophezeiungen des Mühlhiasl zu glauben, sondern findet evtl. bereits mit den auf der Grundrechnungsart des Addierens und auf bloßer linearer Extrapolation basierenden Vorhersagen des renommierten Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker sein Auslangen. Weizäcker hat unserer technikgläubigen Wohlschandsgesellschaft totale Überwachung, mediale Massenmanipulation, weltweite Kriege und Verarmung vorhergesagt.
Auszug aus seinem Buch „Der bedrohte Friede – heute – Politische Aufsätze 1945 – 1981“ (Carl Hanser Verlag, München-Wien):
„Circa 20 Jahre nach dem Untergang des Kommunismus werden in Deutschland wieder Menschen verhungern … Die Menschheit wird nach dem Niedergang des Kommunismus das skrupelloseste und menschenverachtendste System erleben, wie es die Menschheit noch niemals zuvor erlebt hat, ihr Armageddon.“ (siehe auch ef-magazin)
Weizsäcker hat damals (1983) gemeint, dass die Bevölkerung diese Prognosen mit Sicherheit nicht verstehen würde. Somit würden die Dinge ihren Lauf nehmen. Wie dem auch sei. Zum Glück ist ja zwischenzeitlich die von Max Utoff als „personifiziertes Sommerloch“ bezeichnete Physikerkollegin Angela Merkel aufgetaucht und hat die drohende Apokalypse abgewendet. Seitdem geht es uns bekanntlich gut und wir können uns in aller Ruhe des Fußballs und des Feierabendbiers erfreuen.