Alltagsterror

„In eurer Hölle kann ich nicht atmen…“ – Juri Galanskow und das Manifest des Menschen

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David und Goliath v. Michelangelo [PD]

Der Umbau unserer Gesellschaft nach der Doktrin des Neoliberalismus, von Angela Merkel verblümt als „marktkonforme Demokratie“, vom ehem. UN-Kommissar Jean Ziegler weniger verblümt als „kannibalistische Weltordnung“ bezeichnet, nimmt eine immer abgründigere Dynamik an.

In einem bemerkenswerten Interview schildert auch der Friedens- und Konfliktforscher Prof. Werner Ruf die heute beobachtbare Tendenz, dass Menschen, denen ihr Leben nichts mehr wert ist, diesem in Selbstmorden ein Ende setzen, es – zum weit größeren Teil – auf der Flucht, etwa über das Mittelmeer, aufs Spiel setzen oder Risiken bei Massendemonstrationen gegen die elenden Verhältnisse, denen sie ausgesetzt sind, eingehen, ganz einfach, weil ihnen ihr Leben ohne Perspektive ohnehin als sinnlos erscheint.

>>Wir beobachten derzeit, dass „die Verdammten dieser Erde“, wie Frantz Fanon sie vor sechzig Jahren nannte, aufstehen, protestieren und nicht mehr bereit sind, sich mit ihren elenden Lebensbedingungen abzufinden.<<

Doch nicht nur in Afrika und im Nahen Osten gibt es inzwischen hunderte Millionen Menschen, die verzweifelt und zu allem entschlossen sind, auch im vermeintlich gelobten Zufluchtshafen Europa kracht es bereits im Gebälk. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland bei ca. 50 %, in Italien nur geringfügig darunter, in Frankreich war 2015 ein Viertel der Bürger unter 25 arbeitslos oder ohne Ausbildung. In Summe sind über ein Viertel der unter 18-Jährigen in Europa von Armut bedroht, verrotten ohne Perspektive in Wartestellung im Prekariat. Ganz gewöhnliche und für die letzte Generation noch selbstverständliche menschliche Bedürfnisse wie die Gründung einer Familie oder der Erwerb eines Eigenheimes sind für sie in utopische Ferne gerückt.

In einer von der US Firma Acxiom bereits als Datendienstleistung angebotenen Screening aller über uns verfügbaren Datenbestände (ganz im Stile der NSA), werden Menschen nach rein ökonomischen Gesichtspunkten bewertet. Zahlungskräftige Konzerne können die Daten kaufen, z.B. um zu sehen, wer sich bei ihnen bewirbt. Wenn jemand aus der Prekariats-Generation in Zukunft eine Absage erhält, dann hat das womöglich den Grund, dass er in der Acxiom-Datei in der untersten Kategorie geführt wird – diese Kategorie heißt lt. Acxiom „waste“, also Abfall oder Müll (siehe Süddeutsche).

Aber falls die Human Ressource Manager der Konzerne einem jungen Menschen wider Erwarten doch zugestehen, dass er eine geldwerte Kreatur ist, da es Arbeiten gibt, die man noch nicht robotisieren und digitalisieren konnte, dann wartet in vielen Fällen ein Bullshitjob – Jobs, über die in einer Guerilla-Plakataktion in der Londoner U-Bahn treffend geschrieben stand:

«Wie kann man auch nur ansatzweise von Würde in der Arbeit sprechen, wenn man insgeheim das Gefühl hat, dass der eigene Job gar nicht existieren sollte»

und: «Der moralische und geistige Schaden, der aus dieser Situation resultiert, ist tiefgreifend. Es ist eine Narbe quer über unsere kollektive Seele. Doch fast niemand spricht darüber»

Entgegen den Erwartungen der Regierung haben sich daher auch die Proteste in Frankreich nicht im allgemeinen Fußball-EM-Taumel totgelaufen, sondern steigern sich von Tag zu Tag; in der konservativen Zeitung Figaro wurde diese Woche der Chef des Inlandgeheimdienstes DGSI zitiert, dass „Frankreich am Rande eines Bürgerkriegs stehe“ – wenn man sich einige aktuelle Demonstrationsimpressionen in bewegten Bildern aus Paris ansieht (siehe YouTube), dann weiß man, wovon der gute Mann redet. Wer meint, dass sich solche Szenen nicht auch demnächst bei uns am Brandenburger Tor abspielen können, ist leider sehr naiv. Die Bundeswehr probt jedenfalls bereits das Niederringen von Bürgeraufständen.

