Kolumne

Autostrich

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Barbara und Elisabeth

Durch den abgestandenen Altherrenmief des graubraunen Frotteebademantels dringt der gerade noch wahrnehmbare Duft des blauen Duschgels. Ich nehme immer blaues Duschgel. Die Chemiker von Procter & Gamble, Henkel oder Unilever bekommen meistens ein ganz schönes Blau hin. Es verspricht die frische Vitalität eines türkisfarbenen, kühlen, salzigen Meeres, das einem die Haut eines Babys geschenkt hat, wenn man ihm um Jahre verjüngt entsteigt. Meine hat nach der Dusche jeglichen Glanz, der als Zeichen für vitale Feuchtigkeit anzusehen sein könnte, verloren. Trotzdem creme ich mich nicht ein, weil ich dann das Gefühl hätte zu ersticken. Und weil sich dann der Bademantel unangenehm klebrig anfühlt. Besser durch meine trockene Haut atmen, als in einer wohltuend vital feuchten Hülle zu ersticken. Würde der Farbton als Aquarellfarbe benannt werden müssen, würde ich „Lügenblau“ auf die Tube drucken lassen oder „Lügenblau trocken“.
Mittlerweile ist es Nacht geworden. Das Wohnschlafarbeitszimmer wird nur durch den Fernseher erhellt. Das bläuliche Licht schmerzt hinter meinen Augäpfeln, ein ordentlicher Kater trägt seines dazu bei. Es riecht immer noch nach Kotze.
Khalid

19 Terroristen haben gerade Nordamerika ins Mark getroffen und damit die ganze Welt erschüttert, weil Amerika die Welt ist. Zumindest für alle Journalisten, deren Arbeitgeber ich per Kabel empfangen kann. Die meistgehasste Nation der Welt war nicht in der Lage, ihre monströse Verteidigungsmaschine in Gang zu setzen. Ein sich ständig weiterentwickelnder Leviathan, deren militärische Entwicklungen und Pläne denen anderer Länder, inklusive der verbündeten, immer mehrere Schritte voraus ist, hat es nicht vermocht ein paar Dschihadis daran zu hindern, vor den Augen der Welt mehrere Tausend Menschenleben auszulöschen. Aber um Leben geht es nicht. Das tut es nie. Die Behauptung des Gegenteils ist genauso eine Lüge wie irgendeine Art von Humanität als Grund für den Einsatz von Soldaten. Auch im jungen 21. Jahrhundert ist das Leben eines Menschen einen Scheißdreck wert. Egal ob Terrorist oder Präsident. Hier geht es nicht um unschuldige Tote, sondern um eine Nation, die das erste Mal seit ihrer Entstehung aus Lügen, Gewalt und Bigotterie auf dem eigenen Territorium verletzt wurde. Es geht um die Ehre eines Komplexes aus Militär und Hochtechnologie, der es mithilfe von Bildungseinrichtungen und Medien geschafft hat, ein Volk stolz zu machen. Dieser Stolz wurde irreparabel zerstört.
Sie zeigen Bilder von Osama Bin Laden. Ich wüsste nicht, dass ich schon mal von ihm gehört hätte. Schwarze Augen in dunklen Augenhöhlen, ein dunkler Bart, dunkle Haut, eine krumme Nase. Sogar seine Lippen sind nicht rot, sondern braun. Fast ein Neger. Hat der White Anglo-Saxon Protestant nicht schon immer Probleme mit denen? Mit Schläfenlocken wäre er ein perfekter Jud Süß. Dieser Gedanke würde ihm bestimmt nicht gefallen. Er sieht nicht so aus, als hätte er Humor.
Mein Geist ist so klar wie lange nicht mehr. So wenig Restalkohol habe ich selten. Dieser Zustand ist mir nicht geheuer und obwohl ich weiß, dass es nicht so ist, sehe ich im Kühlschrank nach, ob sich noch etwas Alkoholhaltiges darin befindet.
Jetzt spricht Bush. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem Saudi oder dem Amerikaner mehr misstrauen sollte. Beide fanatische Gottesarschkriecher, beide beschissene Abstinenzler. Osama hat bestimmt mehrere Weiber, das gibt einen kleinen Sympathiebonus. Außerdem ist Bush ein wiedergeborenes Arschloch.

