Bärbel
Seit nicht ganz einer Woche bin ich zu Hause. Ich habe mich krank gemeldet. Um die ganze Geschichte meines letztendlichen Ausscheidens, dessen Beginn ich hier ausbreite, zu erzählen, bin ich momentan zu müde. Eigentlich bin ich immer müde und schlafe viel. Als ich vor ein paar Stunden schon einmal aufgewacht war, hatte ich mir fest vorgenommen, den Dosenberg abzutragen und zum Container zu schleppen. Eigentlich ist es nicht der richtige Ausdruck. Die Dosen sind leicht, die muss ich nicht schleppen, ich muss mich schleppen.
Jedenfalls verzichte ich meistens auf das Dosenpfand, weil es mir peinlich ist, solch eine Menge von Leergut zurückzubringen. Wenn ich in volle Büchsen kaufe, versuche ich mich selbst und damit die Menschen, die bei der Abwicklung des Kaufs anwesend sind, davon zu überzeugen, dass ich vorhabe, eine Party feiern zu wollen und weil das irgendwie ja stimmt, aber andererseits doch nicht, schwanke ich innerlich zwischen Belustigung und tiefer Traurigkeit. Das ist eine anstrengende Beschäftigung für mein Inneres und überlagert die Scham, noch stinkend nach Alkohol ein Dutzend grüne Halbliterdosen auf das Band zu legen und die Blicke der Kunden hinter mir zu spüren. Momentan bin ich aber noch ausgestattet. Ich hätte sie in den Kühlschrank stellen sollen, jetzt stehen sie in einer kleinen Pfütze neben meinem Bett und sind pisswarm.
Der Filter einer Stuyvesant ragt aus der Schachtel auf dem Boden. Während mein Kopf noch abwägt, hat meine Hand schon danach gegriffen. Ich habe einen Automaten unten an der Straße. Das kling komisch, aber es ist wirklich meiner. Viele Raucher haben einen Automaten. Zumindest in der der Gegenwart in der ich das hier erzähle. Zigarettenautomaten werden out, Dosenpfand auch.
Aber weil ich eben den Automaten habe, muss ich nicht Camel oder Marlboro rauchen, um die Peinlichkeit zu vermeiden beim Zigarettenkauf in der Tanke „Stuyvesant“ nicht richtig aussprechen zu können. Es ist ja nicht so, dass der Tankstellenverkäufer wüsste, wie man es richtig ausspricht, er ist nur davon überzeugt es zu wissen, was reicht, mich zu verbessern, indem er es vermeintlich korrekt wiederholt: „Eine Schachtel Schtoiwesannt, jawoll, ist das alles?“ „Nee, die beiden hier noch.“, womit dann Sixpacks gemeint wären, wenn das ein reales Gespräch gewesen wäre. Manchmal käme noch ein Weißweinchen dazu, aber das nur nebenbei.
Niemand weiß, wie man das korrekt ausspricht, weil, da ich hier im Bett liege und diese Geschichte erzähle, das Internet noch nicht wie ein Myzel, dessen Ausdehnung man immer unterschätzt, in unseren Alltag gedrungen ist. Ich habe noch ein 56k-Piepsmodem und muss für eine geeignete unbewegte Pornografische Abbildung so lange warten, dass ich es mir lieber vorstelle. Die Zigarettenautomaten haben jedenfalls noch kein Kartenlesegerätedingens angeschraubt und jedes Kind das groß genug ist, der Einwurfschlitz zu erreichen kann für Mutti Kippen holen.
Ich asche in eine Dose, deren Restbier-Asche-Kippenmischung gerade noch so feucht ist, ein kleines Zischen hervorzubringen.
Ich glaube, in diesem Zimmer stinkt es. Wahrscheinlich stinkt die ganze Wohnung, weil die beiden Türen zu Bad und Küche immer offen sind. Aber dem Bad und der Küche nimmt man ihr Stinken nicht so übel, wie einem Wohn- und Schlafraum. Ich nehme es allen dreien nicht übel. Die Sonne hinter den Bambusrollos von Ikea, die die Gerüche des Lebens begierig speichern, sagt mir, dass es ungefähr Mittag ist. Genauer muss ich es nicht wissen, ich bin schließlich krankgeschrieben.
Ich erhebe mich langsam, nehme drei der vier Dosen mit zum Kühlschrank. Bis Bärbel Schäfer kommt, sind die kalt. Eine gönne ich mir gleich. Bevor ich mich wieder ins Bett lege, öffne ich ein Fenster. Es riecht nach Sommer. Ich höre den Stadtverkehr, Vögelgezwitscher und Geräusche aus Wohnungen gegenüber und nebenan. Ich liebe das. Sommer in der Stadt. In diesen Momenten liebe ich die Menschen; die, die es schaffen mit ihrem Tun diese Atmosphäre zu kreieren. Dieser Augenblick ist nur dazu da, ihrem Leben einen Ausdruck zu geben. Zu nichts sonst. Ich fühle mich durch und durch lebendig, dass sogar Gott stolz auf mich wäre, würde ich an ihn glauben. Bevor ich mir klar machen kann, dass dieser Moment ganz sicher in eine tiefe Traurigkeit kippen wird, ist es schon geschehen.