Aber da sich das Aufzählen von Fakten und das Appellieren an die Vernunft bisher als relativ fruchtlos erwiesen hat, um gegen den herrschenden Marktradikalismus („Neoliberalismus“) anzukommen, will ich diesmal aus gegebenem Anlass lieber einen Schwenk in die Poesie machen – Poesie geht nämlich wesentlich tiefer als alle intellektuellen Phrasen und wäre insofern auch eine unserer letzten Hoffnungen, nachdem alle noch so klugen politischen und „wissenschaftlichen“ Effizienzdirektiven – die in Wirklichkeit nur Öl im Feuer des ökonomischen Wahn-Sinns sind – versagt haben.

Diese Woche jährt sich der Geburtstag des russischen Dichters und Dissidenten Juri Galanskow. Der Mann wurde nicht älter als 33 Jahre. Nachdem er das unten angeführte Gedicht veröffentlicht hatte, wurde er von den staatlichen Behörden zu  sieben Jahren verschärfter Lagerhaft in Mordwinien verurteilt, wo er schließlich nach einer Magendurchbruchs-Operation an einer Blutvergiftung starb.

Das Gedicht heißt „Manifest des Menschen“ und ist heute wohl aktueller denn je. Einer unserer Professoren hat es seinerzeit als Abziehkopien an uns verteilt, obwohl es mit dem Lehrstoff an sich nichts zu tun hatte. Es war damals noch möglich, derartige Texte unter die Studenten zu bringen, in der Hoffnung, dass vielleicht da und dort in der Zukunft einmal einsprechende Keime aufgehen. Würde heute ein Universitätsdozent einen solchen Text als digitales Handout öffentlich ins Netz stellen, dann würde er wohl umgehend als Ketzer wider die herrschende Doktrin des Mammonismus identifiziert und seine Stelle nächstes Jahr einfach nicht verlängert werden (eine Kollegin hat mir von einem Universitätsdozenten erzählt, der nach bloßer Erwähnung des Wortes „Prekariat“ in einer seiner akademischen Abhandlungen in ernsthafte Bedrängnis kam und seiner vermeintlich systemsubversiven Motivlage unter Androhung beruflicher Konsequenzen abschwören musste – Prekariat, so etwas gibt es doch in einem Land, dem es lt. herrschender Meinung gut gehen muss, nicht).

Zurück aber zu Juri Galanskows Gedicht. Ich habe es diese Woche beim Durchblättern alter Studentenunterlagen auf einem bereits vergilbten Loseblatt gefunden. Als ich es im Internet suchte, war ich zunächst verblüfft – obwohl im Netz ansonsten jede Verdauungsstörung von Paris Hilton, Dieter Bohlen & Co. protokolliert ist, findet sich zu einem solch wesentlichen Gedicht eines der mutigsten neuzeitlichen Köpfe keine offizielle Übersetzung.

Schließlich fand ich es zumindest als laienhaften User-Eintrag im Animexx-Forum. Dort jedoch fälschlicherweise als “Gedicht zum 2. Weltkrieg“ angeführt. – Dabei war das Gedicht  bereits einer ganz anderen Epoche bzw. einer ganz neuen Art des Krieges gewidmet: Dem auf Hochtouren anlaufenden Konsumismus und technokratisch-nihilistischen Fortschrittsglauben der  späten 1960/70er Jahre. Wer meint, dass ein solches Gedicht nur den dunklen Verhältnissen der seinerzeitigen Sowjetgesellschaft entspringen kann, der irrt – zur gleichen Zeit hat auch Pier Paolo Pasolini in Italien,  also im Land des zuckersüßen dolce vita, den „Konsumismus als größten Faschismus“ proklamiert – aber dazu mehr ein andernmal, heute wollen wir für einige Momente Juri Galanskows gedenken (hier ein – leider nicht lizenzfreies – Foto des Mannes aus einem russischen Archiv).