Während ich den Bademantel aus- und ein weites T-Shirt anziehe, kündigt Bush eine mörderische Vendetta an. Wo ist die Jogginghose? We will fuck the goat fuckers in the ass. Ich ziehe keine Unterhose an, ich kann jetzt keine Unbequemlichkeit ertragen.
Ist gerade der Ausdruck „Dritter Weltkrieg“ gefallen? Ich blicke auf den Bildschirm und folge dem Gequatsche von Journalisten und Expertenwichsern, die heute ihren großen Tag haben. Ich kann jetzt keinen dritten Weltkrieg brauchen, morgen früh treffe ich mich mit Ralf. Vielleicht habe ich mich verhört.
Ich erwäge ernsthaft die Option nüchtern zu bleiben. Die Welt und ich stehen an einem Wendepunkt. Vielleicht macht Ralf meine Augen wieder lebendig. Ist er so etwas wie ein Retter? Brauche ich Rettung? Macht es Sinn errettet zu werden, während die Welt gerade erfahren hat, dass sie unrettbar verloren ist?
Ein gewisser Klaus Kleber berichtet aus Washington. Ich glaube, sein linkes Auge hängt ein wenig. In meiner Phantasie flog ein kleines Flugzeug in die oberen Stockwerke seines Kopfes und verursachte einen kleinen Schlaganfall. Als ich es mir vorstelle, lache ich laut. Er weiß, wie und was der innere Kreis der US-Administration denkt, zumindest versucht er diesen Eindruck zu vermitteln. Ich muss immer auf das Auge gucken. Ist es tot?
Mein inneres Auge sieht den breiten, rot leuchtenden Dachstreifen der nächsten Tankstelle hinter dem kleinen Park und wandert durch die sich automatisch öffnende Schiebetür, hält sich links, nimmt den Mittelgang zu den Kühlschränken und verweilt auf beschlagenen grünen Dosen mit köstlicheml leicht gehopftem Nektar. Klebers Mundwinkel hängt doch auch ein wenig? „Wir müssen die Schalte abbrechen, ich glaub`ich hab`ein Schlägle.“ Der für kindlichen Humor zuständige Teil meines Gehirns lacht, der gesamte andere Bereich steht weiterhin vor dem Tankstellenkühlschrank. Kleber erwähnt nichts von einem dritten Weltkrieg.
Damit es auch jeder Vollidiot kapiert, wiederholen sie nochmals die Einschläge. 8:46 Uhr, Einschlag eins; 9:03 Uhr, Einschlag zwei. Wieviele Menschen wurden dabei zerfetzt? Wieviele waren es bei den Zusammenstürzen der Gebäude? Wir tun uns zu leicht mit dem Vernichten von Menschen.
Wie immer, wenn ich über die Spezies Mensch nachsinne, wünsche ich mir, mit Ralf sprechen zu können. Staubige Augenzeugen werden befragt. „What the hell is wrong with you?“ Tränen zeichnen dunkle Linien durch den Staub auf den Wangen. Whats wrong with us, das wäre die Frage des Tages, Arschloch. Ich schalte um.

Jetzt spricht live Bushs dummes Äffchengesicht. Sein Gott, der ihm eine Wiedergeburt als nüchternen Mann, der seinen Schwanz nur noch in seine Laura steckt, geschenkt hat, wird sich fürchterlich rächen. Als sie First Lady war, hatte ich eine kleine Schwäche für Barbara Bush. Ich weiß, du liebst ihn, Barbara, aber trotzdem: Dein Sohnemann ist ein Idiot. Enterbe ihn, trenne dich von deinem Mann, wir brennen gemeinsam durch. Mein Gehirn dreht durch, es läuft trocken.
„Unser weißer, junger, bärtiger, langhaariger Gott des Westens wird euren Ziegen und Kamele fickenden Sandnegergott des Ostens seine Feindesliebe demonstrieren!“ Ich will mit diesem Mann nichts gemeinsam haben und entschließe mich, meiner Nüchternheit ein Ende zu setzen. Zumal ich nicht nüchtern in den dritten Weltkrieg schlittern will. Ein letztes saturnalisches Selbstzerstörungsfest.
Ich schalte den Fernseher aus und suche nach Socken. Ein dunkelgraues Paar scheint mir noch brauchbar zu sein. Als ich den Rucksack schultere, sehe ich, dass die Sneakers in die ich schlüpfe, lügenblau sind. Auch mein T-hirt ist lügenblau. Anders lügenblau, aber lügenblau. Genauso meine Jogginghose. Ich werde mich lügenblau trinken.
Ich versuche nicht leise zu sein, als ich die Treppe hinunter gehe. Ich gehe sie einfach hinunter. Geräusche, die dadurch entstehen, entstehen einfach.

