Der Rest

Autostrich

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Lebenssuche

Unser Treffpunkt liegt am Rande eines kleinen Industriegebietes etwa fünf Kilometer außerhalb der Stadt. Die grauen Gebäude sind seelenlos und nichtssagend wie in jeder dieser typischen Industrieansammlungen. Obwohl es zwischen zwei Schenkeln eines Autobahnkreuzes liegt, könnte man es als idyllisch bezeichnen. Es ist nicht besonders weitläufig und von Feldern, Wiesen und Brachland umgeben. Ein Hort institutionalisierter Lebenszeitverschwendung inmitten einer Kulturlandschaft.
Es war Zufall, dass ich den kleinen von Haselnuss- und Hartriegelsträuchern fast zum Hohlweg gemachten, grasbewachsenen, selten benutzten Feldweg ins Nichts fand, der von einem geteerten Wirtschaftsweg abzweigte und direkt neben einem Maschendrahtzaun, der irgendein Zentrallager umgab, etwa dreißig Meter auf eine Schneedornhecke zulief.
Zuvor parkte ich auf einem Mitfahrerparkplatz einige Kilometer entfernt, aber nach einer Weile ging mir das ständige Kommen und Gehen von „Beschäftigten“ auf die Nerven. Hätten sie mit mir gesoffen, wären wir eine Bruder- und Schwesternschaft gewesen, ein Orden der feigen Möchtegernanarchisten. Das hätte ich akzeptieren können. Dann wäre ich vielleicht geblieben.
Aber sie wollten lieber nüchtern Geschirrkörbe für Spülmaschinen entwickeln, sachzubearbeitende Vorgänge auf Wiedervorlage legen oder neue Kunden für den allerneuesten Scheiß aus irgendeiner Wedesign- oder Softwareklitsche kaltaquirieren. Wenn es sie glücklich gemacht hätte, wäre ich ausgestiegen und hätte ihnen zugeprostet: „Ich freue mich, dass ihr eure Erfüllung gefunden habt! Genießt den Tag!“ Ich hätte einen sehr langen Zug genommen und sie mit einem herzhaften Rülpser auf die Straße zum Glück entlassen. Ich wäre wieder ins Auto gestiegen und tränke weiter, nachdem ich mich vergewissert hätte, dass das Inforadio immer noch nicht die Ankunft der Apokalypse meldete, um den Neid auf ein sinnvoll gestaltetes Leben etwas zu dämpfen.

