Der Rest

Autostrich

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Lebenstraum

Ich mag Bier nicht nur wegen des Alkohols. Er macht mich so gleichgültig, wie ich gerne nüchtern wäre. Ich mag es auch wegen der Müdigkeit. Selbst die Apothekerrundschau preist die einschlaffördernde Wirkung des Hopfens. Obwohl ich davon ausgehe, dass in dieser Industrieplörre nur noch marginale Mengen primärer und sekundärer Pflanzenstoffe enthalten sind. Egal, es macht mich trotzdem müde. Ralfs Rausschmiss gestern beschäftigt mich. An seiner Stelle würde ich mich nicht mehr sehen lassen. Auf aggressive Arschlöcher könnte ich gerne verzichten. Nichts desto trotz hoffe ich auf sein Erscheinen. Ich möchte mich entschuldigen. Als ich die dritte leere Dose im Handschuhfach verstaue und die vierte heraushole, raschelt es draußen unter dem halb geöffneten Beifahrerfenster. Eine Schwebefliege fliegt herein, mustert kurz auf fünf Zentimetern Abstand mein gerötetes aber entspanntes Gesicht und schwebt dann, eine kleine beneidenswert elegante Kurve fliegend, uninteressiert und leicht angeekelt wieder hinaus. Das Rascheln war wahrscheinlich ein irgendein Tier. Eine Maus vielleicht oder ein Vogel.
Ein Seeotter wäre schön gewesen. Ich liebe Seeotter. Hier gibt es aber zweifellos zu wenig Wasser für Seeotter. Ich öffne die Dose, die zwischen meinen Schenkeln meine Eier kühlte und denke an Seeotter und ihr glänzendes nasses Fell, an meine Müdigkeit und habe etwas Angst. Ich habe Angst, Ralf könnte nicht mehr auftauchen. Um die Angst nicht spüren zu müssen, versuche ich darüber nachzudenken, ob ich vom Bier müde bin oder von den Anstrengungen des Lebens. Weil irgendwelche Arschlöcher, die mir egal sind, meinen, ich müsste mich für etwas anstrengen, was mir egal ist, strenge ich mich an. Die Anstrengung darüber nachzudenken macht mich noch müder.
Ich stelle die Sitzlehne ein wenig nach hinten, lehne meine beginnende Hinterkopfglatze gegen die Kopfstütze und schließe die Augen. Das Zirpen einer nahen Grille übertönt das ferne Brummen eines fleißigen Traktors auf einem Feld. Es riecht nach geschnittenem Gras und Bier und Meer, weil ein nass glänzender Seeotter im warmen Blau meines Gehirns elegante Figuren schwimmt. Ich schwimme nackt mit ihm und kann ohne Mühe folgen. Nach einer kitschigen Kür aus engen und weiten Loopings und Pirouetten geht mir die Luft aus und ich muss auftauchen.
Chlorwasser brennt in meiner Nase. Ich lege meine weißen, schlaffen, Schreibtischarbeiter-Arme auf die heißen Fliesen am Rand des Schwimmerbeckens und spüre eine gar nicht mal unangenehme Kälte an meinem zur Nichtigkeit zusammengeschrumpelten Hodensack.
Meine billige C&A-Badehose mit Ostblockanmutung schwimmt zwei Meter von mir entfernt. Ohne zu zögern bemühe ich mich zu ihr zu kommen und hoffe, niemand taucht mit Brille in meiner Nähe. Doch plötzlich scheint das Wasser wie Gelee zu sein und ich komme, trotz panischer Anstrengung, keinen Millimeter voran. Schon nach ein paar Sekunden bin ich außer Atem und schlucke Wasser. Es gerät in meine Luftröhre und zwingt mich zu husten. Todesangst breitet isch in meinem Gedärm aus und bildet schnell Metastasen in meinem Gehirn. Urlötzlich taucht, wie ein Buckelwal beim Sprung, ein riesiger Ralf auf, greift durch die mächtige Gischt meine Badehose und präsentiert sie lachend dem umstehenden Publikum. Alte Weiber mit Krampfaderbeinen und Badehauben, die wie Blumenbeete aussehen, feiste, käsige Kinder mit eisverschmierten Gesichtern, dichtbehaarte, schmerbäuchige Sonnenbrillenträger mit engen Badehosen, die ihre ebenso haarigen Hoden anatomisch ziemlich genau abzeichnen, lachen mich aus. Ich weiß, dass sie meinen bevorstehenden Tod nicht bedauern werden. Ich fühle mich so einsam wie nie zuvor und die trübblaue von gelben Schleiern durchsetzte Brühe schwappt über mir zusammen. Riesenralfs Beine strampeln unscharf, fast greifbar. Sein dunkles Gelächter tönt dumpf und unglaublich laut durch das Wasser an meine Ohren und übertönt weit in der Entfernung liegendes Kindergekreische und leise Musikfetzen. Weil ich den letzten Rest meines wachen Bewusstseins dafür brauche mich gegen den Atemreflex zu wehren, höre ich auf mich zu bewegen und sinke langsam in eine unendlich schwarze Tiefe. Ralfs Lachen wird immer leiser. Ehe es ganz schwarz um mich herum wird, sehe ich weit entfernt den verschwommenen Schatten eines Seeotters elegant seine Bahnen ziehen.