An der Tankstelle ist noch ordentlich was los. In der Spiegelung der Schiebetür kann ich für einen kurzen Augenblick das Wackeln meines Gemächts erkennen. Ohne Unterhose ist geil, Freunde. Ich bin ein Freischwinger. Blicke kümmern mich nicht. Machte ich mir, um für die Anwesenden und das Tankstellenpersonal überzeugend zu sein, ansonsten selbst vor, ein Genusstrinker zu sein, der heute ausnahmsweise mal feiert, ist diese Last in dieser Nacht von mir genommen. Ein junger gut aussehender, gepflegter Türke, mit Osamaaugen beäugt mich verächtlich. Ich lächle zurück, bin gerade glücklich. Das Bier ist kalt, bald werde ich Ralf sehen, meine Eier schwingen frei.
An der Kasse verlange ich noch eine Schachtel „Schtoiwessant“. Obwohl sich hinter mir eine Schlange gebildet hat, lasse ich die Leute warten: „Ach, ich nehme noch ein, zwei Weinchen mit!“ Ohne Hast gehe ich zurück zum Kühlschrank und greife nach zwei Flaschen Frascati. Die Blicke der jungen Disco- und Clubgänger ruhen auf meinem kahl werdenden Hinterkopf, das kann ich spüren. Es ist mir egal. Zurück an der Kasse reiche ich dem Tankstellenmann meine EC-Karte: „Bisschen was liebliches,“ und zeige auf den Wein, lächle. Während der Betrag von meinem Konto, dessen aktuellen Stand ich nicht kenne, abgebucht wird, merke ich, wie frei ich mich fühle.Nach den von mir nach Elisabeth Kübler-Ross abgewandelten fünf Phasen des Trinkens bin ich bei der letzten Phase angelangt: Akzeptanz.
Im Auto sitzend beobachte ich noch eine Zeit lang die an- und abfahrenden getunten Autos und die jungen getunten Menschen.

Ich fahre nicht nach Hause, dort warten nur der Geruch von Kotze und Verkaufsfernsehen, das politische Meinungen und Ideologien feilbietet. Und Klaus Kleber mit hängender Fresse. Stattdessen fahre ich zu unserem Treffpunkt. Als ich am Industriegebiet vorbeifahre, kann ich das Gebäude erkennen, indem ich arbeite. In den am Straßenrand abgestellten LKW-Führerhäusern schlafen Ungarn und Polen. Weil ich ihn nicht festhalten kann – Kladde und Diktiergerät liegen zu Hause – versuche ich den Gedanken zu speichern, eine Zeichnung mit Hitler und Führerhäusern machen und hoffe, dass ich dieses Ideenfragment nicht vergesse, wobei ich gleichzeitig sicher bin, dass ich es vergessen werde.
Nur ich bin unterwegs. Als ich den kurzen von Sträuchern eingesäumten Weg rückwärts hineinfahre, glaube ich im Licht der Rückfahrscheinwerfer einen Fuchs flüchten zu sehen. Ich mache den Motor aus und horche.
Von der Autobahn weht ein sanfter Hauch in unregelmäßigen Abständen Reifengeräusche herüber. Etwas Kauz- oder Eulenartiges ruft in die Nacht. Wie schön es ist. In New York liegen tausende zerschmetterte Körper zwischen heißen, staubigen Trümmern, betrauert von Familienangehörigen, Ehefrauen, Geliebten und Freunden. Ich sitze auf dem schönsten Flecken des Erdballs und öffne das erste Bier. Leichter Nebel benetzt meine Hand, Brauereigeruch dringt an meine Nase. Bittere, kohlensaure Kälte füllt meinen Mund. Ich spüre dem Geschmack nach und genieße die sich nach jedem Zug steigernde befriedigende Wirkung.
Diesmal zähle ich nicht mit, genieße einfach Dose um Dose. Irgendwann bin ich so betrunken, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich im Osten den Anschein eines Silberstreifs vernehme. Ich kneife die Augen zusammen, doch ist es mir schnell zu anstrengend und schließe die Lider. Ich erlaube der Müdigkeit sich in mir auszubreiten und denke an Ralf. Ich weiß, dass er kommen wird.



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