Lebenkunst
„Ein Bierchen?“
„Nein, Danke.“
Es ist immer das gleiche Spiel und wir wiederholen es an jedem Werktag, um uns zu versichern wie vertraut wir uns sind, weil wir bereits wissen wie es ausgeht. Es ist Freitag und ich habe eine Überraschung für ihn, an der ich die letzten Feierabende gearbeitet hatte: „Schau mal!“ Ohne mich umzusehen reiche ich ein Blatt billigen, zu dünnen Aquarellkarton nach hinten. „Ich habe dich gezeichnet. Bin ich der Realität wenigstens ein bisschen nahegekommen?“ Ich bemerke die Ironie in meiner Frage und fühle mich plötzlich, als wäre ich ein daueralkoholilisierter Penner, der zufällig vorbeikommenden Passanten krakelige Bilder von rosa Elefanten anzudrehen versucht. Ich vernehme ein Grunzen und bin mir nicht sicher, ob Abscheu oder Überraschung mitschwingt.
„Mann, du daueralkohilisierter Penner! Was soll der lange Pimmel?! Bist du in der Pubertät stecken geblieben, oder was?“
„Ahaaahh! Dieser Anflug von Verärgerung sagt mir, dass du dich zumindest ein bisschen wiedererkennst?“
„Außerdem bin ich nicht nackt!“
„Ach ja? Was trägst du denn? Hosen aus zusammengenähten Blättern oder einen Lendenschurz aus Mäusefell?“
„Polyethylen.“ Jede Silbe betont er in einer Weise, als müsste er es einem Idioten buchstabieren. Es klingt, als würde Lagerfeld einer jungen, dummen Vogue-Voluntärin den Clou seiner neuen Frühjahrskollektion ins Diktiergerät herablassen. Ich verschlucke mich und huste ein wenig Bier in die schon ziemlich leere Dose zurück.
„Plastik? Du trägst Plastik?“ frage ich amüsiert und etwas zu laut, so dass man, wenn man so drauf wäre, einen Vorwurf heraushören könnte. Ralf ist nicht so drauf.
„Klar, das ist unheimlich praktisch. Es ist wasserdicht, schmutzabweisend und hervorragend abwaschbar. Im Sommer wird es allerdings manchmal ungemütlich, weil das Material nicht besonders atmungsaktiv ist.“
„Da riechste bestimmt wie ein Iltis.“
„Wenigstens stinke ich nicht wie eine Bahnhofskneipe.“
„Touché.“ Ich leere die Dose und öffne die nächste.
„Außerdem gibt es das Zeug hier in der Natur in Hülle und Fülle in den verschiedensten Mustern. Ich muss nicht jeden Tag die selben langweiligen Klamotten anziehen. Es ist auch ein Statement. Wobei dein Kleidungsstil, wenn man von „Stil“ überhaupt sprechen kann, sagt ‚Seht weg, ich habe keine Persönlichkeit, ich bin nur hier, weil ich muss, aber ich bin auch gleich wieder weg. Entschuldigen sie bitte meine kurze, aber unabdingbare Anwesenheit!“ Ralf ist ein intuitiver und scharfer Beobachter.
Tatsächlich beschäftigt mich momentan die Frage des Sinns meiner Existenz. Was für Flachhirne klingen mag, als wäre ich ein scharfer Denker, der die Tiefen des puren Seins auslotet, heißt eigentlich, dass ich ganz simpel mit dem Leben und seinen Umständen und Zwängen hadere und mich in diesem dunklen, zähen Hader suhle. Er manifestierte sich in einer von einem veritablem Rausch unterstützten Weltschmerzattacke am Wochenende.
Ich schäme mich ein wenig, als ich mich daran erinnere, wie ich „Habe ich darum gebeten, ans Leben gebracht worden zu sein?!“ Samstag abends mit gereckter Faust gegen die Wohnzimmerdecke schrie. Ich stand da wie ein Laienschauspieler, der das Äußerste an Pathos, dass er sich vorstellen kann, in seine Rolle als verzweifelter Säufer legt. Wenn ich getankt habe, werde ich oft pathetisch. Von einer Episode wie dieser würde ich Ralf nie erzählen. Ich weiß zwar, dass er mich oft erbärmlich findet, hasse es aber trotzdem, wenn er es ausspricht. Stattdessen beglücke ich ihn mit einer meiner Trinkerweisheiten:
„Das Leben ist tatsächlich ein Geschenk. Man hat nicht darum gebeten und es zurückzugeben, wird nicht leicht akzeptiert.“
„Da ist was wahres dran. Aber hast du das Geschenk überhaupt schon mal genauer betrachtet? Ich meine, hast mal reingesehen oder es, nachdem dich das hässliche Geschenkpapier davon überzeugt hat, dass es nur Scheiße ist, in die Ecke gestellt?“
„Es ist in ein alte Aldi-Tüte verpackt, wie du.“
„Falsch geraten. Heute trage ich einen Lidl-Zweiteiler.“ Ich stelle mir vor, wie er da sitzt mit einem großen gelben Kreis auf der Brust, in dem Lidl steht. Das schräge „i“ würde passen. Zu mir auch.
„Ich glaube nicht, dass unser Leben ein Discount-Artikel ist. Es ist der pure Luxus.“
Ein Möglichkeit zu kontern:
„Das Universum ist 16 Milliarden Jahre alt, ungefähr. Zumindest ist das die einhellige Meinung der Wissenschaft zur Zeit. Ein Menschenleben schaftt gerade mal 80 Jahre, wenn es gut läuft…“
„Und wenn man mit Alkohol vernünftig umgeht…“
„…jaja! …dann ist das ein Etwas nahe Nichts. Es ist Nichts! Warum sollte man es dann nicht einfach auslöschen können? Es wäre etwas weg, was vorher fast nicht da war.“ Ich versuche mit den Fingern zu schnippen, aber meine Hände sind feucht vom Kondenswasser der Bierdose. Es sieht aus, als hätte ich einen Spasmus.
