Lebenslügen
Auf der Autobahn regnete es noch, als würde eine höhere Macht alles an die Gegenwart erinnernde hinweg schwemmen wollen. Jetzt, da ich hier stehe und hoffe, dass Ralf auch heute wieder erscheint, verziehen sich langsam die grau-orangen Wolken. Über dem Horizont, der aus kleinen filigranen Scherenschnitten von Bäumen und Büschen zusammengesetzt ist, wagt sich ein Stück blauer Himmel hervor. Es wird ein schöner Tag werden. Ich sehe Fresken von Tiepolo vor mir und rieche den leicht ranzigen Duft von Ölfarben, obwohl es wohl eher nach feuchtem Putz riechen müsste. Die Apokalypse riecht eher nach Ölfarben als nach frischem Putz. Sie ist bestimmt schön. So schön, wie dieser sich öffnende Tag, der noch hinter den barocken Wolken liegt. Fast die ganze Fahrt hierher versuchte ich mir vorzustellen, was ich wohl angesichts des sich nahenden sicheren Weltenendes denken würde. Hier kapituliert sogar meine fast ständig in irren Bahnen mäandernde Phantasie. Ich weiß nur ganz sicher, was ich NICHT denken würde: Nämlich zu wenig für andere und für Geld gearbeitet zu haben. Vielleicht hätte ich bedauert zu wenig auf dem Gebiet Zeichnerei ausprobiert zu haben; zu wenig mutig gewesen zu sein. Der Gedanke an ein Ende macht mich traurig. Ich merke, dass Dose Nummer zwo auch am Ende ist und hole die nächste aus dem Handschuhfach.
Mit Verwandlungen dagegen könnte ich gut leben. Und wenn sie auch nur daraus bestehen, dass Dinge altern und sich langsam auflösen. Wieder denke ich an ein Bild von Tiepolo. Ich sah es in der Gallerie dell’Accademia in Venedig. Die „Die Geißel der Schlangen“ ist ein Fries, Öl auf Leinwand, das, so nehme ich es an, eine zeitlang nicht optimal gelagert war. Die Leinwand ist zerknittert und teilweise wirken die Farben verblasst und abgeschabt. Wenn man nah herantritt, sieht man die Pinselstriche des Malers. Sie sind rasch und schwungvoll ausgeführt. Es lebte durch den Maler, es lebt durch seine Vergänglichkeit und vielleicht wird es, wenn es nicht mehr existiert, leben, weil sich jemand daran erinnert. Wie gern würde ich jetzt über die Alpen nach Venedig, der alten Touristenlüge, fahren, nur um dieses eine Gemälde nochmal zu sehen. Der Weg ins Büro hat aber keine Abzweigung. Ich hebe die Dose und trinke auf den Tod der Neigung durch die Pflicht: „Er war ein guter Lügner und die Geschäftsführung dankt ihm dafür von ganzem Herzen, hätten wir doch sonst auf seine überaus nützliche Arbeit verzichten müssen. Amen.“
Während des langen Zuges aus der Dose hallen die Worte „überaus nützliche Arbeit“ in meinem Kopf wieder. Ein mieses Gefühl kommt in mir hoch und beginnt an den Schleimhautfalten meines Magens zu nagen. Überaus nützliche Arbeit. Nützlich. Eine der Schlangen Tiepolos hat sich wohl in meiner Körpermitte materialisiert und beginnt mich zu geißeln. Dose vier kommt wie gerufen.
