Mittwoch, 23.12.2015. Eifel. Wieder einmal Weihnachten. Wir haben das ja schon oft genug durchexerziert. Fast 2000 Jahre lang. Gut, viele Jahrhunderte konnten wir mit dem Fest nicht viel anfangen. Es hat eine Zeit gedauert, bis man sich auf ein Datum einigen konnte, dabei hat man viel Rücksicht auf die lokalen Traditionen genommen, die schon 4000 Jahre früher gemerkt hatten, worum es ging. Wer nicht den Segen hatte, in den freundlichen Südländern groß zu werden, sah sich hier im Norden einer bösartigen Natur gegenüber. Ja: bösartig. Kälte ist sehr gnadenlos. Sie kann sogar beißen, auch Gliedmaßen abbeißen. Das wissen wir heute schon lange nicht mehr, den Kampf gegen die Kälte haben wir gewonnen … jedenfalls für kurze Zeit. Verrückterweise beschweren wir uns darüber, dass es zu warm zu Weihnachten ist – na ja, ist halt eine verrückte Zeit. Vielleicht sind wir im Kampf gegen die Kälte auch über das Ziel hinausgeschossen – vielleicht vernichten wir gerade das Klima der ganzen Welt deshalb. Die Kälte wird es freuen, sie hat Zeit, sie kann das aussitzen und triumphieren, wenn sie zurückkommt, mit drei Meter hohen Schneedecken, die alles Leben ersticken. Das wusste man schon vor 4000 Jahren.
Auch wenn die germanische Mythologie nicht so ausdifferenziert war wie die Hochkulturen in Babylon, Ägypten und China, so hatte man doch ein Gespür dafür, dass „Leben“ ein eigener Wert war. Erde, Wasser, Feuer, Luft … und Holz sind die Bausteine der Welt des alten China. Holz – steht hier für Leben, jene Qualität, die anders ist als Erde, Wasser, Feuer und Luft. Einzelgänger in der modernen Physik fügen derzeit ebenfalls ein weiteres Element in die Welt ein: Bewusstsein, eine eigenständige Qualität, nicht nur ein zufälliges Abfallprodukt der anderen Qualitäten – doch sie sind noch wie Prediger in der Wüste … jener lebensfeindlichen Umwelt, in der man fest davon überzeugt ist, dass die Erde eine Scheibe ist und den Tatbestand dadurch beweist, dass man alle, deren Anschauung andere Resultate bringt, tötet.
„Leben“ – bzw. der Achtung jener Qualität – haben wir den Tannenbaum zu verdanken. Jeder Winter war für die kleine Gemeinschaft der Menschen ein Kampfs ums Überleben, die Kinder und Alten starben wie die Fliegen. Hatte man bis zum 24. Dezember durchgehalten, konnte man das Haussschwein schlachten, um die restlichen Monate zu überstehen. Ja – jeder hatte das Hausschwein lieb, es wurde deshalb ja auch lange vorher gefüttert und vor Raubtieren bewahrt, aber vor der Tür lauerte der langsame, qualvolle Tod – da mussten harte Entscheidungen getroffen werden. Und als kleine Quelle jenes Lebens hatte man sich die Tanne ins Haus geholt, wohl wissend, dass auch sie dort nicht lange leben konnte, aber man hoffte, dass dieses bischen grün im Gehöft half, den Funken des Lebens über den fürchterlichen Winter hinwegzubringen.
