Leroy Kincaid
Es ist noch dunkel, die Straßen sind feucht vom nächtlichen Regen. Die Reifen der wenigen Autos, die um diese Zeit unterwegs sind verursachen ein helles, langgezogenes Zischen, wenn sie an der Tankstelle vorbeifahren, an der ich gerade halte, um kühlregalkalte Halbliterdosen mit 4,9-prozentigem Inhalt zu kaufen. Ich höre „Cold hearted man“ von ACDC zu Ende, bevor ich aussteige und zum zweiten Mal an diesem warmen Sommermorgen den Stadtsommerregenduft genieße. Beim ersten Mal verließ ich gerade das Backsteinmietshaus und weinte, weil mir der Geruch eine harte, schmerzhafte Gerade in den bei mir sehr empfindlichen Melancholielappen des Gehirns versetzte.
Wie der Straßenstaub auf dem Asphalt diesen Geruch mit seiner Mischung aus gewöhnlichem Dreck, Abgaspartikeln und Abrieb von Reifen hinbekommt, erscheint mir wie ein kleines Wunder. Auf dem Weg zum Auto, das in einer Seitenstraße parkt, für die ich einen Anwohnerparkausweis besitze, wollte ein schwuler Flieder seinen Duft hineindrängen, ich zeigte ihm aber die kalte Schulter. Cold hearted man. Der bin ich jetzt, als ich die Tankstelle betrete. Wie ein Trinker aussehen ist in Ordnung. Aber nicht wie einer, den das Saufen im Griff hat und durch die Tankstellen und Getränkehändler des Viertels schleift, sondern einer, der säuft, weil er saufen will. Harter Hund, Cold hearted man.
„No one knew where he came from,
He never knew himself“.
Ich komme aus dem Nichts, Tankstellenheini, und zu den fünf Döschen gibste mir noch ’ne Schachtel „Schtoihwessannt“. Dann muss ich weiter — in den Sonnenaufgang. Während ich hinausgehe, hoffe ich, dass ich hinten korrekt aussehe. Wenn jetzt das T-Shirt albern heraushängt oder die knielangen Jeans, die ich selbst abgeschnitten habe, soweit heruntergerutscht sind, dass sie sich so komisch ausbeulen, als hätte ich hineingeschissen oder wäre ein lernschwacher Deutschrapper, ist die ganze Fassade dahin.
Das Kondenswasser der Dosen hinterlässt feuchte Flecken auf meinem Shirt, das mit einem sinnlosen Spruch beflockt ist. Igendwas mit „Beach“ und „Surfing“. Ich hätte mein original gefälschtes „Motörhead-England“-Shirt von Viatnamesen-Markt mit original schiefem Aufdruck anziehen sollen. Das liegt aber mit trocken werdenden Wichsflecken irgendwo in der Wohnung.
„One time lover heart in his hand“
One time Lover Schwanz in his hand. Ich muss lachen.
Bärbel Schäfer schickt mich auf eine Reise in den Sonnenaufgang einen unsichtbaren Naturgeist namens Ralf zu treffen.
„No one fooled or messed him ‚round“.
Mein Hals schmerzt, weil ich mich gegen das Lachen wehren will. Ich mache mir fast in die Hosen. Es hält an, bis ich wieder auf der Bundesstraße Richtung Industriegebiet bin. Als ich gierig die erste Dose öffne, habe ich noch ein Grinsen im Gesicht. Und Tränen. Ich bin wieder auf dem Weg zu Arbeit.
Ich mache eine Umweg, um an dem Gebäude, in dem ich ansonsten die wertvollsten Stunden des Tage verplempere, vorbeizufahren und proste ihm zu. Seine leeren Augen starren mich an. Der Rolltormund formt Worte: „Steve, wo warst du? Was hast du getan, um das Gehalt, das du verdienst zu rechtfertigen? Waren wir nicht gut zu dir? Haben wir dich nicht freundlich aufgenommen? Haben wir nicht eine kleine Gegenleistung verdient? Ein bisschen Anstrengung? Ein bisschen Opferbreitschaft?“
Ich halte an und blicke auf die Fassade. Es ist ein dummes Haus, es kann nichts dafür. Es weiß nur das, was die Menschen, die in ihm arbeiten, wissen. Ich habe Mitleid mit dem dummen Haus und erkläre ihm in ruhigem Ton wie die Dinge stehen, schließlich bin ich die nächsten Wochen nicht da, um es singend mit meiner Weisheit zu erfüllen:
„Sometimes you can’t see
The other side
It’s too well hidden
For the naked eye!“
Das Gebäude spricht ganz gut Englisch, es gibt nämlich eine Export-Abteilung.
Während ich Dose Nummer Zwei öffne, erkläre ich es ihm auch noch auf deutsch, womit ich aber nur Zeit schinde, weil ich dem Treffpunkt so nah bin, dass ich unsicher und nervös werde: „Die meisten Menschen betreten dich mit negativen Gefühlen. Sie sind sich nicht sicher, ob sie für das bezahlt werden, was sie in dir tun oder ob es eine Entschädigung für erlittenes Leid durch den Diebstahl der wertvollsten Lebenszeit, die sie haben, ist. Sie arbeiten für einen Unternehmensinhaber, dessen Konto ihnen scheißegal ist. Das Produkt, dass sie vertreiben und variieren, was sie „weiterentwickeln“ nennen und mit unsäglich leeren und sich unsäglich oft wiederholenden Phrasen verkaufen, interessiert sie einen Scheißdreck. Sie sagen es aber nie. Sie kompensieren dieses ganze verlogene Getue mit dem Vortäuschen von Kompetenz, Fleiß und dem Einsatz von Social und Soft Skills, die ihnen helfen, im Arbeitsalltag besser und überzeugender lügen zu können. Du bist ein Haus der Lüge. Ein verdammter Puff, nur ohne Ficken. Oh ja ich liebe es, mach weiter so! Jahaa,.. das gefällt dir, du kleines Luder! Jaaahhh und wie…!“ Als mir bewusst wird, dass ich laut stöhne und mir selbst einen Orgasmus vortäusche, fühle ich mich plötzlich beobachtet und schäme mich ein bisschen. Ich denke an Ralf und frage mich, wie er reagieren würde, wenn er hinter mir säße.