Wir sollten Galanskow heute eigentlich vor jedem europäischen Parlament ein Denkmal errichten. Denn wir hätten dort seinen Geist, den er im Kampf gegen den zur Normalität erklärten Wahnsinn frühzeitig ausgehaucht hat, bitter nötig.

MANIFEST DES MENSCHEN

(von J. Galanskow)

1
Wieder und wieder
packt mich in nächtlicher Stille ein Weinen.
Denn nicht einmal den Saum der Seele
kann man verschenken.
Niemand braucht
einen Tag lang
nach einem Irren zu suchen.
Aber die Leute gehn nach der Arbeit
dorthin, wo Geld rollt und Huren sind.
Sollen sie´s tun.
Ich aber werde durch die Lawine der Leute
hindurchgehn,
anders als sie, und allein –
wie der Splitter eines Rubins,
der im Eise glüht.
Himmel!
Lasse mich leuchten.
Lasse mich nachts
auf das schwarze Samtkleid
ausschütten die Diamanten der Seele.

2
Glaubt nicht den Führern und Ministern,
Glaubt nicht den Zeitungen!
Erhebt euch, die ihr mit eurem Antlitz die Erde deckt!
Seht ihr die große Bombe
und den Blick des Todes aus den offenen Gräbern?
Steht auf!
Steht auf!
Steht auf!
O Purpurblut des Aufstands!
Steht auf und reißt die morschen Zuchthausmauern
dieses Staates ein!

3
Wo sind sie –
die den Kanonen an die Gurgel fahren,
die mit dem heiligen Messer der Rebellion
die Geschwüre des Krieges herausreißen ?
Wo sind sie?
Wo sind sie?
Wo sind sie?
Oder gibt es sie nicht mehr? –
Dort an den Werkbänken stehen ihre Schatten
angekettet mit einer Handvoll klingender Münzen.

4
Der Mensch ist verlorengegangen.
Unwichtig wie eine Fliege
rührt er sich kaum in den Zeilen der Bücher.
Ich gehe hinaus auf den Platz
und presse ins Ohr der Stadt
den Schrei der Verzweiflung.
Menschen! Tröstet mich nicht!
In eurer Hölle kann ich nicht atmen!

5
O Himmel!
Ein strafendes Messer will ich besitzen!
Sieh nur, wie man die schwarze Lüge
auf das weiße Linnen speit.
Sieh nur,
wie abends die Dunkelheit
am blutbesprengten Banner nagt …
Furchtbares Leben –
wie ein Gefängnis, auf Knochen getürmt.
Ich falle!
Ich falle! …
und fühle wie in meinem Innern tief
der Mensch erblüht.

6
Wir haben uns daran gewöhnt,
in freien Stunden
auf den Straßen Gesichter zu sehen,
die vom Leben besudelt sind –
Gesichter wie eure.
Aber plötzlich –
wie das Grollen eines Gewitters
und wie das Antlitz Christi am Tag der Wiederkunft
aufersteht
die getretene und gekreuzigte
Schönheit des Menschen.
Ich bin es – ich,
der zur Wahrheit ruft und zum Aufstand,
der nicht mehr Diener sein will,
und eure schwarzen
aus Lügen geflochtenen Fesseln zerbricht.
Ich bin es – ich,
der vom Gesetz in Fesseln Geschlagene,
der das Manifest des Menschen verkündet!
Mag mir der Rabe
in den Marmor des Leibes eingraben
das Kreuz.

 



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