Was sind wir weit weg von diesen Zeiten. Wir wissen gar nicht mehr, was es bedeutet, wenn die Finsternis Tag für Tag näher rückt – und trotz der Erfahrungen der Alten … die damals noch in Ehren und nicht in Lagern gehalten wurden … blieb immer ein wenig Restzweifel: was ist, wenn die Welt einmal entscheidet, finster zu bleiben, was ist, wenn die Finsternis das Licht für ewig verschlingt? Dann erstickt der Funken des Lebens für immer und ewig. Ein Blick zum Mond zeigt uns, wie es hier dann aussieht. Das einzige, was sicher war, war die Gemeinschaft, die Familie, der Stamm, der um die bedrohte Flamme des Feuers saß, jenem Element, dass Leben viel näher war als ein Stein. Was immer auch mit der Welt geschah, wie immer auch sich die Finsternis durchsetzte, es gab einen Wert, über den nur Menschen allein entschieden: die Gemeinschaft. Um sie zu erhalten, gab es einfach Grundregeln: nicht töten, nicht stehlen, nicht rauben, nicht lügen, nicht betrügen, nicht den Gott in Frage stellen, der töten, stehlen, lügen, betrügen und rauben verachtete (und Quelle des Lebens war) – aus jenen Grundregeln wurden die zehn Gebote (also: die zweite, abgespeckte Version) geschaffen … wie Professor Ebach aus der Ruhruniversität Bochum nachwies, waren diese Gebote Leihgaben, die sich die jüdische Kultur von anderen, benachbarten Nomadenvölkern ausgeliehen hatte, weil sie hinreichen bewiesen hatten, dass sich so das Leben der Gemeinschaft am Bestern sichern ließ.
Es gab nämlich noch einen anderen Feind der Menschheit, der das Überleben bedrohte, außer der jedes Jahr wiederkehrenden Kälte: der Krieg. Ja – damals waren die Menschen noch richtig doof, ließen sich von bösen Menschen dazu verführen, anderen Menschen jenes Leben zu nehmen, um das man sonst so emsig stritt. Viele viele Maßnahmen wurden unternommen, um diesen Feind der Menschheit so gründlich wie die Kälte auszurotten, doch trotz aller Aufklärung, trotz allen Intellekts, aller Schlauheit und Raffinesse wurden die Kriege immer heftiger, immer grausamer, immer unmenschlicher … und immer mehr auf Massenvernichtung der Zivilbevölkerung ausgelegt. Wie weit entfernt sind wir doch von der hohen Zeit des Mittelalters, wo alle Kriegsteilnehmer aufgerufen waren, die Bauern zu schonen, weil nur sie das Überleben im Winter garantieren konnten, wo man sich festgelegte Kampfplätze ersann, in denen die Söldner der hohen Herren – die wohl gepanzert am Rande auf ihren Einsatz warteten – sich gegenseitig abgeschlachtet haben wie Boxer in einem Ring. Gut – das war nicht immer Standard in jedem Krieg – aber zumindest ein Ansatz, aus dem sich etwas hätte entwickeln können, doch unsere demokratischen Politiker haben sich lieber für Massenvernichtungswaffen entschieden – jene Waffen, die der Kälte wieder Tür und Tor öffnen.
Es ist sogar noch schlimmer, denn – ohne, dass wir es groß merken, ist die Kälte schon längst wieder zurück, ja, sie hat sich sogar den weihnachtlichen Lebensbaum erobert. Es ist jedoch nicht die Kälte, die von außen an den Leibern frisst – sie wird aber mit Sicherheit folgen und erreicht schon heute hunderttausende Deutsche, die auf den Straßen Zuflucht vor dem Feind suchen müssen und dort gnadenloser der Kälte ausgeliefert sind als selbst unsere germanischen Vorfahren, die wenigstens noch Feuer mit den Materialien ihrer Umwelt machen durften – sondern die Kälte, die von innen frisst, die das Leben zuerst im Inneren erstickt, bevor sie wieder nach den Leibern greift. Das geschieht im strahlenden Glanze des Weihnachtsbaumes, inmitten von Häusern, die mit hunderten von Lampen geschmückt sind, die sinnlos wertvolle Ressourcen zwecks Pflege der eigenen Eitelkeit verprassen. Sinn des Baumes und des Feuers im Gehöft war, Frieden zu stiften, Harmonie zu leben, feste soziale Bünde für das nächste Jahr zu schmieden, den Krieg im Kleinen gleich im Ansatz zu ersticken. Ich denke, Sie wissen, worauf ich hinaus will? Ja – auf jene innere Kälte, die es uns nicht mehr erlaubt, Empathie zu empfinden – jener Wert, der so wichtig ist für den Frieden.
