Unter Tauchern ist es bekannt, wie leicht einen in lichtlosen Untiefen der Tiefenrausch packen kann. Das Phänomen des Tiefenrausches ist bis heute nicht abschließend geklärt. Es bleibt ein Rätsel, wie an sich hochintelligente Menschen in einen vollkommen entfremdeten, selbstmörderischen Zustand geraten können, in dem sie wie in Trance von illusorischen Emotionen ergriffen werden und darauf vergessen, dass sie eigentlich wieder auftauchen sollten. Viele Taucher, denen in solchem Zustand schleichend der Sauerstoff ausgegangen ist, wurden vom Meeresgrund für immer verschluckt.
Der Tauch-Pionier Hans Hass hat daher bei seinen Tiefsee-Expeditionen stets eine Liste mit dabei gehabt. Darin waren alle Arbeiten notiert, die er sich für den jeweiligen Tauchgang vorgenommen hatte: 1.) Korallenproben nehmen, 2.) Fische fotografieren, 3.) Muscheln sammeln etc. – aber als letzten Punkt hatte er sich stets dazunotiert: AUFTAUCHEN!
Hans Hass hat seine Memo seinerzeit mit wasserfester Kreide auf eine Handtafel gekritzelt, heute würde er vermutlich eine Auftauch-App programmieren. Eine solche App würden wir heute dringend brauchen, denn nicht nur der Zeiger unserer Sauerstoffuhr hat sich bereits bedrohlich weit in die anaerobe Zone gedreht, auch die Doomsday Clock (siehe „Bulletin of the Atomic Scientists„) wurde Anfang dieses Jahres um weitere 30 Sekunden vorgestellt und steht nun auf zweieinhalb Minuten vor Mitternacht – der symbolischen Apokalypse.
Aber vielleicht ist es auch notwendig, dass sich die Dinge bis ins Absurde zuspitzen, bevor wir aufwachen und im Sinne der griechischen Stoiker endlich „Das Notwendige“ (das Not-Wendende) tun. Dazu muss man wissen, dass die Zeiten, in denen „Das Notwendige“ von Außen/der Politik/der Religion etc. verkündet wurde, längst vorbei sind. Heute muss jeder selbst herausfinden, was er auf seine individuelle Weise zum „Notwendigen“ beitragen kann. Nicht jeder braucht dabei ein Held wie Edward Snowden oder Nelson Mandela werden. Oft ist es nichts äußerlich Spektakuläres, was die Not wendet. Bereits ein aufmerksamer Blick, ein verständnisvolles Wort, ein humorvolles Lächeln inmitten einer nervösen Kassenschlange im Supermarkt – kann menschliche Not wenden.
Wir brauchen nur den Blick zu heben, dann wird jeder von uns Gelegenheiten zuhauf finden, um Not zu wenden.
Den Blick zu heben erfordert angesichts der fortschreitenden Digitalisierung und Unter-Haltung natürlich einen herkulischen Kraftakt – denn wie löst man Augäpfel von einem Matschphone, wenn diese mit Industrie 4.0-Loctite an das LED-Display angeklebt wurden?
Das ist die brennende Frage, die auch den Cartoonisten Steve Cutts in seinem neuesten Video bewegt. Aber sehen Sie selbst – und sehen Sie das Ende des Videos nicht als unausweichliches Fatum, sondern als bloßen Weckruf zum Auftauchen.
Video by Steve Cutts (siehe Galerie)
in memoriam Steve Geshwister
- aus den Kommentaren zum Video auf Youtube: „Is this a little creepy or is it just me?“