Weil ich einem Volkstamm zugehörig bin, der unter anderem die Kehrwoche erfunden hat, kann ich nicht ausziehen, ohne ein letztes Mal eben jene in der mir möglichen Akkuratess durchzuführen — wohlgemerkt, im übertragenen Sinne. Es wird kein Ritual sein. Vielleicht hat es eine Art kathartische Funktion, aber das ist egal. Es gilt lose Fäden zusammen zu spinnen und einen Punkt zu setzen, wo ich mir ein Komma gewünscht hätte. Oder einen Doppelpunkt.
Die losen Fäden der Geschichten, die sich in der Vergangenheit und in der Zukunft zutragen bzw zutrugen, kann man wohl nur in der Gegenwart zusammenführen. In der Zukunft werde ich jedenfalls mit Ralf in ein Bergwerk hinabsteigen. Wir werden uns bei dieser Gelegenheit das letzte Mal begegnen. Lange werden wir nicht unter Tage sein.
In meiner Vergangenheit, als Protagonist der Geschichte über den „Angehenden Junggesellen und der Halbzeugfabrik“ habe ich im Untertitel das Busenmädchen von Seite drei untergebracht. Ansonsten gab es nicht viel mehr zu erzählen. Man arbeitet, verdient Geld, lebt, Punkt. Ich erwähnte noch einen Kollegen und schrieb etwas über Leid, Alkohol und Gesichter in deren tiefster Schicht noch Reste der Lebensfreude eines Kindes zu erkennen war. Er ist jetzt bestimmt tot, sah damals schon zwanzig Jahre älter aus, als er war.
Das erzähle ich nur, weil Ralf das Gesicht dieses Kollegen haben wird, was ich damals selbstverständlich noch nicht wusste. Ralf wird mich in die Stollen eines Bergwerks begleiten, mich ein letztes Mal mahnen, ihn nicht anzusehen, was ich aber ein erstes und damit letztes Mal ignorieren werde. Freilich weiß ich, zu welchem Zweck, er mich dort hinunter bringen wird. Das tut aber noch nichts zur Sache. Oder nicht mehr. Ich werde ihn jedenfalls nie wiedersehen.
Oben schreibe ich von einem Auszug, doch das stimmt nicht ganz. Ich gehe einfach weg.
Eigentlich hatte ich geplant mein Konto bis zur Dispogrenze abzuräumen, bevor ich mich aus dem Staub mache. Da ist aber nichts mehr, weil mir der Kontostand immer egal war. Er ist mir egal und er wird mir egal sein. Probleme haben komischerweise immer die anderen damit. Der Vermieter zum Beispiel. Es ist die Sozialwohnungsbaugesellschaft der Stadt. Von mir aus könnte es auch irgendein Privatkapitalist sein. Es ist mir egal. Ich wende keine Lebenszeit mehr für das Verfassen einer ordentlichen Kündigung auf, es erscheint mir schlicht nicht sinnvoll. Ich verlasse einfach diesen Ort. Im Rucksack befinden sich eineinhalb Schachteln Kippen und zwölf Dosen Bier, mehr war finanziell nicht drin. Ich trage das gefälschte „England“-T-Shirt vom Vietnamesenmarkt, das vorgibt von Motörhead zu sein und dunkelbraune Cargo-Shorts, deren rechte Tasche ungewohnterweise keine Schlüssel ausbeulen, werde sie nicht brauchen. Der Sommer beginnt gerade, ich werde so schnell nicht erfrieren. Ich weiß nicht, wohin mich mein Weg führt, was mir widerfahren wird und trotzdem habe ich keine Angst. Alles was ich verlieren könnte, lasse ich zurück.
Ich überlege kurz, ob ich das Skizzenbuch und das Bündel Bleistifte, die ich bereitgelegt hatte, in den Rucksack packen soll, entscheide mich dagegen. Mir ist, wenn man es so ausdrücken möchte, die Sinnhaftigkeit bestimmter Arten menschlichen Tuns nicht mehr sehr geläufig. In einigen Augenblicken werde ich den Rechner herunterfahren, den Rucksack schultern, die knarzende Treppe heruntergehen und das Backsteinhaus, die Straße, das Viertel, die Stadt, verlassen.