Empathie ist die Basis des Friedens. Sie erlaubt uns, zu verstehen, warum Menschen Kriege führen, sie erlaubt uns, zu verstehen, warum es Kriege gibt – und warum Kriege immer nur von den „Guten“ geführt werden …. weshalb es ja auch immer die Guten sind, die ihn gewinnen, egal welche Seite gerade triumphiert. Zu schwer verständlich? Nun – nehmen wir ein Beispiel, dass viele Deutsche verstehen werden: das Drittte Reich. Wir wissen hoffentlich noch alle, wie schlimm das war. Ja, ich weiß: die Straßen waren sicher. Ich weiß aber auch warum: die Verbrecher steckten in Uniformen. Vergewaltigt, geraubt und gemordet wurde nach wie vor, diesmal aber im Staatsauftrag – doch darauf will ich gar nicht hinaus, denn das wird noch ein anderes Thema. Jene Verbrecher in Uniform haben sich selbst nie als Verbrecher verstanden – sie waren die „Guten“ – und weil sie so gut waren, konnten sie es sich ja auch erlauben, die Regeln mal nicht ganz so genau einzuhalten, wie sie ursprünglich gedacht waren. Ihre Welt war eine Welt, in der eine kleine, edle Gruppe von Menschen (Arier) einem übermächtigen Feind (Juden) gegenüberstand, eine Welt, die wir alle ganz sympathisch finden: STAR WARS erzählt genau die gleiche Geschichte, hat aber bequemerweise nur einen dunklen Sith-Lord anstatt einer Sith-Lord-Rasse. Ihre Feinde – ebenfalls vollkommen gut – hatten eine andere Geschichte: für sie hatte das absolut Böse Gestalt angenommen – wie für die anderen – nur war es germanisch anstatt jüdisch. Schauen Sie sich einfach mal die Kriegspropaganda (auch des ersten Weltkrieges) an, dann sehen Sie, was ich meine.
Ich kann Ihnen auch gerne einen aktuelle Geschichte dazu erzählen, wir sind ja gerade live dabei, wie sich ein neuer Krieg der Guten mitten in unserer Gesellschaft entfaltet: Thema Flüchtlinge. Die einen sind dagegen, wähnen sich als gut, verstehen es als ihre erste Bürgerpflicht, das eigene Land vor feindlichen Eindringlingen zu schützen, die eigenen Ressourcen zu hüten, die den Stamm über den Winter bringen sollen. Edle Ritter in goldener Rüstung sind das, die sich mutig einer Welt von Feinden gegenübersehen, die nach der Vernichtung der eigenen Frauen und Kinder trachten. Auf der anderen Seite ebenfalls: edle Ritter in goldener Rüstung, die – nach alter germanischer Sitte – dem Notleidenden Obdach geben, ihm einen Platz im eigenen Stamm anbieten – das Höchstmaß der Gastfreundschaft und Menschlichkeit und absolutes Muss für die germanischen Urväter, die noch wussten, wie grausam die Welt da draußen war. Alles nur „Gutmenschen“, die das machen, was „Gutmenschen“ immer machen: Krieg. Um so wirklich richtig gut zu sein, braucht der Gutmensch immer den bösen Menschen, an dem er sein „gut sein“ abarbeiten kann – zumeist mit Waffengewalt, aber auch mit Gaskammern. Ja – auch Pegida ist voller Gutmenschen … oder denken Sie wirklich, auch nur einer von denen würde bewusst für das Böse eintreten? Das machen nur sehr wenige Menschen, deren Geist und Gemüt sehr verdunkelt ist, sie sind so wenige, dass es sich kaum lohnt, über sie zu reden.