Das laute Zuschlagen einer Autotür weckt mich, ich kreische kurz wie eine schreckhafte Magd.
„Oh, verzeih‘, Penner. Dein Schnarchen hallt kilometerweit und vertreibt alles Lebendige aus diesem schönen Biotop.“
Ich bin noch nicht ganz wach:„Auch die Seeotter?“
„Was?!“
„Ähh, nichts.“
Meine Zunge klebt noch am Gaumen, die Lippen am Zahnfleisch. Es schmeckt nach vergorenem Rasenschnitt mit Marderkötteln. Ich denke an die Fishermen’s, aber momentan bin ich ja noch beim Bier.
„Hast du mir ins Maul gekackt, während ich schlief? Bekloppter Badehosenfetischist.“
„Du redest wirres Zeug, Penner. Ich tippe auf Morbus Korsakow.“
„Lass gut sein, gib mir einen kurzen Moment.“
Die Dose liegt der Länge nach auf dem Beifahrersitz, der das Bier gierig aufsaugte. Feiner Sitz. Der Geruch wird mich auf ewig begleiten. Ich greife ins Handschuhfach und prüfe die Temperatur von Dose Nummer fünf. Gerade noch trinkbar. Ach Quatsch, wieso mache ich mir was vor. Ich hätte es auch zehn Grad wärmer gesoffen. Als ich behutsam an der Lasche ziehe, sauge ich zeitgleich mit einer langen Schnute und weit aufgerissenen Augen den Schaum von der runden Blechoberfläche. Kurz muss ich an die urbane Legende mit der Rattenpisse denken. Aber nur kurz, momentan glaube ich nicht an sie. Bei Tomatenfischdosen dagegen fast immer.
Ich bin froh, dass Ralf hinter mir sitzt.
„Sorry wegen gestern, Mann. Ich bin gerade etwas gestresst.“ Ich schwindle ein wenig. In Wirklichkeit kotzt mich einfach nur fast alles an. Nur Ralf nicht.
„Schon gut.“
Ich nehme einen Schluck. Dann noch einen.
„Ich habe irres Zeug geträumt.“ Ein weiterer Schluck.
„Dass jemand wie du normales Zeug träumt, wäre mir gar nicht erst in den Sinn gekommen. Lass‘ hören, Penner!“
Während ich die Freibadgeschichte zum Besten gebe, entscheide ich mich spontan einige Details zu ändern. Den Seeotter lasse ich weg und Ralf ersetze ich durch irgendeinen Typen, den ich sehr detailliert beschreibe, um mein Flunkern glaubwürdig zu machen. Ich frage ihn, was der Traum bedeuten könnte.
„Ist doch klar. Du hast Angst die Hosen runterzulassen.“
Ich kann mir denken, wie er es meint. Dennoch spiele ich den Clown: „Na ja, ich bin ja nun wirklich kein ausgewiesener Gliedvorzeiger. Aber übertrieben schamhaft eigentlich auch nicht. Willste mal sehen?“ Ich zeige mit einer pistolenartigen Rapperhandbewegung der Rechten auf meinen Schritt. Mit der halbvollen Bier Dose in der anderen Hand komme ich mir wie ein dummer Teenageridiot vor.
