Lebenswert
Bierschaum spritzt auf meinen Handrücken. Ich versuche ihn hektisch abzulecken, bevor er auf meine Hose und auf den Autositz tropft und gleichzeitig die Dose gerade zuhalten, die noch beruhigend voll ist. Und kalt. Ich liebe kaltes Bier am Morgen. Mir ist völlig klar, dass ich es liebe, weil es mir sagt, dass ich es liebe. Aber das ist mir egal. Zumindest die ersten 3 Dosen, dann wird mir meistens schlecht. An machen Tagen schaffe ich vier. Oder besser gesagt, „brauche“ ich vier, bis der mit geeignete Level erreicht ist, mit dem die erste Hälfte des Tages durchstehen zu können glaube.
Ich spreche von Halbliterdosen, vermarktet von einem weltumspannenden Brauereikonzern, der mir mit dem „Genuss“ dieser seiner Marke das Leben eines schönen Mannes an der Seite schöner Frauen auf einem Schiff mit grotesk grünen Segeln verheißt.
Meistens mitten im zweiten Bier steigt Ralf ein. Wieder klingt es, wie das Rascheln von welken Blättern nur irgendwie künstlicher, lauter. Er klettert auf die Rückbank und begrüßt mich mit einem vertrauten „Na, was geht, Penner?“ Ich biete ihm jeden Tag ein Bier an, aber er lehnt es immer ab. Ralf trinkt nicht. Wie immer schaue ich durch den Innenspiegel, um ihn zu sehen, doch er ist immer noch zu klein. Direkt ansehen darf ich ihn nicht. Er erwähnte irgendwas von einem ralfschen Paradox, eine Art Zauber. Wir würden es beide bereuen, wenn ich das täte, sagte er mit einer übertrieben dramatischen Zaubermeisterstimme. Ich glaube, dass er in Wirklichkeit hässlich ist und sich dessen schämt. Was er aber nicht müsste. Menschen mit äußerlichen Ecken und Kanten ziehen mich an, ich mag sie. Da mache ich bei einem Gnom, oder was er auch immer ist, keine Ausnahmen.
Ich drehe das Radio leiser. Es läuft, solange ich im Auto sitze. Inforadio ohne Musik. Die wiederholen sich zwar auch ständig, aber ich kann den sich in Dauerrotation totlaufenden Massenpop nicht ertragen. Ein paar „Oldies aus den 60ern und 70gern“ gehen ja noch, aber das Beste aus den 80ern, 90ern habe ich noch nicht entdeckt. Das von heute erst recht nicht.
„Was steht heute an, Kumpel?“ Er möchte neue schlechte Nachrichten aus meinem Leben.
Das kann ich ihm nicht übel nehmen. Wir führen eine symbiotische Beziehung. Dass sie, wie Psychologen sagen würden, „gesund“ ist, glaube ich nicht. Sie ist ausgewogen. Für Ralf bin ich ein Exemplar einer verlorenen Kreatur in einem System von Abhängigkeiten und Zwängen, die zu blöd ist, sich daraus zu befreien und sich deshalb immer tiefer in die Scheiße säuft. Ich stehe stellvertretend für das Scheitern einer hochentwickelten Zivilisation, die auf einen Abgrund zurast und vergessen hat, wo die Bremse ist. Er bekommt eine Bestätigung für seinen Zivilisationshass und seine an den „Läuften der Natur ausgerichteten Lebensweise“ (O-Ton Ralf) und ich einen seelischen Mülleimer für mein Geflenne von der ungerechten Welt.
Apropos: Letzten Freitag glaubte ich ein Argument zu haben, das mich einmal nicht als Idioten dastehen lassen sollte: „Deine verschissene Natur zwingt dich also auch zu deiner Lebensweise!“
Er triumphierte wieder: „Jahaaa… allerdings sind die Zwänge, in denen ihr euch bewegt, auch von euch gemacht. Selbst wenn ich ein Idiot wie du wäre, das zu beweisen du mit deiner hilflosen Argumentation versuchst, dann bin ich einer in einem System aus unabänderlichen kosmischen Gegebenheiten. Ihr habt euch durch eine Ordnung, die ihr euch gabt, erst zu Idioten gemacht und jetzt wisst nicht, wie ihr wieder rauskommt!“ Das ganze Wochenende ärgerte ich mich über meine affektive Blödheit. Ich brauchte viel Bier.
Was steht an? „Was ist ein Menschenleben wert?“ frage ich.
„Oh, gleich eine der ganz großen Fragen. Deines nicht mehr viel wenn du so weiter trinkst. Es sank bereits schon beträchtlich im Wert, will ich meinen.“
„Ich meine nicht mich, sondern generell die ganze Menschheit betreffend. Im Durchschnitt sozusagen. Für wie wertvoll ich meines halte, weißt du schon.“
„Komm, sei nicht schon wieder kindisch!“
„Bin ich halt kindisch! Na und? Soll man nicht sein wie die Kinder? Ich bin ein Säugling! Momentan brauche ich nur eins, um zufrieden zu ein und um zu überleben. Eine Titte mit Lebenssaft. Bei mir ist sie halt aus Blech!“ Schon während ich die letzten Worte fast auspeie, hasse ich mich für meine infantile Bockigkeit.