An einem Morgen, der zu einem warmen Sommertag zu werden versprach, holte ich mir ausnahmsweise ein zweites Gedeck. Ich brauchte es, weil ich noch keinen Standplatz abseits der typischen, erzwungenen Geschäftigkeit gefunden hatte. Ich bin sehr pflichtbewusst. Was angegangen werden muss, wird angegangen und erledigt.
Ich testete verschiedene Stellen, doch wie bei Wohnungsbesichtigungen gab es immer etwas, das mich störte. Mal war es ein Gesinnungsbruder, der diesen Platz offensichtlich für sein eigenes individuelles Morgenprogramm beanspruchte, mal war es das unangenehme Gefühl so gut versteckt zu sein, dass es auffiel. Am Rand einer Fichtenschonung mit Blick auf die Straße fühlte ich mich aus dem Dunkel des Waldes beobachtet, ein Wirtschaftsweg, der mit seiner wilden Hagebuttenhecke einen geeigneten Platz bot, wurde regelmäßig von Fahrradfahrern und Bauern mit ihren Traktoren benutzt.
Kurz davor, die Suche zu beenden und endlich bereit, ins Büro zu fahren, verstaute ich gerade Dose Nummer fünf im Handschuhfach, als mich sprunghaft erhöhter Blasendruck zwang, meine Aufmerksamkeit für eine geeignete Gelegenheit zum Anhalten auf panischen Maximalpegel zu steigern. Der allgütige Gott richtete es ein, dass ich mich gerade an der Stelle befand, an der ein Feldweg abging. Haha, nein, sorry, ein Witz, es war der beschissene Zufall, mehr nicht. Ich musste schlicht dringend pissen und aus diesem Grund traf ich ihn. Der gebotenen Eile wegen fuhr ich beim ersten Mal vorwärts hinein, stieg aus und erledigte, was zu erledigen war.
Erleichtert wieder im Auto sitzend, entschied ich mich, den Ort noch eine Dosenlänge zu testen und griff zum Handschuhfach.
„Dreh dich nicht um, Penner. Das ist besser für uns beide!“
Ich erstarre in der Bewegung, zum Glück war ich gerade pinkeln. Sofort denke ich an einen Überfall. War ich wirklich dermaßen angeschickert, dass ich nicht merkte, wie jemand hinten ins Auto stieg? Von wegen Gewöhnung.
„Willste n’Bier? Oder die Scheißkarre hier? Oder soll ich dich irgendwohin fahren? Zu einer Bank, vielleicht? Ich muss dich aber warnen, in diesem Zustand bin ich ein lausiger Fluchtwagenfahrer. Schnell zwar, aber auch zu risikobereit! Fahr besser selbst!“
Den Finger der rechten Hand zum Zeichen der Entspannung gehoben, öffne ich mit der linken das Handschuhfach und greife langsam nach der Dose. Wieder in aufrechter Position sitzend, blicke ich in den Innenspiegel, sehe aber niemanden. Ich öffne die Dose mit der Präzision eines eidgenössischen Feinmechanikers gerade soweit, dass die Kohlensäure ohne Flüssigkeits- oder Schaumanteil aus dem kleinen Loch erst mit einem kurzen Zischen und dann einem langgezogenen Blasgeräusch entweicht. Ich liebe diese Geräusche. Der Reptilienteil meines Gehirns wird sie solange ich lebe mit etwas Positivem verbinden. Mit in Kürze erfolgender Befriedigung.
„Darf ich einfach nur hier sitzen?“
Instinktiv will ich mich umsehen, um auf die gleichzeitig so unerwartete wie unangebrachtes Vertrauen schaffende Frage angemessen, mit einem Blick in die Augen meines Gegenübers oder besser Hintermanns, reagieren zu können. Entweder sieht er es voraus oder er kennt die Situation schon: „Bappbappbapp! Schau nach vorne!“
„Ist ja gut.“ Ich drehe mich zum Bier zurück.
„Ähh… ja. Klar kannst du hier sitzen.“
Die Selbstverständlichkeit in meiner Antwort überrascht mich selbst und verwirrt mich vollends. Mein Kopf ist mit einem mal so leer, dass es sich gleichzeitig anfühlt, als würde mein Gehirn alles auf einmal denken. Aber nur kurz, nach ein paar Schlucken dominiert in meinem Kopf wieder die gewohnte und gewünschte Deckungskraft der Schicht um Schicht, Schluck um Schluck opaker werdenden Bernsteinfarbe. Geliebter Firniss der Gleichgültigkeit.
Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir schweigend dasitzen. Nach vielleicht eineinhalb Dosenlängen in gemütlicher Trinkgeschwindigkeit streift mein Blick die Digitaluhr hinter dem speckigen Lenkrad. Der Arbeitsvertrag verlangt, eingehalten zu werden. Zumindest pro forma. Da ich ihn vor etwa einem Jahr nicht durchlas, weiß ich nicht, ob in einer Klausel explizit vermerkt ist, dass man nicht alkoholisiert am Arbeitsplatz erscheinen darf. Selbst wenn, würde ich darauf scheißen und mich wie ein Held fühlen. Kurz lasse ich die Vorstellung zu, wie ich, voll wie eine Haubitze, ins Büro wanke, mit dem Arbeitsvertrag wedle und ob der Gesetzeslücke, die ich entdeckt habe vor dem Arbeitsgericht gewinne und der Gegenseite meinen nackten Arsch zeige und die Beugehaft, die mir wegen meiner mit übelsten Schimpfwörtern begleiteten Verweigerung ein Ordnungsgeld zu zahlen, aufgebrummt wird, mit Zeichnen auf in die Zelle geschmuggeltem Papier locker absitze und danach ein gefeierter Künstler bin, der die Gegenseite daraufhin ungestraft über öffentliche Medien beleidigen und ruinieren kann. Tagträume dieser Art habe ich ständig während der Arbeitszeit. Ich brauche sie für meine Psychohygiene. Langsam komme ich wohl in den Büromodus.
„Willste irgendwas verkaufen? Das einzige, was du loswerden könntest, wären ein paar Döschen Bier! “
„Etwas verkaufen? Wie kommst du denn darauf?“
„Weil jeder etwas zu verkaufen hat!“ Ich werde laut. Es tut gut. „Jeder will mir irgendetwas andrehen. Jeder verschissene Vollwichser will mir seinen Scheißdreck unterjubeln! Ständig soll ich bestätigen, dass ich anderen ihre vermeintliche Intelligenz, ihre Virilität und ihre Exzeptionalität anerkenne und akzeptiere, in dem ich mich so verhalte, dass ich diese ganzen verlogenen, heruntergekommen Drecksfassaden ja nicht beschädige! Dabei sind es sozial und geistig behinderte Vollidioten, die haarscharf an der Klassifizierung als stoffwechselnde Eiweißhaufen vorbeischrammen!“ Ich schreie. Es tut immer noch gut.
„Wer?“
„Alle, verdammt nochmal!“
„Also, ich bin der ich bin.“ Scheiße, ein Spinner, der sich für Gott hält.
„Jahwe?“
„Ralf. Ich heiße Ralf. Ich habe mich wohl ungeschickt ausgedrückt….“. Gott in Gestalt eines brennenden Dornbuschs kommt mir in den Sinn; wie er sich bei Moses dafür entschuldigt, er habe sich wohl ungeschickt ausgedrückt. Ich nehme mir vor, diese Idee zeichnerisch zu bearbeiten, weiß aber im selben Augenblick, dass ich es schnell vergessen haben werde.
„…ich meinte: Es ist nicht nötig auf Gefühle meinerseits Rücksicht zu nehmen. Ich tat das bei anderen nie und habe auch nicht vor, es jemals zu tun. Ich habe keinen Grund vorzugeben anders zu sein, als ich bin. Außerdem kann mich ein angetrunkener Penner nicht beleidigen.“
Mir fallen eine Reihe bösartiger Beleidigungen ein, aber ich behalte sie für mich. Jetzt wünsche ich mir nichts so sehr, als hier bleiben zu können. Meine Körpermitte schmerzt. Es ist meine Kinderseele, die hier bleiben möchte, im Paradies. Im Licht. Doch der Teil von mir, der ein zwar pflichtbewusster, aber auch angsterfüllter Rettungsanitäter von staatsbürgerlichen Gnaden ist, holt mich mit einem saftigen Stoß seines Defibrillators in die Welt der Pflichten zurück. Wäre ich besoffen genug, wäre er ausgenockt. Der Retter verträgt nicht viel und ist angesichts der vielen Einsätze meinetwegen ziemlich müde. Aber stark ist er, dieser Scheißkerl.
„Ich muss.“
Die rechte Fondtür öffnet und schließt sich sanft, begleitet von einem leisen Rascheln. Ich bin wieder alleine. Morgen komme ich wieder.



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