Sie merken wohl langsam selber: wer in diesen Zeiten wirklich für Frieden ist, sitzt zwischen allen Stühlen der Gutmenschen, die sich selbst dann noch für gut halten, wenn sie Massenmorde begehen – aber das war bisher in jedem Krieg so. Aber: wenigstens zu Weihnachten sei- wie seit 4000 Jahren – nochmal an den Frieden erinnert, bevor die guten Menschen die Welt wieder in Schutt und Asche legen, es sei daran erinnert, was Frieden stiften kann – so wie jene Geschichte, die man sich über Weihnachten in Stalingrad erzählte, als ein Soldat sich in einem zerschossenen Haus an ein wundersamerweise heil gebliebenes Klavier setzte und die Menschen – Sowjetsoldaten wie Nazideutsche – gemeinsam um das Klavier herum sangen: allen Wünschen der guten Menschen zum Trotz.
Ja – diese Geschichte fiel mir ein, als ich jene Zeilen las:
„Wir feiern Weihnachten, damit diese Welt wärmer wird, damit die Menschlichkeit sich gegen alle kalten, menschenverachtenden Tendenzen durchsetzet“ (Anselm Grün, 365 Tagesimpulse, Herder 2012, Impuls für den 21. Dezember).
Die kalten, menschenverachtenden Tendenzen sind – heute weit verdrängt und fast vergessen – von der Natur vorgegeben. Die Kälte tötet gnadenlos jeden Menschen (auch jedes Tier), jenseits der verlorenen Mauern des Paradieses liegt eine Welt, die den Menschen verachtet. Weihnachten ist jenes Friedensfest, an dem sich die Menschheit – auch alle guten, nicht nur die normalen – zusammenfinden sollten, um die Menschenverachtung nicht noch in die eigene Seele, die eigene Familie, den eigenen Stamm dringen zu lassen – jenen Türspalt, durch den die Kälte – wenn sie erstmal eingedrungen ist – schnell wieder die Oberhand gewinnen kann. Mir scheint, diese Kälte ist unaufhaltsam im Vormarsch – und viele Flüchtlinge in Deutschland werden sie noch erleben, so wie bald 500000 deutsche Obdachlose sie erleben, die grundlos vom eigenen Stamm ausgeschlossen wurden, weil sie keinen Nutzen mehr für die Diäten des Häuplings haben und der unsichtbaren Hand des Marktes nicht genug Widerstand entgegensetzen konnten.
Ach – wie fern sind wir jenen Tagen, als die Germanen noch wussten, warum man Weihnachten im engen Kreise der Dorfgemeinschaft gemeinsam mit allen im Kampf gegen Kälte und Krieg feiert und jenen Obdach gibt – ohne Ansicht von Rang, Rasse und Namen – die von der gnadenlosen Kälte verfolgt werden. Aber: das muss ja nicht so bleiben, die Millionen Bäume, die dieses Jahr ihr Leben geben, um uns an das fünfte Element zu erinnern, müssen nicht umsonst als bloßes Tragegestell für teure Baumkugeln gefällt worden sein.
Wir können auch einfach das Fest neu begründen – und so verstehen, wie es mal gedacht war. Nicht mehr nur als Dorfgemeinschaft, sondern auch als planetare Zivilgesellschaft, die andere Probleme hat als jene, wer denn nun gerade für die Guten den Bösen mimen muss. In diesem Sinne möchte ich unser Nachdenkmagazin verstanden wissen – nicht als perfekte Richtschnur für eine ungewisse Zukunft, sondern als kleines Feuer neben dem Lebensbaum, an dem man sich zusammenfindet … und sich um Empathie bemüht, um Reflexion, um Verstehen – und somit um wahren Frieden.
Darum allen unseren Lesern ein frohes Weihnachtsfest … und ich hoffe, ich habe für die „Besinnlichkeit“ mit diesen Zeilen genug Holz geliefert, damit das geistige Feuer in uns brennen kann und somit die Kälte der Unmenschlichkeit vertreiben hilft … jedenfalls aus uns.