Diesmal bin ich anwesend, als er ins Auto steigt und ich wundere mich zum ersten mal darüber, wie er es schafft trotz seiner Winzigkeit die Tür zu öffnen und sie, nachdem er mit einem leisen Rascheln eingestiegen ist, zu schließen, ohne ein überflüssiges Geräusch zu verursachen. Unsere Begegnung gestern war also vielleicht doch keine Wahnvorstellung eines Trinkers. Wenn doch, ereilt sie mich gerade nochmal. Dennoch macht es mir keine Angst. Angst kann ich hervorragend wegtrinken. Ich nehme den geschätzt vorletzten Zug dieses schon durch die Wärme meiner Hände unangenehm lau werdenden Bieres und stelle eine Frage in Richtung Windschutzscheibe: „Kennst du dich mit Schlangen aus?“ Er brummt dunkler und leiser werdend, bevor er antwortet:
„Das ist eine sehr ungewöhnliche Frage.“
„Oh entschuldige bitte. Wie kann ich nur in einer alltäglichen Situation wie dieser eine so ungewöhnliche Frage stellen! Ich formuliere sie anders, Señor Spitzfindig: Warum leckst du mich nicht am Arsch und verpisst dich?“
„Gemach, gemach, tut mir leid, ich hätte nur mit anderen Fragen gerechnet. Mit der, warum ich hier bin zum Beispiel.“
Ich hasse Klugscheißer. Besonders, wenn ich mich durch sie zurechtgewiesen fühle. Ich versuche so ätzend zu sein, wie ich kann:
„Wenn ich wissen will, warum du kleiner Wichser ohne meine Erlaubnis in mein Auto steigst und mich beim Saufen störst, dann frage ich dich!“
Es interessiert mich eigentlich brennend. Aber mein Stolz wird es wohl eine ganze Weile nicht zulassen, ihm diese Frage direkt zu stellen.
„Ok, ok, verzeih bitte.“ Ich unterstütze die beruhigende Wirkung seiner Entschuldigung mit einem letzten Zug aus der Dose. „Schlangen also.“ Dann hole ich mir das vorletzte Bier aus dem Handschuhfach und öffne es, während Ralf erzählt:
„Ich kannte eine Kreuzotter ganz gut, aber wir haben uns aus den Augen verloren. Ist schon eine Weile her. Früher traf man sie regelmäßig. Aber heute sind sie selten geworden. Ich habe schon Jahre keine mehr gesehen, geschweige denn gesprochen.“
„Du kannst mit ihnen sprechen?“
„Ich kann mit allem sprechen, was eine Seele hat.“
„Demnach müsste ich also auch eine Seele haben.“
„Ich dachte wir sprechen über Schlangen?“
„Du weichst aus.“
„Nein, mir war nur nicht klar, ob das eine Frage oder eine Feststellung war. Selbstverständlich hast du eine Seele. Obwohl es eigentlich so nicht ganz richtig formuliert ist. Es ist eher so, dass du auch Seele bist. Ich kann mich also mit allem unterhalten, was auch Seele ist. Wenn man sagt, man HÄTTE eine Seele, dann würde das ausdrücken, man wäre in irgendeiner Weise getrennt von ihr und könnte sie vielleicht sogar loswerden. Das ist aber nicht möglich. Man kann sie auch nicht besitzen. Sie ist da. Das ist alles.“ In meiner Vorstellung sitzt auf der hinteren Sitzbank gerade ein kleiner, alter Asiate im Schneidersitz mit langem, fusselig dünnem Bart und hat die Hände in die Ärmel seines seidenen Kimonos gesteckt. Er mag seinen grünen Tee stark und bitter, hat die 36 Kammern des Shaolin durchschritten und die Schlitze seiner Augen gehen in Fächern aus tiefen Lachfalten über.
„Hat sie einen Zweck?“
Er raschelt leise, setzt sich wohl zurecht.
„Hast du einen Zweck?“
Ich überlege kurz während ich trinke.