„Du betrachtest es aus der Warte des Universums. Das nenne ich ein Ego! Gottgleich! Typisch Künstler.“
„Verarsch‘ mich nicht!“
„Du verarscht dich selbst.“ Es raschelt. Ich nehme an, er setzt sich zurecht, um den entscheidenden Punkt mit einer professoralen Gestik begleiten zu können.
„Dieser Moment, in dem wir beide hier zusammensitzen, ist sogar noch viel kürzer, als selbst dein lächerlich schnell dahingehendes Leben. Aber: Er ist einzigartig. Diese Erfahrung machen wir nur jetzt. Das geht uns in jeder Sekunde so. Wir sind eine ununterbrochene Aneinanderreihung von einzigartigen Erfahrungen. Vielleicht ist dein Leben das seltenste Ereignis, das überhaupt stattfinden kann!“
Ich lasse das Gesagte eine lange Minute, in der ich einen ordentlichen Zug aus aus der Dose nehme, sacken. Ich sitze hier am Freitag morgen in einem, ziemlich verbeulten Auto italienischen Fabrikats – untere Mittelklasse – mit einem nach den Läuften der Natur lebenden, abstinenten Mini-Paulo-Celho mit in einem Lidltüten-Anzug, also einem Plastikfetischisten, auf der Rückbank, drei Dosen Bier im Kopf, eine in Arbeit und beruhigende sechs weitere für mittags oder abends im Kofferraum. Eine melancholisch gefärbte Freude steigt in mir auf. Nicht wegen des Biers, sondern weil er recht hat. Im Moment hat er einfach recht. Zuerst versuche ich dieses Gefühl zu verdrängen, dann lasse ich es zu. Die Wirkung des Alkohols hilft dabei.
„Weinst du?!“
„Näh! Mir ist etwas ins Auge geflogen. Eine Mücke wahrscheinlich.“ Beim Phrasenschrank für die abgeschmacktesten Ausreden entscheide ich mich natürlich für die unterste Schublade. Aber selbst das kann meine momentane Freude nicht trüben. Bevor es peinlich wird, wechsle ich das Thema.
„Hängst du das Bild in deiner Erdhöhle auf?“
„Wie kommt du darauf, dass ich in einer Erdhöhle wohne. Dir ist kein Klischee fremd, was?“
„Ach stimmt, ein einzigartiges Wesen wie du wohnt bestimmt in einem nach bionischen Regeln gebauten, architektonisch einmaligen noch nie gesehenem, zeltartigen Palast in Leichtbauweise aus Einkaufstüten und anderem Müll.“ Mit beiden Händen forme ich eine imaginäre Kugel. Das schwappende Gewicht der Dose in meiner Linken sagt mir, dass ich noch nicht ins Büro fahren muss, es gibt noch zu tun.
„Nicht ganz. Aber ich habe Platz genug, es aufzuhängen.“
„Du kannst den Schwanz ja überkleben, wenn du möchtest.“
„Warum? Damit meine imaginäre Freundin es nicht sieht? Haha! Du bist hier der mit einer lebhaften Phantasie gesegnete Connoisseur international führender Braukunst!“
Ich mag es nicht, wenn seine Sätze mit einem abfälligen „Du“ beginnen, das mich mit einem zu langen Zeigefinger zu fest piekt. Meine gute Laune löst sich in Gedanken auf, die sich um den heutigen Arbeitstag, die noch zu leerende Dose in meiner Hand und eine noch unerfüllte Erwartung drehen. Ich wage es:
„Gefällt dir das Bild überhaupt?“ Mein gottgleiches Ego beschließt von seiner Antwort abhängig zu machen, wie beschissen der Tag laufen wird. Im schlimmsten Fall würde ich mich hassen, nicht ihn.
„Ja, das tut es.“
„Danke.“
Ich leere das Bier in einem Zug, wobei einer der letzten Schlucke zu groß ist und schmerzhaft langsam meine Speiseröhre überdehnend Richtung Magen wandert. Ich denke kurz an eine Anakonda, die ein Wasserschwein herunterwürgt und muss mich mich zusammenreißen, damit ich mich nicht übergebe. Ich kenne mich mittlerweile damit aus und bin trainiert. In einer oft praktizierten Übung verlasse ich meinen Körper, denke absolut nichts, und kehre wieder zurück, als der Brechreiz soweit nachgelassen hat, dass ich gefahrlos für Klamotten und Interieur sprechen kann:
„Ich muss. Bis Montag.“
Ralf raschelt sich aus dem Auto. Statt der sich schließenden Tür höre ich ein „Hey Penner…!“
„Ja?“
„Bist’n guter Zeichner.“
Wir beide wissen, dass ich genau das hören wollte. Ich beschließe ihm zu glauben und meine Stimmung hellt sich wieder etwas auf. Während der Fahrt ins Büro und fast den ganzen Vormittag denke ich darüber nach, an welchen Stellen ich eine Lidl-Tüte einschneiden müsste, um sie als Hemd tragen zu können und stelle mir das Gefühl von Polyethylen auf der nackten Haut vor. Abends wird es mir als das einzig Sinnvolle vorkommen, das ich an diesem Tag tat.