Ich mag das Wort Gliedvorzeiger. Es klingt nach Sittengesetzen aus der wilhelminischen Zeit. Wenn ich um die vorletzten Jahrhundertwende herum aus einem kaiserlichen Richtermund „…wegen wiederholten Gliedvorzeigens…!“ vernäme, hätte ich lachen müssen. Auch als gleich darauf verurteilter Gliedvorzeiger.
„Du hast Angst, dich so zu zeigen wie du bist. Für mich ist das ziemlich eindeutig.“
„Das ist ganz sicher so und das weiß ich auch ohne deine Deutung. Schön blöd wär‘ ich, würde ich mich so geben wie ich bin: Ein gescheitertes Nichts, herum geworfen von ökonomischen und sozialen Zwängen, die eigentlich Zwangsneurosen einer Gesellschaft sind, die sich vormacht, in irgendeiner Weise etwas mit humanistischen Prinzipien zu tun zu haben.Wir haben doch alles, was diese Bezeichnung verdient aus den Augen verloren; vielleicht hat es das gar nie gegeben und war nur eine nette Fingerübung für Philosophen. Total bescheuert wär‘ ich, würde ich mich inmitten von Nichtsen, die sich mit Verkaufsargumenten des eigenen Egos panzern, ungeschützt bewegen. Nein, mein Lieber, das Spiel spiele ich mit, auch wenn es mir nicht gefällt. Man hat sich für den besten seines Fachs zu halten? Alles klar, Chef, kein Problem! Stopf‘ ich mir ein paar Socken in die Hose und verkünde mit dem gespielten Brustton der Überzeugung, dass alle anderen windige Ärsche sind und kleine Pimmel haben. So rechtfertige ich mein Gehalt und der Boss hat ein gutes Gewissen, weil er das Gefühl hat, er gibt es dem Richtigen. Umgeben von Idioten, die glauben, sie hätten sich irgendetwas verdient, nur weil sie bei der Spermalotterie das große Los gezogen haben, tue ich eben auch so, als gäbe es die Masse der Hungerleider und Ausgebeuteten nicht, deren Elend unseren „Wohlstand“ mit ermöglicht. Lasse ich die Hosen herunter, schnappt mich das System aus neoliberalen Vorurteilen und Managermagazinweisheiten, zerkaut mich zwischen Leistungsvorstellungen, Arbeits- und Sozialgesetzen und spuckt oder scheißt mich als gescheitertes Nichts wieder aus. Das war ich vorher, das werde ich bleiben, was nur niemand sieht, weil ich den Mimikri der deutschen Unternehmenskultur auch beherrsche. Ich unterscheide mich vielleicht insoweit, dass mein Ehrgeiz, ein schnuckeliges Eigenheim oder eine tolle Blechbüchse aus Ingolstadt, München oder Stuttgart zu besitzen, gegen null geht. Damit rutscht der Bund meiner Hose schon soweit herunter, dass man hinter meinem Rücken über das Bauarbeiterdekolleté lacht, wenn ich mich bücke.“
Ralf spricht erst, als ich nach einer kurzen Weile am Bier nippe:
„Willst du ewig so weitermachen?“
„Bis zur Rente oder Leberzirrhose.“ Ich hebe feierlich die Dose. Wir wissen beide, dass ich so nicht weitermachen werde und lachen leise. Wir wissen nur nicht, wann dieser Zeitpunkt gekommen sein wird. Heute noch nicht.
„Schätze, du musst los, Penner.“
Beim Verstauen der Dose sehe ich den den dunklen Bierfleck auf dem Beifahrersitz. Er hat die Form eines schwimmenden Seeotters. Es könnte aber auch eine durch im Meer verkippten Atommüll mutierte Meerjungfrau sein. Ralf hat die Tür schon geöffnet und steht wohl schon draußen, als er mich nochmal anspricht:
„Ich glaube, du hast vorhin ein wenig geflunkert. Weißt du, was ich denke? Ich denke, du selbst warst derjenige, der deine Badehose genommen hat. Du selbst bist dein Problem und deine Lösung.“
Ganz kurz habe ich die Absicht, seine Aussage richtig zu stellen, lasse es aber.
„Du könntest recht haben. Reden wir morgen weiter.“
Ralf schließt die Tür, ich starte den Motor.
Ich glaube, es macht keinen Unterschied.



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