Ich schalte den Fernseher ein, setze mich aufs Bett und öffne die Dose. Das warme Bier schmeckt so intensiv, dass mir ein wenig schlecht wird. Am Fußende liegen Blätter mit Bleistiftzeichnungen, die ich wohl gestern oder heute irgendwann gemacht hatte. Ich habe wieder versucht, meine Vorstellung von Ralf zeichnen, war aber mit keinem Ergebnis zufrieden. Dann zeichnete ich einen Cartoon, der eine Szene aus Bärbel Schäfer zeigt, in der ein Typ sagt „Dann hat die Schlampe mir fremdgegangen gehabt gewesen.“ Ich fand das und mich gestern Nacht wohl witzig, jetzt nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob Ralf gestern oder vorgestern wirklich hier war, oder ob ich nur träumte, dass wir zusammen Bärbel Schäfer gucken würden. Ich versuche, mir den Traum oder die Erinnerung nochmal ins Bewusstsein zu rufen und merke in dem Moment, in dem ich uns auf den Stühlen nebeneinander vor dem Fernseher sitzen sehe, dass es nur ein Traum gewesen sein kann. Es ist dunkel und ich kann nur unsere Silhouetten erkennen. Wir schauen uns also die nächtliche Wiederholung an und ich sehe ihn direkt an. Das ist in der Realität nicht möglich. Ich hab Ralf noch nie gesehen, nur gehört. Ich darf ihn nicht ansehen. No way. Ausgeschlossen. Ick hab die Schlampe noch nie anjeschaut gehabt gewesen.
Ich trinke das Bier leer und hole ein weiteres schon akzeptabel Kühles aus dem Kühlschrank. In wenigen Minuten beginnt Bärbel Schäfer, inmitten medialen Irrsinns ernst zu bleiben. Gern würde ich mit Ralf zusammen gucken. Er vermisse unsere Treffen. Aber ich schaffe es nicht, zu unserem Treffpunkt zu fahren. Es würde so sein, als wäre ich auf dem Weg zur Arbeit. Ich will nicht auf dem Weg zur Arbeit sein. Ich hasse dem Weg zur Arbeit, weil ich die Arbeit hasse. Wenn ich daran denke bekomme ich Angst, nicht genug Bier da zu haben. Wenn Bärbel Schäfer vorbei ist, muss ich nochmal los, Nachschub holen.
Heute geht es um Nachbarn oder Verwandte, die irgendwie durcheinanderficken, obwohl es jeder der Anwesenden unter normalen Umständen sehr schwer hätte, einen Sexualpartner zu finden, außer Bärbel Schäfer natürlich. Wegen Eifersüchteleien, die ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann, bekommen sich die Vorführsubjekte in die Wolle. Darum geht es in der Sendung. Es ist ein Gladiatorenkampf ohne Blut. Es sind Wortgefechte die nicht einmal mit stumpfen Messern ausgetragen werden. Die Kontrahenten haben nur mit Scheiße behaftete Klobürsten in der Hand und gehen aufeinander los. Der Säufer in mir kann sich jetzt wieder gut fühlen. Man zeigt mir Menschen, die für die Welt, die sich im Gravitationsfeld zwischen Arbeit, Geld, Eigenheim, Auto, Versicherung und Urlaub befindet, noch weniger Wert sind, als ich. Wenn das nicht hilft, kann ich immer noch Mitleid haben. Auch das ist gut für mein Selbstbewusstsein.
Aber am Ende bleibt nur ein schaler Nachgeschmack, wie beim Aufwachen nach dem Schlaf, der auf eine ordentliche Runde Bier folgt.
Den Schlussauftritt hat ein junger Mann, dessen Wohnung völlig vermüllt ist und diese Tatsache recht selbstbewusst als seine Lebensart verkauft, die niemandem etwas anginge. Es werden Bilder aus dieser Wohnung gezeigt, wobei das Livepublikum jedes Bild mit einem Raunen begleitet. Ich sehe mich um und bin sofort davon überzeugt, noch kein Messie zu sein. Auch meine Zähne sind noch in einem besseren Zustand. Der junge Mann hat auch noch den Kontakt zu seiner Familie und seinen Freunden abgebrochen. Einige seiner Freunde sind auch in der Sendung und sorgen für tränenreiche Szenen. Als ich gerade vor dem Kühlschrank stehe, um mir das nächste Bier zu holen, höre ich, wie Bärbel den jungen Mann auffordert, auf die Gegenseite zuzugehen. „Eigentlich hast du ja nichts zu verlieren!“ Weise Bärbel. Ich denke an Ralf. Während Ilona Christen und Hans Meiser an mir vorbei und der Rest des Bieres in mich hineinlaufen, reift in mir der Entschluss, noch einmal unseren Treffpunkt zu besuchen. Morgen früh fahre ich hin.