„Wenn du schon die, wie ich anmerken möchte, ziemlich abseitige, Rechnung aufstellst, einen globalen Durchschnitt festzulegen, dann fürchte ich kommt kein besonders hoher Wert heraus. Er dürfte ungefähr bei dem liegen, was du für dein Leben veranschlagst. Haha!“
Ich sehe ein, dass ich mit dieser Frage nicht weiterkomme. Nehme einen langen Zug aus der Dose und setze nochmal an: „Anders gefragt: Müsste das Leben eines Menschen, denn nicht das wertvollste und schützenswerteste sein, das wir auf diesem Planeten haben?“
„Ja.“
Ich warte eine halbe Minute, in der ich mit einem amtlichen Zug die Dose leere, auf weitere Klugscheißereien.
„Wie, ja?! Ist das alles?“
„Ja. Aus der Sicht eines Menschen ist es zweifellos so. Zumindest sollte es das in der Theorie so sein. Aus meiner Sicht wäre es, gäbe es noch andere als mich, das Leben einer Spezies meiner Art. Das Leben, das mir am wertvollsten ist, ist meines. Und bin ich der Ansicht, dass mein, wir ihr es ausdrückt, „Nächster“, wenn es denn einen gäbe, gleich Ralf ist wie ich, dann kann es nur eine Konsequenz geben.“
„Schon zwei von euch, wären nicht auszuhalten. Sieben Milliarden wären die Hölle!“
Ich lache und rülpse gleichzeitig. Ralf ignoriert meinen, wie ich finde, gelungenen Witz.
„Sieben Komma drei Milliarden Menschen leben auf einer begrenzten immer enger werdenden Kugeloberfläche und sind damit beschäftigt auf Kosten des Wertes des Lebens anderer zu leben, damit niemand den Wert ihres Lebens mindert, weil sie diesen beziffern, wie du es tun willst. Als Grundlage ihrer Berechnungen nehmen sie ihr Alter, ihr Gehalt, ihre Schönheit, oder das Blechmonster, das sie jeden Tag zur Arbeit kutschieren, wie du. Nur dass sie dabei nüchtern sind.“
Das Stichwort. Ich öffne die dritte Dose, die bei der Fahrt von der Tanke hierher herunter gefallen ist. Ich halte sie durchs offene Fenster, als ich sie öffne. Habe keinen Bock auf Bierschaum-Bukkake im Auto.
„Von wegen. Die verschieben ihren saturnalischen Drang nach dem Rausch doch nur auf den Abend oder auf Wochenende. Ich bin bin wenigstens immer ehrlich angeschickert.“
„Und auch ziemlich deutlich, will ich meinen.“
„Jepp, Prost!“ Das Bier ist warm, ich schlucke fast nur Schaum.
„Musst du nicht in Büro?“
„Müssen, müssen! Ich sag dir, was ich muss; der Dringlichkeit nach in dieser Reihenfolge: Atmen, Trinken, Scheißen, Essen!“
„Du hast pinkeln vergessen.“
Kleiner weiser Mistkerl. Ich verlasse das Auto und gehe unsicher ein Stück hinter einen Busch, um auszutreten.
Eine leichter Morgenwind bläst ein wenig Nebel aus meinem Hirn und die charakteristische Tonfolge des Zeitzeichens aus dem Autoradio an mein Ohr. Acht. Ralf hat recht. Wenn ich mir noch ein Döschen genehmige, muss ich länger in diesem Affenstall bleiben, als mir lieb ist. Schließlich bin ich am ehesten morgens fit. Bei dem Gedanken muss ich kichern.
Ich setzte mich wieder ins Auto, stecke mir ein Fisherman’s in den Mund und verstaue Dose Nummer vier im Handschuhfach. Fisherman’s auf Bier schmeckt wie Orangensaft nach Zähneputzen.
Wir versichern uns unseres morgigen Wiedersehens und verabschieden uns. Ich höre, wie eine der hinteren Türen geöffnet und überraschend sanft zugemacht wird. Ich versuche mir die Kraft vorzustellen, die dieser kleine Kerl aufwenden muss, um das zu schaffen. Dann sehe ich mich beim Versuch mit hochrotem Kopf eine 30 Meter hohe tonnenschwere Autotür zuzumachen. Aus dem hallengroßen Fond des Autos dringt der Geruch einer Brauerei. Die Realität hat mich wieder, als ich merke, dass ich aufgestoßen hatte.
Zeit, ins Büro zu fahren.