„Eines jeden Zweckes ist…“, die Biere wirken, ich werde unangemessen laut, und recke den Zeigefinger meiner freien Hand in die Luft, „…seine Lebenszeit zu einem höchst möglichen Preis mit allen Mitteln, die einem zur Verfügung stehen und deren Anwendung man moralisch vertreten kann zu kapitalisieren; ein angepasstes Mitglied des Heeres des zinskapitalistischen Arbeitspersonals zu sein und in deren Hierarchie eine so hohe Position zu ergattern, wie es die guten oder schlechten Charaktereigenschaften zulassen. Das nennt man dann Karriere!“
Bei „Karriere“ mache ich Gänsefüßchen in die Luft. Das Bier in der Dose schwappt bedenklich und lasst sich kurz an der Öffnung blicken. Sie ist aber glücklicherweise schon fast leer. Ich gebe mir den Rest davon und fahre fort:
„Ich versuche meine Mitgliedschaft in diesem Scheißverein so zu gestalten, dass ich am besten mit den Umständen klar komme. Angeschickert lügt es sich einfach leichter. Was glaubst du wie viele sich hemmungslos überschätzende Vollidioten mir den ganzen Tag begegnen, die ich nüchtern wahrscheinlich schwer beleidigen, wenn nicht sogar verletzen würde. Je höher die Position, desto voller der Idiot!“
„Dann müsstest du eigentlich der Oberboss des ganzen Vereins sein.“
„Korrektamundo, Muchacho! Ich trinke mich für die Arbeitswelt tauglich.“ Ich lalle.
Als ich mich zum Handschuhfach hinüber beuge, um eine weitere Dose herauszuholen, halte ich den Bruchteil einer Sekunde inne, bevor ich die nächste Dose heraushole. Mein Pegel ist sehr arbeitstauglich mittlerweile. Ralf hat mein Zögern bemerkt:
„Was hielt dich gerade eben zurück?“
„Eine Schlange.“
Ich betrachte die ungeöffnete Dose und und wische mit dem Daumen das Kondenswasser von der kühlen Blechoberfläche.
„Jetzt verstehe ich. So etwas wie Gewissensbisse.“
„Ja, kommt hin. Weil ich spüre, dass ich das Falsche tue. Doch damit meine ich nicht das Saufen. Und ich habe auch nicht die Befürchtung mein Beitrag zum Profit der Unternehmensinhaber könnte zu klein sein. Das ist mir scheißegal.“ Diesmal mache ich Gänsefüßchen bei „Beitrag“, „Bruttosozialprodukt“, „Firma“ und „profitabel“. Mir ist mittlerweile etwas schwindlig.
„Genauso viel oder mehr wie meine Vorgesetzten leiste ich sogar noch besoffen. Locker. Weil ich keine Energie in substanzloser Wichtigtuerei verschwende.
Ich vergeude meine Lebenszeit mit Tätigkeiten in einer Organisationsstruktur, die sich irgendwelche Bosse aus dem Fundus betriebswirtschaftlicher Theorien und Traditionen herausgegriffen haben, weil sie glauben, sie machten damit den größten Reibach. Und selbst dieser Fundus ist nur die Kloake irgendwelcher Märkte, die in Wirklichkeit keine sind und nur so heißen, weil wir es alle einfach mal glauben möchten, sie wären welche.
Ich vergeude die Hälfte meiner wachen Lebenszeit in meinen besten Jahren mit Scheiß, der mich nicht interessiert und mir nur deshalb nicht völlig egal ist, weil ich mir damit Hausen und Fressen sichere!
Was ich aber mit Leidenschaft und Befriedigung tue, das,von dem ich wirklich zulasse, dass es mich definiert und meinem Leben ein Sinn gibt, muss ich in der Zeit tun, die mir der kräftezehrende Kampf um Tauschmittel übriglässt und würde nie ein halbwegs sicheres Überleben ermöglichen. Ich weiß, dass es falsch ist mich zu fügen und muss es trotzdem tun.“
„Und du bist dir wirklich sicher, dass deine Begabung nicht wirklich das Saufen ist?“
Ich spüre wie er, als er höhnisch „Begabung“ ausspricht, mit den kleinen Zeige- und Mittelfingern seiner kleinen Händchen kleine Gänsefüßchen macht. Ich bin müde und zornig:
„Verpiss‘ dich, ich muss.“
Wir verabschieden uns nicht. Auf dem Weg ins Büro höre ich kein Inforadio. Ich lege eine meiner vielen nicht beschrifteten Mix-CDs ein. Drei Hombres singen von Biertrinkern und Teufelskerlen.