Ich lasse einen einsam suchenden Sattelzug mit einem Auflieger aus Ungarn vorbei und fahre eine Weile hinter ihm her. Am neuen Containerbahnhof trennen sich unsere Wege. Der LKW verschwindet hinter einer Wand aus Überseecontainern und ich fahre den asphaltierten Wirtschaftsweg weiter bis zu dem grasbewachsenen Feldweg, der nach einigen dutzend Metern zwischen mannshohem Bewuchs in Sichtweite einer Halle mit weitläufigem maschendrahtumzäunten Hof endet. Die leere Dose Nummer zwei tauscht den Platz mit voller Dose Nummer drei im Handschuhfach.
Genauso saß ich immer da. Den Wirtschaftweg im Blick, die Dose vorsichtshalber senkend, wenn ein Fahrzeug passierte; manchmal überlegend, was ich tun würde, wäre es die Polizei, die mich hier saufend entdeckte.
Ich schalte das Radio ein. Bon Scott singt immer noch von Leroy Kincaid.
„Two time loser,
A broken man.“
Mein innerer Blick hängt immer noch an der dumm dreinschauenden Fassade.
Ich bin die meisten Tage schon um diese Zeit los. Zum einen, weil ich Zeit brauchte, um hier einen ordentlichen Schwung Bier und mein… ja was denn eigentlich?.. zusammenzubringen. Ich habe keinen Begriff dafür. Jeder, der mir einfällt, ist ungenügend.
Geist, Denken, Seele, Wille, Inneres, Flow, Fick, Kack, Dreckscheiß, WICHSE! WAS WEIS ICH! Ich werde wütend.
„Warum zur Hölle ist der verfluchten Menschheit noch nichts passendes dazu eingefallen?!“ Ich schreie.
„…beschäftigt…“ vermeldet mein Gehirn.
Ich trinke.
„…beschäftigt seid… Penner…!“
Ich glaube, ich verliere den Verstand.
Noch ein Schluck. Ein langer.
„Wenn du die Musik etwas leiser machst, kannst du mich auch verstehen, Penner!“
Direkt an meinem Ohr.
Ralf ist da.
Völlig perplex schalte ich die Musik ab.
„Das liegt daran, dass ihr Menschen zu beschäftigt seid!“
„Hey!“ Ich versuche, locker zu klingen. Aber ich ich ziehe die Silbe zu lange und singe sie fast mit einem unmerklichen aber aus meiner Sicht völlig überflüssigen Zittern.
„Du warst wohl auch beschäftigt?“
„Eigentlich nicht. Bin seit ein einer Weile zu Hause. Ich habe dich gar nicht einsteigen hören.“
„Kein Wunder bei diesem Höllenlärm.“
„Ach ja, klar.“ Ein langer Zug leert die Dose. „Kennst du Hells Bells?“
„Ist das auch diese Art Musik?“
„Ungefähr, das ist andere Phase der Band. Hat aber die gleiche Energie.“
„Lass‘ aus.“
Die fünf Australier spielen in meinem Kopf weiter.
„Call her Ma, call him Pa,
But he was born to someone else.“ Meine Lieblingszeile.
Wir schweigen lange. Ich genieße das Bier. Ich genieße es gerade wirklich.
„Kennst du Bärbel Schäfer?“
„Wen?“
„Ach, egal.“
Wieder reden wir lange nichts. Manchmal höre ich ihn atmen und ab und zu raschelt es leise. Als ich das letzte Bier aus dem Handschuhfach hole, sagt er:
„Du siehst Scheiße aus.“
„Tja, danke, ich bin ja auch krank.“
„Du siehst nicht aus wie ein Kranker, sondern wie ein Toter.“ Ich lächle gequält. „Deine Augen sind tot.“
Ich drehe den Innenspiegel in meine Richtung und betrachte den Teil meines Gesichts, von dem man behauptet, man erkenne an ihm, ob man wirklich und ehrlich lacht. Ich lache nicht. Ich weine.
„Ja,“ erwidere ich heiser, „und mein Herz ist kalt. I’m a cold hearted man.“
Er lacht kurz schnaufend. Es raschelt.
„Dein Flow, Fick, Kack, Dreckscheiß oder wie immer du es auch nennen magst, stirbt.“
Ralf wartet auf meine Reaktion; ich aber bin wie gelähmt. Wieder ist er ganz nah an meinem Ohr: „Ich kann dir helfen, aber nicht jetzt. Komm morgen wieder.“
Den letzten Satz sagt er im Hinausgehen. Die Tür hinten rechts fällt ins Schloss und ich bin wieder allein.
Ich weiß nicht wie lange es dauert bis ich mich besinne und nach Hause fahre. Ich weiß aber, dass die nächsten fast 24 Stunden die schlimmsten meines bisherigen Lebens sein werden.
„Sometimes you can’t see
The other side.“